3. Oktober 2011

Aufruhr in Arabien (21): Die Lage in Syrien. Eine Entwicklung wie in Libyen ist nicht zu erwarten

Wenn Sie diese Serie regelmäßig lesen, dann wissen Sie, wie irrig die Vorstellung von einem "Arabischen Frühling" ist, in dem in einem Land nach dem anderen das nach Freiheit strebende Volk die Tyrannis stürzt.

Die Verhältnisse in Arabien sind eben nicht wie diejenigen in Osteuropa 1989, als sich in der Tat überall Ähnliches abspielte; nämlich der (mit Ausnahme Rumäniens) friedliche Kollaps (die "Implosion" sagte man damals gern) des kommunistischen Herrschaftssystems.

Es ging dort überall ähnlich zu, weil dieses kommunistische System überall dasselbe war; vor allem aber auch, weil das Volk überall Dasselbe wollte: Zustände wie im Westen, also Freiheit, den demokratischen Rechtsstaat, Kapitalismus und Wohlstand. Auf der Grundlage der demokratischen Traditionen Europas entstanden so fast überall (nämlich mit Ausnahme von Rußland selbst und von Weißrußland) demokratische Rechtsstaaten.

In Arabien fehlen diese Voraussetzungen. Es gab und gibt in den einzelnen Ländern ganz unterschiedliche Herrschafts-systeme; und die gegen sie gerichteten Kräfte verfolgen verschiedene Ziele. In diesem Artikel beschreibe ich die Lage in Syrien. Neben anderen Quellen stütze ich mich hauptsächlich auf eine kürzliche Analyse von Stratfor (Artikel nur Abonnenten zugänglich).



Gestern wurde in Istanbul der SNC, der Syrian National Council, formal gegründet. Das Ereignis fand so wenig Beachtung in den Medien, daß der verlinkte Artikel des in Kanada gehosteten syrischen oppositionellen Magazins Daily Press einer der wenigen ausführlichen Berichte darüber ist, die man gegenwärtig bei Google News findet. Auf Deutsch können Sie einen kurzen Überblick beispielsweise bei "Zeit-Online" lesen.

Das gestern bestimmte Exekutivkomittee des SNC besteht aus fünf Mitgliedern der Moslem-Brunderschaft, vier Mitglieder einer Vereinigung namens Damascus Announcement, sechs "örtlichen Aktivisten", vier Kurden, einem Vertreter der ethnischen Minderheit der Assyrer und neun "Unabhängigen". Die einzige Gruppe, der eine konkrete politische Zielsetzung (außer dem Sturz Assads) zugeordnet werden kann, sind die Moslembrüder.

Sie alle operieren aus dem Exil heraus. Wie sieht es in Syrien selbst aus?

Die inneren Unruhen begannen im März. Kleine Gruppen organisierten über Facebook Demonstrationen in Damaskus. Sie wurden sofort niedergeschlagen, aber am 18. März kam es zu einer größeren Demonstration in Daraa im Südwesten des Landes. Getragen wurde dieser Protest von Sunniten mit Verbindungen zu lokalen Stämmen und nach Jordanien sowie in den Irak. (Man darf nicht vergessen, daß die heutigen Staaten dieser Region Kunstgebilde sind, die nach dem Ersten Weltkrieg von den Franzosen und den Engländern geschaffen wurden; die Stammesgrenzen verlaufen anders).

Diese lokalen Proteste wurden durch Mundpropaganda organisiert, nicht über Facebook, und konnten dadurch schlechter von dem Assad-Regime antizipiert werden. Ähnliche Aktionen folgten in anderen Städten wie Homs und Hama.

Das Regime schlug überall mit militärischen Einsätzen zu; beteiligt waren insbesondere die 4. Panzerdivision und die 14. und 15. Division der Spezialkräfte, die ausschließlich aus Alawiten bestehen. In der gesamten Armee setzt sich das Offizierscorps zu etwa 80 Prozent aus Alawiten zusammen. Die Wehrpflichtigen sind hingegen überwiegend Sunniten; siehe Stratfors Analysen: Nahost-Expertin Reva Bhalla über die Hintergründe der Krise in Syrien; ZR vom 9. 5. 2011. Durch diese ethnischen Gegebenheiten sind die Einsatzmöglichkeiten des Militärs begrenzt; sein Einsatz könnte zu einer Spaltung der Armee führen.



Zwischen diesen mehr oder weniger spontanen, vereinzelten Aktionen und den Gruppen im Exil gibt es wenig Koordination. Die Moslembrüder beispielsweise spielen im SNC eine wesentliche Rolle. Ihr Führer Ali Bayanouni residiert aber im fernen London. In Syrien selbst sind die Moslembrüder schwach. Das geht zurück auf die brutale Niederschlagung eines Aufstands, den sie zwischen 1978 und 1982 versucht hatten; 1982 wurden sie bei Hama buchstäblich massakriert. Die Zahl der damaligen Opfer wird auf 30.000 geschätzt.

Die einzelnen ethnischen und religiösen Gruppen der Opposition - die Araber, Kurden und Assyrer, die Sunniten, Christen und Alawiten - sind sich zwar in ihrer Gegnerschaft zu Assad einig, dürften aber, sollte dieser gestürzt werden, ähnlich miteinander in Konflikt geraten wie die Sunniten, Schiiten und Kurden im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins.

Das ist einer von vier Faktoren, aufgrund deren Syrien wahrscheinlich nicht die Entwicklung Libyens nehmen wird:
  • Dieses Fehlen einer gemeinsamen Organisation der Opposition. Sie hat, wie es Hillary Clinton formulierte, "keine Adresse".

  • Die Geographie Syriens. In Libyen konnte in der Cyrenaika eine von der Opposition kontrollierte Region enstehen, durch 800 Kilometer Wüste vom von Gaddafi beherrschten Tripolitanien getrennt (siehe Die Stämme Libyens und ihre Rolle im jetzigen Machtkampf; ZR vom 26. 2. 2011). Die Geografie macht es unmöglich, daß in Syrien eine solche Rebellenzone entsteht. (Schauen Sie einmal auf diese Karte, um zu sehen, wie klein Syrien im Vergleich mit Libyen ist).

  • Es gibt in Syrien keine Basis für eine Rebellenarmee. Das gesamte Militär ist, wie erwähnt, in der Hand der regimetreuen Minderheit der Alawiten. Bisher hat es vielleicht einige hundert Deserteure gegeben. Daraus läßt sich kein militärischer Widerstand formen. Wie Gaddafi ist aber Assad ein beinharter Diktator, der weder wie Ben Ali in Tunesien aufgeben noch wie Mubarak in Ägypten ein Blutvergießen zum Machterhalt scheuen wird. Er kann nur mit Waffengewalt gestürzt werden; und einen bewaffneten Widerstand von Bedeutung gibt es nicht.

  • Die Rebellen in Libyen hatten die Unterstützung vor allem Frankreichs und Englands, die ihre eigenen nationalen Interessen verfolgten. Am Sturz Assads hat im Augenblick keine einzige Macht Interesse; weder im Nahen Osten noch auf der internationalen Bühne. Die USA haben ausdrücklich erklärt, daß sie sich nicht einmischen werden.
  • Langfristig ist das Schicksal Assads in die sich änderenden Machtstrukturen im Nahen Osten eingebunden. Die vier Mächte, zwischen denen die künftigen Hegemonialkämpfe ausgetragen werden, sind nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak der Iran, Saudi-Arabien, Ägypten und zunehmend die Türkei. Drei sunnitische Länder also und ein schiitisches.

    Langfristig haben sowohl Saudi-Arabien als auch die Türkei ein Interesse an einem sunnitisch dominierten Syrien. Vorerst aber dürfte ihnen der Sturz Assads zu gefährlich für die Stabilität in der Region sein. Solange sie aber keine bewaffnete Opposition in Syrien unterstützen, ist das Regime kaum gefährdet. Es sei denn, daß interne Spannungen unter den Alawiten zu einem Sturz Assads führen.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.