3. Oktober 2011

Zum Tag der Deutschen Einheit: Warum eigentlich feiern? Ja, feiern wir denn überhaupt?


Warum feiern wir eigentlich heute? Was feiern wir denn?

Zu kurz gesprungen. Die erste Frage sollte sein: Feiern wir überhaupt?

Wenn in der Schweiz Bundesfeiertag ist - am 1. August -, dann finden überall im Land Feste statt; mit Reden und allerlei Festtagstreiben. Es werden die Alphörner geblasen und kunstvoll die Schweizer Flaggen geschwungen; abends gibt es Feuerwerke und die Augustfeuer. Im Wallis versammelt man sich in der Verwandtschaft, und es gibt die wirkliche, die echte raclette: Zwei kräftige Männer halten einen Laib Gruyère ans Feuer; ein dritter schabt den weich werdenden Käse auf die Teller.

So habe ich es erlebt. Ähnlich habe ich in Frankreich oft den Quatorze Juillet erfahren; mit Feuerwerken, mit Festen den ganzen Tag über bis spät in die Nacht hinein. Man sitzt zusammen, ißt und trinkt, singt. On allumait une cigarette et tout s'allumait. Et c'était la fête, le quatorze Juillet sang Joe Dassin - wir gaben uns Feuer, und alles war befeuert, und es war das Fest des Vierzehnten Juli.

Nicht anders war es, als ich in Holland den Koninginnedag mitgefeiert habe. Manche Städte versinken dann geradezu in der Farbe Orange; es gibt Bootsparaden auf den Grachten, eine Stimme allgemeiner Freude. Auch hier die Feuerwerke im ganzen Land.

Und natürlich wird das in allen diesen Ländern im Fernsehen übertragen, von morgens bis abends. Wie auch am Fourth of July in den USA. Wie an den Nationalfeiertagen überall auf der Welt.



Und in Deutschland? Sehen Sie sich bitte einmal das heutige Fernsehprogramm an.

Die ARD bringt um 10 Uhr einen Gottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit. Dann folgen "Der Froschkönig" (11 Uhr), "Der kleine Prinz" (12 Uhr), "Wenn die Alpenrosen blühen" (13 Uhr), "Die Geierwally" (14.30 Uhr), nach der Tagesschau "Mein Traum in Venedig" (16.10 Uhr), "Schokolade für den Chef" (17.40 Uhr), nach einer weiteren Tagesschau "Mit dem Transit durch Almanya" (19.15 Uhr), nach einer weiteren Tagesschau "Das weiße Band" (Krimi, 20.15 Uhr) und nach den Tagesthemen zur Nachtzeit eine einzige Sendung zum Tag der Deutschen Einheit: "Mein vereintes Deutschland" (23 Uhr).

Nicht weniger trostlos sieht es bei den anderen Sendern aus, ob privat oder ob öffentlich-rechtlich. Das Fernsehen präsentiert ein Deutschland, das seinen eigenen Nationalfeiertag schlicht ignoriert.

Dabei gäbe es gerade dieses Jahr viel zu berichten, rund um die Uhr. Denn dieses Jahr richtet NRW die Feiern zu unserem Nationalfeiertag aus und hat daraus ein Deutschlandfest gemacht. Ein NRW-Fest, kombiniert mit dem Tag der Deutschen Einheit.

Wenn am Rosenmontag die Jecken durch Düsseldorf und Köln ziehen, wenn in Mainz der Karneval tobt - dann ist das unser Fernsehen eine ausführliche Berichterstattung wert; stundenlang. Vom Deutschlandtag werden jedenfalls die Zuschauer des Ersten außerhalb der routinemäßigen Nachrichtensendungen nichts erfahren. So wenig wie die des ZDF. Dieses bestreitet den Nachmittag mit "Die Feuerzangenbowle" (14 Uhr) und "Es geschah am hellichten Tag (15.35 Uhr).

Kaum etwas ist entlarvender, was den Zustand der deutschen Nation angeht, als diese ostentative Weigerung, sich selbst zu feiern. Denn es sind ja nicht nur die Medien, die den Nationalfeiertag ignorieren. Ebenso tun es die Bundesländer, die Städte und Gemeinden; vom Militär gar nicht zu reden, das zum Beispiel in Frankreich mit der Parade entlang der Champs Elysées einen spektakulären Beitrag leistet.



Ja aber, werden Sie vielleicht jetzt einwenden wollen. Ja aber - ist das denn schlimm? Sind wir Deutschen nicht einfach allen anderen voraus, indem wir diese verstaubten Traditionen über Bord geworfen haben? So, wie wir als die Aussteigernation der ganzen Welt den Weg aus der Atomenergie weisen? Wie wir das Öko-Vorbild für den Globus sind?

Verstiegenheiten; freilich sehr deutsche Verstiegenheiten. Wieder einmal haben alle anderen den falschen Tritt, nur wir Deutschen den richtigen.

Denn es ist nun einmal so, daß eine Nation, soll sie nicht zerfallen, ein Gefühl gemeinsamer Identität braucht. Am Nationalfeiertag zelebriert die Nation dieses Gefühl. Man versichert einander gewissermaßen, daß man zusammengehört - daß man dieselben Überzeugungen hat, dieselben Symbole respektiert, Rituale teilt.

Denn um Rituale geht es im Kern. Rituale wurden in der Evolution des Menschen erfunden, um soziale Bindungen zu schaffen und zu festigen. Bindungen religiöser Art, Bindungen nationaler Art. Ursprünglich war das nicht getrennt, denn der Stamm, der Clan war ebenso eine religiöse wie eine soziale Einheit. Wir sehen noch einen Rest davon, wenn es heute einen Gottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit gibt.

Kann man das alles über Bord werfen, sich darüber erheben? Ja, natürlich kann man es. Man kann es bei Strafe des Verlusts der nationalen Identität.

Das kann eine Zeitlang gutgehen. Es wird nicht mehr gutgehen, sobald Deutschland in Krisen gerät; in Situationen, in denen der nationale Zusammenhalt unabdingbar ist. Wir werden dann merken, daß dort, wo andere Völker ihre nationale Identität haben, bei uns die Leere gähnt.

Nicht ganz freilich. Die Einwanderer aus der Türkei haben größtenteils, auch in der zweiten und dritten Generation, eine intakte nationale Identität: die türkische.
Zettel



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