23. Oktober 2011

Aufruhr in Arabien (22): Heute wählt Tunesien. Die wichtigsten Informationen zum Hintergrund und zur wahrscheinlichen kommenden Entwicklung

Heute wird in Tunesien eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt. Ihre 217 Abgeordneten sollen eine neue Verfassung ausarbeiten und die Bildung einer Regierung in die Wege leiten.

Ende vergangenen und Anfang dieses Jahres war die Revolution in Tunesien wochenlang das medienbeherrschende Thema gewesen. Diese Serie sollte ursprünglich "Die tunesische Revolution" heißen. Ich habe sie dann in "Aufruhr in Arabien" umbenannt. Denn schon bald zeigte sich, daß der Funke der Revolution in andere Länder übersprang. Damit verschob sich der Fokus der Aufmerksamkeit; erst nach Ägypten, dann nach Syrien und vor allem Libyen.

Und wie ist es eigentlich in Tunesien weitergegangen? Darüber, wie sich die Lage dort seither entwickelt hat und unter welchen Voraussetzungen die heutigen Wahlen stattfinden, informierte gestern Stratfor. Auf diesen Artikel (nur Abonnenten zugänglich) stütze ich mich im Folgenden hauptsächlich.

Derzeit wird Tunesien von einer Übergangsregierung regiert, die Mitte Januar geschaffen und danach mehrfach umgebildet wurde. Sie kontrolliert das Land zusammen mit dem Militär. Ein wirklicher Regimewechsel hat bisher nicht stattgefunden.

Zwar wurde die unter Ben Ali herrschende sozialistische RCD (Rassemblement Constitutionel Démocratique; ungefähr "Vereinigte demokratische Verfassungspartei") am 6. Februar verboten. In die Übergangsregierung wurden überwiegend unabhängige Fachleute aufgenommen; viele von ihnen waren aus dem Exil in einem demokratischen Rechtsstaat in ihre Heimat zurückgekehrt (siehe Wie ist eigentlich die Lage in Tunesien? Erstaunlich!; ZR vom 5. 2. 2011).

Aber die führenden Mitglieder der Übergangsregierung kommen zum Teil noch immer aus der RCD oder dem Regierungsapparat Ben Alis. Der amtierende Präsident Mebazaa war unter Ben Ali Parlamentspräsident gewesen. Auch der amtierende Ministerpräsident Beji Caid Essebsi gehörte dem Machtapparat Ben Alis an; er war unter anderem Außenminister, Botschafter in Deutschland und ebenfalls Präsident des Parlaments.



Ebenso ist ein erheblicher Teil der Parteien, die heute antreten, aus dem Regierungsapparat Ben Alis hervorgegangen:
  • "Al Watan". Dessen Vorsitzender ist Kamel Morjan, unter Ben Ali Außenminister und UN-Botschafter;

  • "Al Mubadara", geführt von Mohamed Jegham; unter Ben Ali Innen- und Verteidigungsminister;

  • die "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit". Ihr Vorsitzender Souheil Salhi war Mitglied des RCD;

  • die Partei "Unabhängigkeit für die Freiheit"; ebenfalls von einem früheren RCD-Mitglied geführt, Mohamed Lamine Kaouache.
  • Das sind Wendehals-Parteien, vergleichbar den sogenannten "postkommunistischen" Parteien nach der Befreiung Osteuropas vom Kommunismus.

    Insgesamt gibt es aber nicht weniger als 60 Parteien. Neben den Wendehals-Parteien sind vor allem drei von Bedeutung:
  • Die liberale "Demokratische Fortschrittspartei" (PDP). Sie ist von denjenigen Parteien, die weder Wendehals-Parteien noch islamistisch sind, die größte und die am besten organisierte. Sie strebt eine Verfasssung nach dem Vorbild der USA an.

  • Die sozialdemokratische "Demokratische Partei für Arbeit und Freiheit" (FDTL, auch Ettakatol genannt).

  • Und vor allem diejenige Partei, die nach den Umfragen der Wahlsieger sein dürfte: Die islamistische "Al-Nahda". Sie tritt für ein parlamentarisches System mit einer einzigen Kammer ein, die den den Präsidenten wählen soll.

    "Al-Nahda" ist besser als jede der anderen Parteien organisiert und verfügt über erhebliche Geldmittel. Ihr Führer Rachid Ghannouchi war am 30. Januar aus seinem Londoner Exil nach Tunesien zurückgekehrt und versucht seither seine Partei als moderat zu profilieren. Beispielsweise tritt sie jetzt für Frauenrechte ein und bezeichnet die türkische AKP Erdoğan als ihr Vorbild.

    Die Stärke von "Al-Nahda" rührt auch daher, daß die meisten ihrer Mitglieder trotz der Verfolgung durch das Regime Ben Alis im Land geblieben waren und die Partei dadurch jetzt in der Bevölkerung verankert ist. "Al-Nahda" ist davon überzeugt, einen großen Wahlsieg zu erringen, und tönt, sie werde mindestens 50 Prozent der Stimmen erreichen.



  • Damit ist eine kritische Situation nach den Wahlen so gut wie programmiert. "Al-Nahda" hat bereits angekündigt, sie werde die Wahlen anfechten und Demonstrationen veranstalten, wenn es Wahlfälschungen geben sollte. Wahlbetrug sieht sie sehr wahrscheinlich als gegeben an, wenn sie nicht mit großem Vorsprung vor jeder der anderen Parteien siegt.

    Die jetzige Regierung mit dem sie stützenden Militär könnte andererseits eingreifen, falls die Wahlen zu einer absoluten Mehrheit von "Al-Nahda" führen sollten. Die jetzt herrschenden Kräfte wollen ein Parlament, in dem die einzelnen politischen Kräfte einander die Waage halten. Um das zu erreichen, war auch der Wahltermin von dem ursprünglich vorgesehenen 24. Juli auf heute verschoben worden. Das sollte es Parteien, die schlechter organisiert waren als "Al-Nahda", Zeit geben, gegenüber dieser organisatorisch aufzuholen.

    Mit einer politisch angespannten Situation nach den Wahlen ist also mit großer Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Bleibt "Al-Nahda" der Sieg versagt, dann wird sie sich um die Macht geprellt sehen und auf die Straße gehen. Siegt "Al-Nahda" dann werden die jetzt Herrschenden aus dem alten Machtapparat und vor allem auch das Militär dies möglicherweise nicht hinnehmen.

    Es muß allerdings nicht unbedingt zu einem eskalierenden Konflikt kommen.

    Die Wahlen werden vermutlich überwiegend ordnungsgemäß verlaufen. Die amtierende Regierung hat nicht nur eine eigene Behörde zur Überwachung der Wahlen (ISIE) geschaffen, sondern es gibt auch internationale Beobachter vom Carter Center und vom International Republican Institute.

    Erringt "Al-Nahda" einen Wahlsieg, der sie zufriedenstellt, ohne ihr die absolute Mehrheit zu geben, dann kann es relativ ruhig bleiben. Bleibt sie aber deutlich unter ihren Erwartungen, dann wird sie auf die Straße gehen. Siegt sie mit absoluter Mehrheit, dann ist offen, wie die Übergangsregierung und das Militär darauf reagieren werden.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.