6. Oktober 2011

Marginalie: Literaturnobelpreis für Tomas Tranströmer. Ich kann das nicht nachvollziehen

Die Schwedische Akademie hat den diesjährigen Nobelpreis für Literatur an einen schwedischen Lyriker verliehen, Tomas Tranströmer. Ich kann das nicht nachvollziehen.

Ich kann es nicht nachvollziehen in einem ganz wörtlichen Sinn: Nicht nur habe ich bisher nie etwas von Tomas Tranströmer gehört, sondern seine Lyrik wird mir auch auf immer unzugänglich sein. Denn er schreibt auf Schwedisch; und Schwedisch kann ich nicht und werde ich auch nicht lernen.

Aber es gibt doch Übersetzungen? Es gibt das, was man Übersetzungen nennt. Lyrik läßt sich aber nicht übersetzen.

Alle Übersetzungen sind problematisch, sieht man von wissenschaftlichen und anderen Fachtexten ab (siehe die Serie "Anmerkungen zur Sprache" und darin insbesondere Traduttore, traditore; ZR vom 19. 11. 2006). Keine Übersetzung kann das "Original erreichen"; sie kann es nur mehr oder weniger stark verfehlen.

Bei Lyrik ist aber Übersetzen von vornherein unmöglich. Das hat vor allem zwei Gründe:

Erstens spielt in der Lyrik die Bedeutung jedes einzelnen Worts eine zentrale Rolle; und zwar die Bedeutung im Sinn der Konnotation, nicht der Denotation.

Die Denotation eines Worts ist sein Gegenstand. Das Wort "Sonne" bedeutet denotativ beispielsweise das Zentralgestirn unseres Planetensystems. Die Konnotation von "Sonne" ist hingegen alles das, was mitschwingt, wenn man dieses Wort hört oder liest - bei "Sonne" vielleicht Urlaub, Strand und Meer; oder auch Sonnenbrand und Hautkrebs; oder vielleicht Solarenergie. Oder das alles zusammen, und dazu noch manches mehr.

Diese Konnotationen spricht der Lyriker an; er löst sie assoziativ aus, wenn er das Wort "Sonne" in einem Gedicht verwendet. Nun sind aber die Denotationen von Wörtern und ihren Übersetzungen in eine andere Sprache nicht deckungsgleich.

Ein einfaches Beispiel: Der Titel der Sherlock-Holmes-Geschichte "The hound of the Baskervilles" wird oft mit "Der Hund von Baskerville" übersetzt. Darin ist zunächst einmal ein schlichter Fehler enthalten; denn "the Baskervilles" ist kein Ort, sondern ein Adelsgeschlecht. Also muß es "... der Baskervilles" heißen oder "... derer von Baskerville" und nicht "... von Baskerville".

Das ist jetzt aber nicht mein Punkt. "Hound" ist nicht dasselbe wie "dog". Ein "hound" ist ein großer Jagdhund. "To hound" heißt "jagen". Beim Engländer entstehen also, wenn er "hound" liest, ganz andere Assoziationen, als wenn ein Deutscher "Hund" liest. Dieser mag dabei an seinen Mops denken, oder an den Mischling, den die Oma aus dem Tierheim geholt hat.

Die Denotationen von Wörtern sind in jeder Sprache anders. Schon auf der Ebene der einzelnen Wörter ist deshalb das "getreue" Übersetzen von Lyrik gar nicht möglich. Hinzu kommt zweitens, daß Lyrik auch auf der Verbindung der Wörter basiert - auf dem Versmaß, auf Reimen. Hier muß jede Übersetzung scheitern, wenn sie außerdem auf der Ebene der Wörter halbwegs stimmen soll.

Versucht der Unglückiche, dem das Übersetzen von Lyrik etwa ins Deutsche aufgetragen ist (oder der es sich freiwillig auferlegt hat), auch im Deutschen den Reim des Original beizubehalten, dann hapert es erst recht bei der Konnotation; es gilt dann das bekannte "reim dich, oder ich freß dich". Will er das Versmaß retten, dann muß er nach rhythmisch passenden Wörtern suchen, auf Kosten der genauen Wortbedeutung.

Lyrik ist unübersetzbar. Man kann nur zweierlei machen:

Erstens kann man eine Nachdichtung versuchen, ein vom Original inspiriertes eigenes Gedicht. Das hat beispielsweise Rainer Maria Rilke mit Gedichten von Paul Valéry gemacht; siehe meinen oben zitierten Artikel Traduttore, traditore.

Oder aber man kann zweitens lediglich Hilfe zum Verständnis des Originals bieten. In einer zweisprachigen Ausgabe kann der Übersetzer dem Original eine möglichst wortgetreue Übersetzung zur Seite stellen, die auf Versmaß und Reim verzichtet und nur die nackte Bedeutung liefert. Das erleichtert vielleicht das Lesen des Originals; ersetzen kann es sie keinesfalls.



Lyrik kann man nicht übersetzen; und deshalb sollte man für sie auch keinen Nobelpreis vergeben. Jetzt trifft es sich zufällig, daß die Schwedische Akademie einen Schweden ausgezeichnet hat, dessen Gedichte die Juroren lesen konnten. Aber wie sollen sie die Gedichte eines Russen, eines Persers oder auch nur eines Deutschen oder Franzosen lesen?

Ähnliche Probleme gibt es freilich auch, wenn Romanciers oder Theaterautoren ausgezeichnet werden; sie sind dort nur nicht ganz so gravierend. Auch dort kann man sich aber fragen, ob die abstimmenden Schweden eigentlich eine hinreichende Grundlage für ihre Entscheidungen hatten.

Man kann daran zweifeln, wenn man sich ansieht, welche deutsch schreibenden Autoren den Nobelpreis für Literatur bekommen haben und welche nicht. Ich habe das einmal zusammengestellt (Zum 80. Geburtstag von Martin Walser (1): Walser und Walser; ZR vom 13. 3. 2007):
Unter den deutschsprachigen Autoren des Zwanzigsten Jahrhunderts haben ihn nicht bekommen: Franz Kafka, Robert Musil, Bert Brecht, Alfred Döblin, Kurt Tucholsky, Gottfried Benn, Paul Celan, Karl Krolow, Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Arno Schmidt, Thomas Bernhard, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, Ernst Augustin, Robert Gernhardt. (Das ist so ungefähr auch meine persönliche Bestenliste).

Bekommen haben ihn: Theodor Mommsen, Rudolf Christoph Eucken, Gerhart Hauptmann, Paul Heyse, Carl Spitteler, Thomas Mann, Hermann Hesse, Nelly Sachs, Heinrich Böll, Elias Canetti, Günter Grass und Elfriede Jelinek. (Das hat nur eine kleine Schnittmenge mit meiner persönlichen Bestenliste, eine sehr kleine).

Und nicht bekommen haben ihn Walser und Walser; Robert und Martin.
Inzwischen ist 2009 noch Herta Müller dazugekommen. Eine bedeutende, sehr eigenwillige Schriftstellerin. Ob eine der ganz Großen, möchte ich nicht beurteilen.



Warum überhaupt ein Nobelpreis für Literatur? Wissenschaft ist ihrem Wesen nach international; von der jeweiligen Sprache unabhängig. Da macht ein internationaler Preis für die Besten Sinn. Literatur ist ihrem Wesen nach national; genauer: der jeweiligen Kulturnation zugehörig, die nicht mit der politischen Nation identisch sein muß. Da ergibt ein internationaler Preis gar keinen Sinn.

Siehe auch:
Zitat des Tages: "Der Nobelpreis vernachlässigt konsequent die bedeutendsten Autoren". Nebst einem kleinen literarischen Quiz; ZR vom 7. 10. 2009

Zitat des Tages: "Kunst ist etwas Künstliches". Anmerkungen zur Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller. Nebst Lesetipps; ZR vom 9. 10. 2009
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.