21. Oktober 2011

Libyen, der Irak und die Welt der Gutmenschen: Wie wird aus schwarz weiß und aus weiß schwarz?

Ich benutze das Wort "Gutmenschen" selten. Zum einen, weil es inzwischen abgegriffen ist. Zweitens, weil solche Kategorisierungen einigermaßen grob sind; unter den so Charaktisierten gibt es sehr unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen.

Aber jetzt verwende ich den Begriff einmal, weil er mir zu dem, was ich anmerken möchte, exakt zu passen scheint: Der Neigung, politische Fragen unter den Kategorien "gut" und "böse" zu rubrizieren; sie gewissermaßen unter moralische Kuratel zu stellen.

Diejenigen, die diese Neigung ausgeprägt zeigen, nenne ich - im jetzigen Kontext - Gutmenschen; und ihr Gutsein gibt nun allerdings Anlaß zum Erstaunen. Nämlich dann, wenn man vergleicht, wo für sie Gut und Böse lagen, als sie die Invasion des Irak moralisch bewerteten; und wo jetzt, da es um die Intervention des Westens in Libyen geht.



Saddam Hussein und Muamar al-Gaddafi waren Diktatoren von einer Brutalität, wie sie auch unter modernen Diktatoren ungewöhnlich ist. Beide waren Sozialisten, die sich am Sozialismus der Sowjetunion orientierten. Saddam bewunderte Stalin und errichtete seinen Unterdrückungs-apparat nach dessen Vorbild. Gaddafi schwebte mit seiner "Dritten Internationalen Theorie" eine Verschmelzung von Sozialismus und Islam vor. Beide bedienten sich der staatsterroristischen Methoden des einst real existierenden Sozialismus.

Vermutlich war Saddam der Skrupellosere; Gaddafi dürfte sich zumindest in den ersten Jahrzehnten als ein Lehrer und Wohltäter seines Volks verstanden haben. Aber lassen wir das dahingestellt. Daß beide schlimme Dikatoren wie Stalin und Mao waren, liegt auf der Hand.

Beiden wurden durch eine militärische Intervention des Westens gestürzt. In beiden Fällen erfolgte das Einschreiten nicht durch eine einzige Macht; sondern es hatte sich eine Koalition gebildet. Im Fall des Irak stand sie unter der Führung der USA und Großbritanniens; jetzt in Libyen fand sie unter der Leitung Frankreichs und Großbritanniens statt.

Beide Kriege führten zum Sturz des Dikators. Beide kosteten große Opfer.

Zu den Opfern des Irakkriegs gibt es unterschiedliche Schätzungen. Die meisten Schätzungen gehen von einer Größenordnung von 100.000 Todesopfern aus. Dabei sind aber nicht nur die Toten der Invasion eingerechnet, die nur einen Bruchteil ausmachen; sondern alle Opfer des Terrorismus, der nach dem Sturz von Saddam entstand. Die Zählungen umfassen meist einen Zeitraum von vier Jahren oder mehr.

Die Zahl der bisherigen Opfer des Libyen-Kriegs wird vom Nationalen Übergangsrat auf 25.000 geschätzt; dies innerhalb rund eines halben Jahres. In Relation ist das gewiß nicht weniger.

Welche Folgen hatte jeweils der Sturz des Diktators? Im Irak begannen Terroristen der Kaida, Ex-Soldaten des alten Regimes sowie schiitische Extremisten einen Bürgerkrieg, der den Aufbau eines demokratischen Staats verzögerte. Inzwischen gibt es im Irak solch einen - für arabische Verhältnisse - demokratischen Staat, der aber aufgrund des Rückzugs der USA bedroht bleibt.

Welche Folgen der Sturz Gaddafis haben wird, ist logischerweise noch unbekannt. Die Wahrscheinlichkeit, daß in absehbarer Zeit in Libyen ein stabiler demokratischer Rechtsstaat entstehen wird, ist minimal. Alle Voraussetzungen sprechen dafür, daß das Land jetzt, ähnlich wie der Irak ab 2003, in eine Phase bewaffneter Auseinandersetzungen eintreten wird (siehe Probleme Libyens nach dem Tod Gaddafis; ZR vom 20. 10. 2011).



Es gibt also viele Gemeinsamkeiten zwischen der Invasion des Irak damals und der Intervention in Libyen heute; zwischen dem Sturz Saddams und dem Gaddafis. Natürlich gibt es auch Unterschiede.

Bei der Invasion des Irak 2003 spielte die Sorge wegen dessen Massenvernichtungswaffen eine entscheidende Rolle, die er an Terroristen hätte weitergeben können. Gaddafi hatte, als er jetzt gestürzt wurde, bereits auf seine Massenvernichtungswaffen verzichtet.

Weiterhin ging der jetzigen militärischen Intervention ein Aufstand gegen Gaddafi unmittelbar voraus. Aufstände gegen Saddam (der Kurden 1988, der Schiiten 1991) hatten hingegen bereits zuvor stattgefunden und waren mit Zehntausenden von Opfern niedergeschlagen worden.

Schließlich war 2003 umstritten, ob die Resolution 1441 des Weltsicherheitsrats die Invasion erlaubte. Die jetzige Invasion basiert auf der Resolution 1973, die einen "sofortigen Waffenstillstand" verlangte und die eine militärische Intervention mit dem Ziel vorsah, Flugverbotszonen zum Schutz der Zivilbevölkerung einzurichten. Auch hier ist zu fragen, ob das Eingreifen der Nato-Truppen auf Seiten der Rebellen durch diese Resolution gedeckt war. Immerhin ist die völkerrechtliche Lage nicht identisch mit derjenigen 2003.

Insgesamt aber überwiegen eindeutig die Gemeinsamkeiten. Und doch war und ist die Reaktion der Gutmenschen in Deutschland so radikal verschieden, wie Reaktionen auf politische Ereignisse nur verschieden sein können.

Der Irakkrieg löste große moralische Empörung aus. Sie richtete sich nicht etwa gegen den Diktator und dessen Blutherrschaft, sondern gegen die Befreier, die Invasionstruppen unter Führung der USA und Großbritanniens. Die Gutmenschen waren überzeugt, daß die Amerikaner in diesem Krieg die Bösen waren, angeführt von dem besonders bösen George W. Bush.

Auch der Libyenkrieg löst jetzt große moralische Empörung bei den Gutmenschen aus. Sie richtet sich aber nicht gegen die Intervention des Westens, durch die aus einem lokalen Aufstand erst ein monatelanger blutiger Bürgerkrieg wurde; sondern jetzt gilt sie dem Diktator und seinem gestürzten Regime.



Wie kommt so etwas? Wie kann aus schwarz weiß, aus weiß schwarz werden?

Ich möchte vier zu bedenkende Faktoren nennen, die einander nicht ausschließen, sondern eher ergänzen: Das Denken in Schemata; Denken in Bildern; Einfluß allgemeiner Einstellungen; und schließlich die spezifisch gutmenschliche Neigung, alles Politische - wie alles im Leben - danach zu bewerten, ob es gut oder böse (bzw. gut oder schlecht) ist.
  • Wir alle denken in Schemata. Für Ereignisse wie die Kriege im Irak und in Libyen bieten sich zwei Schemata an: (1) Das Land wird von einem brutalen Diktator befreit; (2) Fremde Großmächte mischen sich militärisch in einem Land ein, in dem sie nichts verloren haben. Beide Schemata treffen auf beide Fälle zu; sie fassen jeweils einen ihrer Aspekte. Gutmenschen wählen aber offenkundig jetzt Schema (1) für Libyen; und sie wählten damals Schema (2) für den Irak.

  • Warum? Eine Rolle könnte das Denken in Bildern gespielt haben. Die Grausamkeit Gaddafis war in den Schlagzeilen; man konnte sich vorstellen, wie seine Truppen "auf die eigene Bevölkerung schossen". Im Jahr 2003 hatte es hingegen keine akuten Grausamkeiten Saddams gegeben, die Schlagzeilen gemacht hätten. Die politischen Gefangenen in seinen Folterkellern blieben im Verborgenen; der Terror war nicht sichtbar, der jeden Widerspruch mit Folter und Tod bedrohte. Saddams Massenmorde an Kurden und Schiiten waren bekannt, aber nicht gegenwärtig.

  • Entscheidend dafür, daß damals die Gutmenschen das Schema (2) wählten, dürfte jedoch gar nicht die Bewertung des Saddam-Regimes gewesen sein, sondern diejenige der USA. Viele von diesen Gutmenschen hatten damals (und haben heute) eine negative Einstellung gegenüber den USA als dem Hort des Kapitalismus. Sie hatten 2003 zusätzlich eine ausgeprägt negative Einstellung gegen Präsident Bush, der von unseren Medien als ein machtbesessener, erzkonservativer Fundamentalist dargestellt wurde. Sehen Sie sich einmal dieses Titelbild des "Spiegel" an; es entstand ein Jahr vor dem Irakkrieg.

  • Nun sind Gutmenschen keine Dummköpfe; vermutlich nicht klüger und nicht dümmer als wir alle. Warum entgeht ihnen, daß sowohl das Schema (1) als auch das Schema (2) auf einen gegebenen Fall zutreffen können? Warum können sie nicht so, wie wir anderen, von Bildern abstrahieren? Und warum können sie einen konkreten Fall wie einen Krieg nicht sachlich beurteilen, ohne ihren allgemeinen Antiamerikanismus einfließen zu lassen?

    Weil, so scheint mir, jede derartige Differenzierung ihr Gutmenschentum zerstören würde. Sie würden sich den Boden unter den Füßen wegziehen, die Gutmenschen, wenn sie mit dem Differenzieren begännen.
  • Denn in Gut und Böse sich aufteilend kann man die politische Welt nur dann erfolgreich sehen, wenn man sich für ein einziges Schema entscheidet; wenn man sein moralisches Empfinden an konkreten Bildern orientiert statt an den abstrakten Sachverhalten, die diese relativieren würden; wenn man alles, was sich zuträgt, auf eine allgemeine Einstellung bezieht und an ihr prüft.

    Auf eine allgemeine Einstellung wie damals den Antiamerikanismus, aus dem die Verurteilung des Irakkriegs herauspurzelte wie die Zigarettenschachtel aus dem Automaten. Jetzt hingegen war durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten das Schema "Das Volk befreit sich vom Tyrannen" aktiviert. "Blut für Öl" paßte da nicht mehr.
    Zettel



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