6. Oktober 2011

Neues aus der Forschung (12): Physik-Nobelpreis an drei Astronomen. Was haben sie eigentlich entdeckt? Warum ist ihre Entdeckung so wichtig? (Teil 1)

Den diesjährigen Nobelpreis für Physik haben drei Astronomen zuerkannt bekommen: Saul Perlmutter, Brian Schmidt und Adam Riess. Alle drei sind Amerikaner. Schmidt, der in Australien forscht, hat außerdem die australische Staatsbürgerschaft.

Die FAZ bezeichnet in ihrer Würdigung die drei als "Supernova-Forscher". Das ist formal richtig. Alle drei Wissenschaftler arbeiten in Forschungsgruppen, die "Supernova" in ihrem Namen führen. Aber es trifft doch nicht den Kern der Sache. Denn den Nobelpreis haben die drei nicht erhalten, weil sie bahnbrechend Neues über diese explodierenden Sterne herausgefunden hätten, die "Supernova" genannt werden; sondern weil ihre Forschungen unser Bild vom ganzen Universum verändert haben.

Ich weiß aus vielen Gesprächen, daß auch kluge und gebildete Menschen oft kein richtiges Bild vom Universum haben. Das liegt wohl daran, daß viele nicht bis zum Abitur Physik hatten und daß auch im Physik-Unterricht die Astronomie oft stiefmütterlich behandelt wird. Ich beginne deshalb mit ein paar einfachen Grundlagen; Sie können sie überlesen, falls Ihnen das geläufig ist.



Sie können sich das Universum mit Hilfe einer geographischen Analogie vorstellen:

Die Erde ist Teil des Sonnensystems; wie ein Haus in einem Dorf, in dessen Mitte die Dorfkirche steht, hier die Sonne. Es gibt viele solche Dörfer - Zentralgestirne mit ihren Planeten; auch viele einzelne Sterne, Einzelgehöfte sozusagen -, die zusammen gewissermaßen einen Landkreis bilden.

Das ist die Milchstraße, unsere Galaxie. Allerdings ist der Landkreis ziemlich groß: Die Milchstraße umfaßt rund 200 bis 400 Milliarden Sterne, und vom einen Ende des Landkreises bis zum anderen ist das Licht ungefähr 100.000 Jahre unterwegs. So groß ist der Durchmesser der Galaxie; 100.000 Lichtjahre.

"Lichtjahr" - das zu verstehen ist wichtig - ist nämlich kein Zeitmaß, sondern ein Längenmaß. So, wie man früher sagte, daß zwei Orte "drei Stunden voneinander entfernt" sind (man bezog sich meist auf die Geschwindigkeit einer Kutsche), so entspricht ein Lichtjahr der Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt.

Unsere Vorstellungskraft übersteigt das. Aber nun gut: Ein Lichtjahr entspricht knapp 10.000.000.000.000 - also zehn Billionen - Kilometern. Der Durchmesser unseres Landkreises - unserer heimischen Milchstraße, in der sich unser Planetensystem, das Dorf befindet - beträgt somit ungefähr 1.000.000.000.000.000.000 Kilometer.

Von solchen Landkreisen - Galaxien - nun wimmelt es im Universum. Ihre Zahl - sozusagen die Gesamtheit des ganzen Landes, unseres Universums - wird auf 100 Milliarden geschätzt.

Wie groß ist dieses Land? Vor fünfzig Jahren lag die Schätzung bei einem Durchmesser von 8 oder 9 Milliarden Lichtjahren. Inzwischen geht man davon aus, daß es 13 bis 14 Milliarden Lichtjahre sind. Man kann nämlich mit den heutigen Teleskopen weiter als damals ins All hineinschauen; so, wie man weiter ins Land hineinblicken kann, wenn man auf einen höheren Berg steigt.

Ist das Universum immer schon so groß gewesen? Vor einem Jahrhundert dachte man das noch. Man sah das Universum als "statisch" an. Dann wurde eine Entdeckung gemacht, die das Bild vom Weltall revolutionierte. Sie wird meist dem amerikanischen Astronomen Edwin Hubble zugeschrieben: Das Universum dehnt sich aus!



Woher kann man das wissen? Und vorher gefragt: Woher weiß man überhaupt, ob ein Stern, ob eine Galaxie (nach kosmischen Maßstäben) "nah" bei uns ist oder weit entfernt?

Stellen Sie sich vor, an einer Küste stehen eine Reihe von Leuchttürmen. Mancher ist nah bei Ihnen, mancher weiter entfernt. Woran kann man ihre Entfernung bei Dunkelheit oder im Nebel erkennen? An ihrer Helligkeit? Nicht unbedingt. Wenn ein Licht schwach erscheint, dann kann das daran liegen, daß der Leuchtturm weit entfernt ist. Vielleicht ist er aber auch nah, und er hat nur eine besonders schwache Lampe.

So ist es auch bei den Sternen und Galaxien. Aus ihrer (scheinbaren) Helligkeit können wir nicht auf die Entfernung schließen; denn die einen leuchten hell, die anderen schwächer. Sie unterscheiden sich in ihrer Leuchtkraft.

Man brauchte so etwas wie einen Norm-Stern; einen Sterntyp, von dem man weiß, welche Leuchtkraft er hat. Und man müßte natürlich auch noch erkennen können, ob ein gegebener Stern zu diesem Typ gehört.

Die Natur hat nun der Astronomie in der Tat das Geschenk eines solchen Sterntyps gemacht. Es sind die Cepheiden; pulsierende Sterne, deren Helligkeit in einem festen Rhythmus zu- und abnimmt. Zwischen dieser Periodizität und der Leuchtkraft besteht eine feste Beziehung. Man braucht also nur das Pulsieren zu messen; dann kann man die Leuchtkraft ableiten. Und aus dieser und der scheinbaren Helligkeit kann man wiederum die Entfernung bestimmen.

Im Beispiel der Leuchttürme: Nehmen wir an, es sei aus irgendeinem technischen oder seemännischen Grund so eingerichtet, daß zwischen der Stärke, mit welcher der Leuchtturm sein Licht abstrahlt, und dem Rhythmus, in dem er zwischen Hell und Dunkel wechselt, eine feste Beziehung besteht. Sagen wir, je heller die Lampe strahlt, umso langsamer dreht sich der Spiegel und läßt das Licht blinken.

Den Rhythmus kann man leicht bestimmen, indem man auf seine Uhr sieht und zählt; so, wie es der Arzt beim Messen des Pulses macht. Daraus kann man berechnen, mit welcher Leuchtkraft der Leuchtturm strahlt; weil es eben diesen festen Zusammenhang gibt. Und wenn wir wissen, wie groß die Leuchtkraft ist, dann sagt uns die scheinbare Helligkeit etwas über die Entfernung. Haben zwei Leuchttürme dieselbe Leuchtkraft, dann ist derjenige weiter entfernt, dessen Licht schwächer bei uns ankommt.

Man kann also die Entfernungen von Galaxien bestimmen, indem man nach Cepheiden in ihnen sucht. Das hat erstmals Edwin Hubble in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts getan. Woher aber weiß man, daß sich diese Entfernung ändert; daß sich die Galaxien also von uns (und voneinander) wegbewegen?



Man weiß es durch die Farben des Lichts, das sie abstrahlen. Je weiter eine Galaxie von uns entfernt ist, umso mehr ist ihr Licht zum langwelligen Ende des Spektrums, also in Richung Rot hin, verschoben. Das Licht wird - in einer alltagssprachlichen Vereinfachung - sozusagen rotstichig.

Warum, das ist eine leider etwas komplizierte Geschichte. Es gibt da zwei verschiedene Effekte.

Der eine ist der Dopplereffekt. Er wurde schon im 19. Jahrhundert entdeckt; 1842 hat ihn der österreichische Physiker Christian Doppler beschrieben.

Sie werden den Dopplereffekt sofort in seinem Prinzip verstehen, wenn Sie sich in dem Wikipedia-Artikel zu diesem Effekt die Animation mit dem Auto ansehen. Wenn dem Passanten, der beispielsweise einen Rettungswagen mit Martinshorn hört, dieses Auto entgegenfährt, dann werden die Schallwellen durch die Eigengeschwindigkeit des Autos gewissermaßen "zusammengeschoben"; entsprechend werden sie "gedehnt", wenn es von dem Beobachter wegfährt.

Je mehr die Wellenberge und -täler "zusammengeschoben" sind, umso größer ist die Frequenz; umso höher klingt also der Ton. Entsprechend klingt er tiefer, wenn man von der Schallquelle wegfährt.

Ebenso ist es nun mit dem Licht. Auch Licht besteht - Doppler wußte das schon - aus Wellen verschiedener Frequenz. Wenn diese "auseinandergezogen" werden, dann wird die Frequenz niedriger, das Licht also langwelliger; umgekehrt wird es kurzwelliger, wenn sich die Quelle auf den Beobachter zubewegt und die Lichtwellen dadurch "zusammengeschoben" werden. Eine Rotverschiebung - eine Verschiebung zu langwelligerem Licht hin - deutet also darauf hin, daß das betreffende Objekt sich vom Beobachter wegbewegt. Solche Effekte sind beispielsweise für die Sterne unserer Milchstraße zu beobachten.

Es gibt die Rotverschiebung aber auch für Galaxien - im obigen Beispiel: nicht die einzelnen Dörfer, sondern die Landkreise -; und hier handelt es sich nicht um einen Dopplereffekt. Sondern es ist so, daß die Raumzeit sich ausdehnt und sich dadurch alle Galaxien voneinander entfernen. Anders gesagt: Es ist nicht der Fall, daß innerhalb eines statischen Raums der Abstand größer würde; sondern der Raum selbst ist es, der sich dehnt (genauer die Raumzeit).

Die gängige Illustration dafür ist ein Luftballon, den man aufbläst. Stellen Sie sich vor, daß unsere Landkreise als kleine Papp-Plättchen auf diesen Luftballon aufgeklebt sind. Bläst man ihn auf, dann entfernen sich alle voneinander.

Nehmen wir nun ein Haus in einem Dorf in einem solchen Landkreis als Beobachtungspunkt (unsere Erde) und überlegen, was aus Sicht der Erde bei den anderen Landkreisen beim Aufblasen passiert. Stellen wir uns vor, es sind auf dem Ballon zehn Landkreise aufgeklebt, wie am Schnürchen aufgereiht in Abständen von jeweils zehn Zentimetern. Wir blasen fünf Sekunden in den Ballon und schauen nach, was passiert ist.

Der uns unmittelbar benachbarte Landkreis hat sich von unserem Beobachtungspunkt dann um vielleicht einen Zentimeter entfernt; er ist also jetzt elf Zentimeter weit weg. Dasselbe gilt für dessen eigenen Abstand zu seinem nächsten Nachbarn. Dieser Nachbar unseres Nachbarn ist also jetzt nicht mehr zwanzig, sondern zweiundzwanzig Zentimeter von der Erde entfernt; und so fort.

Je weiter ein Landkreis schon von uns entfernt war, eine umso größere Entfernung legt er also während dieser fünf Sekunden des Aufblasens aus unserer Sicht zurück. Mit anderen Worten: Die Geschwindigkeit, mit der er sich von uns entfernt, ist umso größer, je größer sein Abstand zu uns ist.

Das ist es, was man im Weltall beobachtet: Alle Galaxien entfernen sich von uns; und das mit einer umso größeren Geschwindigkeit, je weiter sie weg sind. Das ist es, was als Ausdehnung oder Expansion des Weltalls bezeichnet wird. Auch die Lichtwellen sind von dieser Expansion betroffen. Es gibt dadurch eine Verschiebung zur langwelligen Seite hin, also die Rotverschiebung.



Wo kommt diese Expansion her? Wir kennen die Ursache; meinen sie jedenfalls zu kennen: Es ist der Urknall, der sie in Gang gesetzt hat. Einmal gestartet, geht sie immer weiter. So, wie ein Ball, den wir mit der Kraft unseres Arms nach oben werfen, immer weiter gen Himmel fliegt; auch dann, wenn diese unsere Kraft gar nicht mehr auf ihn einwirkt. Das tat sie ja nur so lange, bis er sich von unserer Hand gelöst hatte.

Der Ball fliegt weiter nach oben. Freilich nicht unbegrenzt. Irgendwann fällt er auf die Erde zurück. Er tut das unter der Einwirkung der Schwerkraft (Gravitation). Gravitation herrscht ja nun aber auch zwischen den Galaxien des Universums. Sie sollte der Expansion entgegenwirken und sie allmählich verlangsamen. Sie sollte; aber tut sie es auch? Verlangsamt sich die Ausdehnung des Weltalls wirklich allmählich?

Damit sind wir bei der Frage, von der die Forschungen der drei Nobelpreisträger ihren Ausgangspunkt nahmen. Im zweiten Teil werde ich das näher beschreiben.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.