16. Oktober 2011

Marginalie: Wutbürger im Frankfurter Bankenviertel?

Da ist er wieder, der Wutbürger. Der Wutbürger, über den vor einem Jahr der "Spiegel"-Redakteur Dirk Kurbjuweit dies schrieb:
Der Wutbürger buht, schreit, hasst. (...) Der Wutbürger hat das Gefühl, Mehrheit zu sein und die Lage besser beurteilen zu können als die Politik. Er macht sich zur letzten Instanz und hebelt dabei das gesamte System aus.
Zu einer bemerkenswerten Tiefe der Analyse drang Kurbjuweit damals nicht vor; er beschrieb ja nur den guten alten zornigen Kleinbürger. Aber immerhin brachte er es mit seiner Wortneuschöpfung zum "Wort des Jahres 2010" (siehe "Wutbürger" - Wort des Jahres? Nein, Unwort des Jahres; ZR vom 18. 12. 2010).

Es ist verwunderlich, daß dieses in solcher Weise geehrte Wort jetzt kaum zu lesen ist, wenn es um jene Aktionen geht, die in den USA unter dem Slogan Occupy Wall Street ("Besetzt die Wall Street") ihren Anfang nahmen und die jetzt auch nach Deutschland übergeschwappt sind.

Sind das denn jetzt keine Wutbürger? In "Zeit-Online" fand gestern Lenz Jacobsen ganz andere Worte:
Dass er aus der Mitte der Gesellschaft kommt, verleiht diesem Protest eine ganz andere Qualität als Aktionen von einzelnen politischen Gruppen wie Attac. Aber die Mitte ist träge. All die Protestneulinge und Skeptiker, die peinlich berührt wegsehen, wenn Revolutionslieder angestimmt werden oder die "internationale Solidarität" beschworen wird, sie müssen wiederkommen. So wie sie in New York wiedergekommen sind und in Madrid. (...)

Zum Glück ist der Funke schon auf Maria übergesprungen. Die 51-jährige Angestellte in einem Anwaltsbüro steht mit ihrem Fahrrad am Rande des Platzes, direkt neben einem einsamen Besetzer-Zelt. "Ich finde das ganz wichtig, was hier passiert", sagt sie mit leuchtenden Augen. Sie will den Besetzern in den nächsten Tagen Essen bringen.
Vielleicht leuchteten ja auch die Augen der "Wutbürger", die Kurbjuweit vor einem Jahr beschrieben hat? Nur hat er damals nicht darauf geachtet.



Vielleicht leuchten sie auch, die Augen von Mitgliedern der Tea Party in den USA? In Amerika wird jetzt diskutiert, ob Occupy Wall Street so etwas wie eine linke Antwort auf die Tea Party sei. In seiner aktuellen Kolumne in der Washington Post bemerkt dazu Charles Krauthammer lakonisch:
Except that the real Tea Party actually had a program — less government, less regulation, less taxation, less debt. What’s the Occupy Wall Street program? Eat the rich.

Nur daß die richtige Tea Party wirklich ein Programm hatte - weniger Regierung, weniger Gängelei, weniger Steuern, weniger Schulden. Was ist das Programm von Occupy Wall Street? Freßt die Reichen.
Krauthammer stellt diese Bewegung in den Kontext des Bemühens von Präsident Obama und seiner Demokratischen Partei, die Linke für die Wahlen im nächsten Jahr zu mobilisieren. Neid auf die Reichen läßt sich auch in den USA schüren und politische instrumentalisieren (siehe dazu auch den ausgezeichneten Kommentar von Karl Rove).



In einer Krise, wie wir sie seit 2008 haben, entstehen Proteste; das ist nicht verwunderlich.

Seltsam ist nur, daß in Deutschland solche Proteste, wenn sie - wie bei der Tea Party - von Seiten der Konservativen kommen, dem tumben "Wutbürger" zugeschrieben werden (siehe Ein Haßprediger. Nebst Informationen über die amerikanische "Tea-Party"-Bewegung; ZR vom 2. 11. 2010). Tragen sie hingegen ein antikapitalistisches Etikett, dann sieht man die "leuchtenden Augen" derer, die "aus der Mitte der Gesellschaft" heraus protestieren.

Die Tea Party hat klare, durchdachte politische Ziele. Man mag diese ablehnen. Aber es handelt sich um eine vernünftige Position; nämlich diejenige der Väter der amerikanischen Verfassung. Occupy Wall Street ist ein wildes Aufbegehren. Wo sind da eher die "Wutbürger" zu finden?
Zettel



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