Ich glaube, was uns allen Sorgen machen muß, ist sozusagen die Abkopplung der Bevölkerung von den demokratischen Parteien. Und wenn die Parteien nicht stärker auf die Bevölkerung hören und mit der Bevölkerung reden und die Dinge, die sie tun, auch durchsetzen, wird die Demokratie in einer ernsten Gefahr sein, in der Tat. Aber alle politischen Parteien, nicht nur die einen oder die anderen. Und das Thema als ein rechtsradikales auszugeben, ist eine Verhöhnung der berechtigten Unruhe in der Bevölkerung.
Arnulf Baring, emeritierter Professor für Zeitgeschichte und Internationale Beziehungen, gestern Abend in der Sendung "Hart aber fair" zur Diskussion über die Thesen von Thilo Sarrazin.
Kommentar: Ich teile die Besorgnis Barings.
Bis vor kurzem habe ich mir keine Sorgen um die Stabilität unserer Demokratie gemacht; auch nicht in den unruhigen siebziger Jahren. Denn damals hatten die selbsternannten Revolutionäre mit ihren verstiegenen Ideen keinen Widerhall in der Bevölkerung.
Diese war in ihrer großen Mehrheit einverstanden mit unserem Staat, mit unserer Gesellschaft und mit den Führungen der politischen Parteien. Es gab nicht das, was man ein Legitimationsproblem nennt; es gab vielmehr in den Grundfragen einen Konsens zwischen der Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit, den politischen Parteien und übrigens auch den großen Medien. Eine so beschaffene Gesellschaft ist so gut wie immun gegen jede Revoluzzerei.
Dieser Konsens droht gegenwärtig zu zerbrechen. Droht. Noch ist er nicht zerbrochen, und es wird hoffentlich nicht dazu kommen. Die Situationen, in denen die Regierenden, mit medialer Unterstützung, anders urteilen und anders entscheiden, als dies die Mehrheit der Bevölkerung augenscheinlich will, häufen sich aber; sie haben sich in der letzten Zeit nachgerade beängstigend gehäuft.
Es entsteht zunehmend der Eindruck, die Willensbildung finde nicht von unten nach oben statt; vielmehr versuche eine Meinungselite aus Politikern und Medienschaffenden, der Bevölkerung ihre Minderheitsmeinung aufzudrängen. Sie ihr aufzudrängen, wenn nicht zu oktroyieren; statt sie ihr zur Erörterung anzubieten.
Die Sendung "Beckmann" über und mit Thilo Sarrazin am vergangenen Montag hat diese Lage der Nation gewissermaßen szenisch illustriert; siehe Thilo Sarrazin gestern bei Beckmann, seziert mit Stoppuhr und Notizblock. Ein Gastbeitrag von Calimero; ZR vom 31. 8. 2010.
Getarnt als Diskussion, fand ein Tribunal statt. Eine konzertierte Aktion aller anderen Diskutanten (verstärkt durch den Moderator) gegen die Thesen des Gastes Thilo Sarrazin. Wenn der Showprozeß die Perversion eines fairen Gerichtsverfahrens ist, dann war diese Sendung, die durchaus Anklänge an den Deutschen Fernsehfunk der DDR erkennen ließ, eine Showdiskussion.
In dieser Sendung wurde der Schar der Zuschauenden deutlich gemacht - es jedenfalls versucht -, daß es zu den von Sarrazin angeschnittenen Themen keineswegs mehrere, gleichermaßen zu respektierende und kritisch zu diskutierende Meinungen gibt, sondern nur eine einzige, die richtige: Nämlich diejenige, die von der Mehrheit der Politiker und von denjenigen vertreten wird, die einen großen Teil der veröffentlichten Meinung bestimmen.
Die Erwartung war offenbar, daß die Zuschauer das gehorsamst akzeptieren würden. Wenn so viele kluge Leute das sagen!
Das Phänomen der versuchten Meinungsbildung von oben nach unten war in dieser Sendung besonders sinnfällig; so, wie der Fall Sarrazin überhaupt illustrativ für die innenpolitische Lage in unserem Land ist. Aber das Problem sitzt tiefer, und es ist älter.
Da war vor einigen Jahren der Umgang mit der geplanten Europäischen Verfassung.
Der Entwurf der von Valéry Giscard d'Estaing geleiteten Kommission war 2005 von den Franzosen und den Niederländern in Referenden abgelehnt worden. Was taten die Europäische Kommission und das Europa-Parlament? Man arbeitete nicht etwa einen besseren Entwurf aus, der Chancen gehabt hätte, von den Völkern Europas gebilligt zu werden. Sondern man verwandelte den Verfassungsentwurf in ein Vertragswerk mit weitgehend demselben Inhalt, das man in Lissabon souverän verabschiedete; nur ohne den Souverän (siehe Kompetenz-Kompetenz. Was an Gefahren im Vertrag von Lissabon lauert; ZR vom 2. 7. 2008).
Dann war da in diesem Frühsommer die Wahl des Bundespräsidenten.
Der im Volk beliebte Horst Köhler war zurückgetreten; aber von so gut wie allen Politikern wurde dieser Rücktritt nicht als das wahrgenommen, jedenfalls nicht so kommentiert, was Köhler augenscheinlich beabsichtigt hatte: Als Anstoß zu einer Debatte über den Umgang mit dem Amt des Bundespräsidenten; siehe Es war richtig, daß Horst Köhler zurückgetreten ist; ZR vom 31. 5. 2010.
Keine Debatte. Stattdessen wurde, ohne daß dies auch nur in den Parteien, geschweige denn in der Öffentlichkeit diskutiert worden wäre, der Kandidat Wulff mittels einer selbstherrlichen Entscheidung der Kanzlerin auf den Schild gehoben.
Dieser Kandidat wurde durchgedrückt, wenn auch mit Ach und Krach. Er wurde durchgesetzt gegen den Kandidaten Gauck, für den es in der Bevölkerung eine große Mehrheit gegeben hatte. Das geschah mittels allerlei Absicherungen wie beispielsweise dem Bemühen bei der Union, unsichere Wahlleute gar nicht erst in die Bundesversammlung gelangen zu lassen; siehe "Mit der Würde der Demokratie nicht vereinbar". Dagmar Schipanski und Kurt Biedenkopf zur Wahl des Bundespräsidenten; ZR vom 19. 6. 2010
Jetzt also Sarrazin. So unfair niedergemacht wurde er gestern bei Plasberg nicht, wie am Montag bei Beckmann. Er konnte seine Meinung darlegen, ohne ständig unterbrochen zu werden. Man hatte mit Arnulf Baring jemanden eingeladen, der ihm weitgehend zur Seite stand.
Mag sein, daß das am unterschiedlichen Konzept der beiden Sendungen liegt. Aber vielleicht beginnt man ja auch in den Rundfunkanstalten darüber nachzudenken, ob man unserer Demokratie wirklich einen Gefallen tut, wenn durch Sendungen wie derjenigen von Beckmann die Kluft zwischen der Meinungselite und der großen Mehrheit der Bevölkerung, die in dieser Frage offenkundig besteht, noch weiter vertieft wird.
Denn ihr Ziel hat diese Sendung nach allem, was ich dazu gehört und gelesen habe, ja keineswegs erreicht. Gegen soviel geballte Unfairness bildet der Zuschauer Reaktanz; die Zahl derer, die Sarrazin zustimmen, dürfte nach der Sendung größer gewesen sein als zuvor.
Die Regierenden, die Medienschaffenden täten gut daran, auf den Rat des Politologen Baring zu hören. Denn diejenige Lösung gibt es ja nur in der Welt der Satire, die Bertolt Brecht 1953 in den Buckower Elegien vorgeschlagen hat; in dem berühmten Gedicht "Die Lösung": "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"
Arnulf Baring, emeritierter Professor für Zeitgeschichte und Internationale Beziehungen, gestern Abend in der Sendung "Hart aber fair" zur Diskussion über die Thesen von Thilo Sarrazin.
Kommentar: Ich teile die Besorgnis Barings.
Bis vor kurzem habe ich mir keine Sorgen um die Stabilität unserer Demokratie gemacht; auch nicht in den unruhigen siebziger Jahren. Denn damals hatten die selbsternannten Revolutionäre mit ihren verstiegenen Ideen keinen Widerhall in der Bevölkerung.
Diese war in ihrer großen Mehrheit einverstanden mit unserem Staat, mit unserer Gesellschaft und mit den Führungen der politischen Parteien. Es gab nicht das, was man ein Legitimationsproblem nennt; es gab vielmehr in den Grundfragen einen Konsens zwischen der Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit, den politischen Parteien und übrigens auch den großen Medien. Eine so beschaffene Gesellschaft ist so gut wie immun gegen jede Revoluzzerei.
Dieser Konsens droht gegenwärtig zu zerbrechen. Droht. Noch ist er nicht zerbrochen, und es wird hoffentlich nicht dazu kommen. Die Situationen, in denen die Regierenden, mit medialer Unterstützung, anders urteilen und anders entscheiden, als dies die Mehrheit der Bevölkerung augenscheinlich will, häufen sich aber; sie haben sich in der letzten Zeit nachgerade beängstigend gehäuft.
Es entsteht zunehmend der Eindruck, die Willensbildung finde nicht von unten nach oben statt; vielmehr versuche eine Meinungselite aus Politikern und Medienschaffenden, der Bevölkerung ihre Minderheitsmeinung aufzudrängen. Sie ihr aufzudrängen, wenn nicht zu oktroyieren; statt sie ihr zur Erörterung anzubieten.
Die Sendung "Beckmann" über und mit Thilo Sarrazin am vergangenen Montag hat diese Lage der Nation gewissermaßen szenisch illustriert; siehe Thilo Sarrazin gestern bei Beckmann, seziert mit Stoppuhr und Notizblock. Ein Gastbeitrag von Calimero; ZR vom 31. 8. 2010.
Getarnt als Diskussion, fand ein Tribunal statt. Eine konzertierte Aktion aller anderen Diskutanten (verstärkt durch den Moderator) gegen die Thesen des Gastes Thilo Sarrazin. Wenn der Showprozeß die Perversion eines fairen Gerichtsverfahrens ist, dann war diese Sendung, die durchaus Anklänge an den Deutschen Fernsehfunk der DDR erkennen ließ, eine Showdiskussion.
In dieser Sendung wurde der Schar der Zuschauenden deutlich gemacht - es jedenfalls versucht -, daß es zu den von Sarrazin angeschnittenen Themen keineswegs mehrere, gleichermaßen zu respektierende und kritisch zu diskutierende Meinungen gibt, sondern nur eine einzige, die richtige: Nämlich diejenige, die von der Mehrheit der Politiker und von denjenigen vertreten wird, die einen großen Teil der veröffentlichten Meinung bestimmen.
Die Erwartung war offenbar, daß die Zuschauer das gehorsamst akzeptieren würden. Wenn so viele kluge Leute das sagen!
Das Phänomen der versuchten Meinungsbildung von oben nach unten war in dieser Sendung besonders sinnfällig; so, wie der Fall Sarrazin überhaupt illustrativ für die innenpolitische Lage in unserem Land ist. Aber das Problem sitzt tiefer, und es ist älter.
Da war vor einigen Jahren der Umgang mit der geplanten Europäischen Verfassung.
Der Entwurf der von Valéry Giscard d'Estaing geleiteten Kommission war 2005 von den Franzosen und den Niederländern in Referenden abgelehnt worden. Was taten die Europäische Kommission und das Europa-Parlament? Man arbeitete nicht etwa einen besseren Entwurf aus, der Chancen gehabt hätte, von den Völkern Europas gebilligt zu werden. Sondern man verwandelte den Verfassungsentwurf in ein Vertragswerk mit weitgehend demselben Inhalt, das man in Lissabon souverän verabschiedete; nur ohne den Souverän (siehe Kompetenz-Kompetenz. Was an Gefahren im Vertrag von Lissabon lauert; ZR vom 2. 7. 2008).
Dann war da in diesem Frühsommer die Wahl des Bundespräsidenten.
Der im Volk beliebte Horst Köhler war zurückgetreten; aber von so gut wie allen Politikern wurde dieser Rücktritt nicht als das wahrgenommen, jedenfalls nicht so kommentiert, was Köhler augenscheinlich beabsichtigt hatte: Als Anstoß zu einer Debatte über den Umgang mit dem Amt des Bundespräsidenten; siehe Es war richtig, daß Horst Köhler zurückgetreten ist; ZR vom 31. 5. 2010.
Keine Debatte. Stattdessen wurde, ohne daß dies auch nur in den Parteien, geschweige denn in der Öffentlichkeit diskutiert worden wäre, der Kandidat Wulff mittels einer selbstherrlichen Entscheidung der Kanzlerin auf den Schild gehoben.
Dieser Kandidat wurde durchgedrückt, wenn auch mit Ach und Krach. Er wurde durchgesetzt gegen den Kandidaten Gauck, für den es in der Bevölkerung eine große Mehrheit gegeben hatte. Das geschah mittels allerlei Absicherungen wie beispielsweise dem Bemühen bei der Union, unsichere Wahlleute gar nicht erst in die Bundesversammlung gelangen zu lassen; siehe "Mit der Würde der Demokratie nicht vereinbar". Dagmar Schipanski und Kurt Biedenkopf zur Wahl des Bundespräsidenten; ZR vom 19. 6. 2010
Jetzt also Sarrazin. So unfair niedergemacht wurde er gestern bei Plasberg nicht, wie am Montag bei Beckmann. Er konnte seine Meinung darlegen, ohne ständig unterbrochen zu werden. Man hatte mit Arnulf Baring jemanden eingeladen, der ihm weitgehend zur Seite stand.
Mag sein, daß das am unterschiedlichen Konzept der beiden Sendungen liegt. Aber vielleicht beginnt man ja auch in den Rundfunkanstalten darüber nachzudenken, ob man unserer Demokratie wirklich einen Gefallen tut, wenn durch Sendungen wie derjenigen von Beckmann die Kluft zwischen der Meinungselite und der großen Mehrheit der Bevölkerung, die in dieser Frage offenkundig besteht, noch weiter vertieft wird.
Denn ihr Ziel hat diese Sendung nach allem, was ich dazu gehört und gelesen habe, ja keineswegs erreicht. Gegen soviel geballte Unfairness bildet der Zuschauer Reaktanz; die Zahl derer, die Sarrazin zustimmen, dürfte nach der Sendung größer gewesen sein als zuvor.
Die Regierenden, die Medienschaffenden täten gut daran, auf den Rat des Politologen Baring zu hören. Denn diejenige Lösung gibt es ja nur in der Welt der Satire, die Bertolt Brecht 1953 in den Buckower Elegien vorgeschlagen hat; in dem berühmten Gedicht "Die Lösung": "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"
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