8. September 2010

Zitat des Tages: "Zukünftige Historiker werden unsere Zeit das Zeitalter des Ressentiments nennen". Nebst einer Bemerkung über Marx und Freud

When the social historians of the future, if there are any, come to characterise our era they will not call it the age of the atomic bomb, or the financial derivative age, or even that of the 100 per cent mortgage, they will call it the Age of Resentment. For everyone is on the qui vive for the supposed causes of his victim status that are deep-seated, beyond not only his control but beyond repair, at least without a total revolution in human affairs.

(Wenn die zukünftigen Gesellschaftshistoriker - falls es sie überhaupt gibt - sich daran machen, unsere Epoche zu charakterisieren, dann werden sie diese nicht das Zeitalter der Atombombe nennen, oder der Devirate an der Börse, und nicht einmal das Zeitalter der 100-Prozent-Hypotheken. Sie werden sie das Zeitalter des Ressentiments nennen. Denn jeder ist auf dem qui vive nach den vermutlichen Ursachen für seinen Opferstatus. Ursachen, die tief sitzen, die er nicht nur nicht kontrollieren kann, sondern die man auch nicht beheben kann; jedenfalls nicht ohne eine totale Revolution der menschlichen Angelegenheiten.)

Theodore Dalrymple in der Septemberausgabe 2010 des New English Review.


Kommentar: Als eine der Ursachen für diese ressentimentgeladene Grundhaltung unserer Zeit nennt Dalrymple "the spread of tertiary education, especially in such subjects as sociology, psychology, and anything to which the word ‘studies’ may be attached" - die Zunahme der akademischen Ausbildung vor allem in Fächern wie Soziologie, Psychologie und allem, dem das Wort "Studien" angehängt werden kann.

Sarkastisch schlägt er vor, alle diese Fächer in einer "Fakultät für Ressentimentforschung" zu vereinen. Natürlich wäre das die größte Fakultät an jeder Universität, die etwas auf sich hält. Professoren für Ressentiment würden Fächer wie "Rhetorische Übertreibung", "Unterdrückung des Sinns für Ironie" usw. lehren. Als Eingangsvoraussetzung für ein Studium an einer solchen Fakultät schlägt Dalrymple eine Prüfung vor, in welcher der Kandidat öffentlich seine schwere Kindheit beklagen muß.

Eine treffliche Kennzeichnung unserer Epoche, finde ich. Oder genauer: Unserer Epoche, sofern sie durch die "linksliberal" genannten Meinungs- und Erziehungseliten in den reichen Ländern des Westens geprägt wird.

Nur eine Minderheit von ihnen wird sich als Marxisten oder Freudianer bezeichnen. Aber sie sind nahezu alle geprägt durch ein seltsames Amalgam aus den Verführungskünsten von Marx und Freud.

Beide haben, jeder auf seine Art und auf verschiedenen Ebenen, dem Menschen die Verantwortung für sich selbst genommen.

Freud, indem er uns, wie er es selbst formulierte, die "Kränkung" zufügte, daß unser Ich "nicht Herr im eigenen Haus" sei. Daß wir zwar rational zu entscheiden und zu handeln vermeinen, in Wahrheit aber wie Marionetten an den Fäden zappeln, die in unserer Kindheit gesponnen wurden und an denen unser Unbewußtes herumzupft. (Nein, das ist nicht auch Freuds Formulierung, sondern meine).

Marx hat nicht von einer Kränkung gesprochen; diese brutale Ehrlichkeit Freuds war ihm fremd. Aber die Eigenverantwortung nahm er den Menschen auch, in seinem verschrobenen Bild von Mensch und Gesellschaft; am deutlichsten ausgeführt in der "Deutschen Ideologie":
Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts, als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.
Bei Freud ist das Ich nicht Herr im eigenen Haus, weil dort das Unbewußte sein Wesen treibt (in Freuds späterer Theorie das Es geheißen, mit dem Überich an seiner Seite als weiterem Herrn des Ich).

Bei Marx gibt es gar kein eigenes Haus für das Ich mehr. Es haust in einer Plattenbausiedlung namens "herrschende materielle Verhältnisse", ein Nichts gegen die Übermacht dieser eigentlichen "Wirklichkeit" aus Beton und Stahl. Da zappelt es nicht einmal mehr, das individuelle Ich, sondern es dämmert in seinem "falschen Bewußtsein" dahin, bis die Erlösung in Gestalt von Sozialismus und schließlich Kommunismus ihm die Befreiung bringt.

Es ist also seine Verantwortung los, das Ich in dieser "linksliberalen" Welt, deren Gründerväter Marx und Freud heißen. Es hat seine Verantwortung gegen das Recht eingetauscht, zu jammern und sich zu beklagen. Gegen das Ressentiment also.

Nicht der Mensch selbst ist für sich verantwortlich, sondern - Dank sei Freud! - seine Kindheit. Nicht der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, sondern - Dank sei Marx! - die Gesellschaft.

Hat man das erst einmal in sich aufgenommen, dann lebt sich's gut und unbeschwert. Man ist halt, wie man ist. Man kann nichts dafür. Mögen diejenigen, denen etwas an einem nicht gefällt, sich doch bei den Eltern beklagen, die den Betreffenden falsch erzogen haben. Oder wahlweise bei den Kapitalisten, die für diese ungerechte Gesellschaft verantwortlich sind, die ihn halt so gemacht hat, wie er ist.



Es heißt oft, die Psychologen seien heute an die Stelle der Pfarrer und Priester getreten. Das ist falsch. Die Pfarrer und Priester redeten den Menschen ins Gewissen, appellierten also an ihre Selbstverantwortung. Die Psychologen - jedenfalls diejenigen der psychoanalytischen Richtung - verkaufen ihnen ein gutes Gewissen; sie entlasten sie gerade von ihrer Selbstverantwortung.

Was auf der individuellen Ebene der Psychoanalytiker, das ist auf der gesellschaftlichen Ebene der Sozialist; ob mit dem Hut des Sozialdemokraten auf dem Kopf oder mit der Ballonmütze des Kommunisten. Auch ihm geht es darum, den Menschen die Verantwortung für sich selbst zu nehmen.

Der Psychoanalytiker läßt sich dafür bezahlen, daß er für seinen Patienten seelisch Vater und Mutter ist. Der Sozialist will sich dafür wählen lassen, daß er finanziell und in allen Bereichen der "Versorgung" Vater und Mutter spielt.

Infantilisiert wird der Mensch so oder so. Mit einem Dauergefühl des Ressentiments dort, wo beim selbstverantwortlichen Menschen Entschlußkraft und Leistungsbereitschaft sitzen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Thomas Pauli, der mich auf Dalrymples Artikel aufmerksam gemacht hat.