Im ersten Teil ging es um Grundlagen der Forschung zur Intelligenz: Was ist Intelligenz? Wie kann man sie messen? Falls Sie diesen Artikel noch nicht gelesen haben, wäre es hilfreich, das jetzt zu tun, weil ich nun auf ihm aufbaue. Das Thema ist jetzt, wie es nach dem aktuellen Stand der Forschung mit der Erblichkeit der Intelligenz bestellt ist.
Wie kann man herausfinden, ob und ggf. in welchem Umfang Intelligenz erblich ist? Um das zu verstehen, müssen wir uns kurz mit dem Begriff der Varianz befassen.
Aufklärung von Varianz. Als ich im ersten Teil die Definition des IQ erläutert habe, gab es einen Link zur "Gauss'schen Glockenkurve", wie man sie umgangssprachlich gern nennt, also der Normalverteilung. Ein wesentliches Merkmal einer Normalverteilung ist ihre Varianz. Sie können sich das als ein Maß dafür vorstellen, wie schlank oder wie flach die Kurve ist. Hier sehen Sie einige Normalverteilungen mit unterschiedlicher Varianz:
Das Maß für die jeweilige Varianz σ2 ist rechts oben angegeben. Die rote Kurve zeigt eine geringe, die blaue eine große Varianz.
Wo kommt unterschiedlich große Varianz her? Nehmen wir als Beispiel die Körpergröße der Europäer und stellen wir uns vor, wir hätten sie für jeden lebenden erwachsenen Europäer zur Verfügung und würden sie als Verteilung darstellen.
Dann ergäbe sich vermutlich eine flache Verteilung, also eine Verteilung mit einer großen Varianz; sagen wir, wie in der blauen Kurve.
Warum diese große Varianz? Jemand könnte zum Beispiel vermuten, weil in dieser Gesamtheit sowohl Nordeuropäer als auch Südeuropäer sind; weil sie Frauen und Männer umfaßt, Junge und Alte.
Um diese Vermutung zu prüfen, trennt er die Daten und zeichnet einzelne Verteilungen, beispielsweise jeweils für Nord- und für Südeuropäer. Wenn seine Vermutung stimmt, dann sollte in diesen beiden neuen Verteilungen die Varianz geringer sein als für die Gesamtheit der Daten; vielleicht so, wie es die grüne Kurve zeigt.
Er hat die Varianz durch die Aufteilung reduziert; er hat einen Teil der ursprünglichen Varianz, wie man sagt, "aufgeklärt". Man kann auch sagen: Die Herkunft aus Nord- oder Südeuropa ist verantwortlich für einen Teil der ursprünglichen Varianz, "it accounts for it" sagt man im Englischen. Wenn statistische Signifikanz erreicht wird, dann kann man den Schluß ziehen: Nord- und Südeuropäer unterscheiden sich in ihrer Körpergröße.
Ebenso kann man es mit den anderen vermuteten Faktoren machen. Sind auch sie "Varianzquellen"? Dann sollte die Kurve noch schlanker werden, wenn man nicht nur nach Herkunft, sondern auch nach Geschlecht aufteilt; vielleicht auch noch nach Alter, denn die jüngeren Jahrgänge sind im Schnitt größer gewachsen als die Älteren.
Wenn man dann beispielsweise nur noch die Verteilung für männliche Nordeuropäer im Alter von 20 bis 30 Jahren betrachtet, dann wäre die Verteilung vielleicht so schlank wie die rote Kurve. Wir hätten dann einen großen Teil der Varianz aufgeklärt.
Je nachdem, wie stark die Varianz reduziert wird, wenn wir den einen oder den anderen Faktor berücksichtigen, können wir sagen, daß dieser Faktor soundsoviel Prozent der Varianz aufklärt. Je mehr Prozent er aufklärt, umso "stärker" wirkt dieser Faktor.
Wir haben damit - und damit zurück zum Thema! - das gemacht, was die Intelligenzforschung macht, wenn sie die Erblichkeit der Intelligenz untersucht. Ein Ergebnis könnte zum Beispiel sein, daß die Gene für ungefähr fünfzig bis achtzig Prozent der Varianz der Intelligenz verantwortlich sind; diese gemessen als IQ.
Sie verstehen jetzt, was mit einer solchen Aussage gemeint ist. Und Sie verstehen, worauf sich Thilo Sarrazin bezog, als er etwas unscharf sagte, daß "fünfzig bis achtzig Prozent der Intelligenz vererbbar" seien.
Aber stimmt das überhaupt? Und wie kann man das entscheiden? Die moderne Forschung - die Verhaltensgenetik (behavioral genetics) - hat in den vergangenen Jahrzehnten auf diesem Gebiet große Fortschritte gemacht.
Die Zwillingsmethode. Um zu wissen, ob die Herkunft aus Nord- oder Südeuropa einen Teil der Varianz in der Körpergröße der Europäer aufklärt, brauchten wir nur unsere Gesamtheit in diese beiden Teilmengen aufzuteilen.
Könnten wir nicht bei der Frage der Erblichkeit der Intelligenz ebenso verfahren? Wir messen die Intelligenz von Kindern und bilden zwei Gruppen; eine mit Eltern, deren gemessene Intelligenz hoch ist, und eine Gruppe mit Eltern von niedriger Intelligenz. Wenn sich dann die Varianz reduziert, wie in unserem Beispiel der Körpergröße, wüßten wir dann nicht, daß Intelligenz erblich ist?
Leider nein. Denn Kinder intelligenter Eltern wachsen in der Regel auch in einer günstigeren Umgebung auf als Kinder weniger intelligenter Eltern. Man sagt, der genetische Faktor und der Umweltfaktor sind "miteinander korreliert". Wenn wir einen Unterschied zwischen unseren beiden Gruppen finden - so, wie in dem Beispiel zwischen Nord- und Südeuropäern -, dann mag das an den Genen liegen oder an der Umwelt, oder an beidem. Wir können es nicht sagen.
Also muß man die beiden Faktoren irgendwie trennen. Am besten ist es, wenn man einen davon konstant halten kann, um zu sehen, wie sich dann der andere auswirkt. Im Prinzip kann man das auf zwei einander ergänzende Weisen tun:
Könnte es beispielsweise nicht sein, daß getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge doch gewisse gemeinsame Erfahrungen gemacht haben, bevor man sie trennte; vielleicht gar schon im Mutterleib? Ein triftiger Einwand, dem man aber begegnen kann, wenn man getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge mit getrennt aufgewachsenen zweieiigen Zwillingen vergleicht, die im Schnitt nur 50 Prozent ihres Erbguts gemeinsam haben.
In beiden Fällen kann es gemeinsame Erfahrungen vor der Trennung geben. Sind die eineiigen Zwillinge in ihrer Intelligenz einander dennoch ähnlicher - wird also mehr Varianz durch ihre Verwandtschaft aufgeklärt als bei zweieiigen Zwillingen -, dann spricht das für Erblichkeit der Intelligenz.
Derartige Untersuchungen sind in den vergangenen Jahrzehnten in großem Umfang und in verschiedenen Ländern durchgeführt worden. Die Ergebnisse stehen in bemerkenswert gutem Einklang miteinander: Erbanlagen sind für mindestens knapp fünfzig Prozent der Varianz der Intelligenz verantwortlich, wahrscheinlich für noch mehr.
Man spricht in dieser Forschung von Erblichkeit (heritability), wobei eine Erblichkeit von 1,0 vorliegen würde, wenn die genetischen Anlagen 100 Prozent der Varianz aufklären würden; einer Erblichkeit von 0,0 würde der Fall entsprechen, daß die Anlagen überhaupt nicht zur Intelligenz beitragen.
Die internationale Wikipedia (und bei solchen Themen ist sie stets der deutschen vorzuziehen) faßt den Stand der Forschung so zusammen:
Wie man sieht, stimmen diese Zahlen sehr gut mit dem überein, was Thilo Sarrazin geschrieben und gesagt hat. Er hat sich lediglich etwas laienhaft ausgedrückt, wenn er statt von Varianzanteilen davon sprach, daß die Intelligenz "zu 50 bis 80 Prozent vererbbar" sei.
Es bleiben noch zwei Fragen zu besprechen: Wie kommt es, daß die Erblichkeit bei Erwachsenen höher ist als bei Kindern; ein Ergebnis, das auf den ersten Blick jeder Intuition widerspricht? Und: Stimmt es, daß, wie Sarrazin in seiner Argumentation voraussetzt, Kinder aus der Unterschicht im Schnitt weniger intelligent sind als der Durchschnitt?
Wie kann man herausfinden, ob und ggf. in welchem Umfang Intelligenz erblich ist? Um das zu verstehen, müssen wir uns kurz mit dem Begriff der Varianz befassen.
Aufklärung von Varianz. Als ich im ersten Teil die Definition des IQ erläutert habe, gab es einen Link zur "Gauss'schen Glockenkurve", wie man sie umgangssprachlich gern nennt, also der Normalverteilung. Ein wesentliches Merkmal einer Normalverteilung ist ihre Varianz. Sie können sich das als ein Maß dafür vorstellen, wie schlank oder wie flach die Kurve ist. Hier sehen Sie einige Normalverteilungen mit unterschiedlicher Varianz:
Das Maß für die jeweilige Varianz σ2 ist rechts oben angegeben. Die rote Kurve zeigt eine geringe, die blaue eine große Varianz.
Wo kommt unterschiedlich große Varianz her? Nehmen wir als Beispiel die Körpergröße der Europäer und stellen wir uns vor, wir hätten sie für jeden lebenden erwachsenen Europäer zur Verfügung und würden sie als Verteilung darstellen.
Dann ergäbe sich vermutlich eine flache Verteilung, also eine Verteilung mit einer großen Varianz; sagen wir, wie in der blauen Kurve.
Warum diese große Varianz? Jemand könnte zum Beispiel vermuten, weil in dieser Gesamtheit sowohl Nordeuropäer als auch Südeuropäer sind; weil sie Frauen und Männer umfaßt, Junge und Alte.
Um diese Vermutung zu prüfen, trennt er die Daten und zeichnet einzelne Verteilungen, beispielsweise jeweils für Nord- und für Südeuropäer. Wenn seine Vermutung stimmt, dann sollte in diesen beiden neuen Verteilungen die Varianz geringer sein als für die Gesamtheit der Daten; vielleicht so, wie es die grüne Kurve zeigt.
Er hat die Varianz durch die Aufteilung reduziert; er hat einen Teil der ursprünglichen Varianz, wie man sagt, "aufgeklärt". Man kann auch sagen: Die Herkunft aus Nord- oder Südeuropa ist verantwortlich für einen Teil der ursprünglichen Varianz, "it accounts for it" sagt man im Englischen. Wenn statistische Signifikanz erreicht wird, dann kann man den Schluß ziehen: Nord- und Südeuropäer unterscheiden sich in ihrer Körpergröße.
Ebenso kann man es mit den anderen vermuteten Faktoren machen. Sind auch sie "Varianzquellen"? Dann sollte die Kurve noch schlanker werden, wenn man nicht nur nach Herkunft, sondern auch nach Geschlecht aufteilt; vielleicht auch noch nach Alter, denn die jüngeren Jahrgänge sind im Schnitt größer gewachsen als die Älteren.
Wenn man dann beispielsweise nur noch die Verteilung für männliche Nordeuropäer im Alter von 20 bis 30 Jahren betrachtet, dann wäre die Verteilung vielleicht so schlank wie die rote Kurve. Wir hätten dann einen großen Teil der Varianz aufgeklärt.
Je nachdem, wie stark die Varianz reduziert wird, wenn wir den einen oder den anderen Faktor berücksichtigen, können wir sagen, daß dieser Faktor soundsoviel Prozent der Varianz aufklärt. Je mehr Prozent er aufklärt, umso "stärker" wirkt dieser Faktor.
Wir haben damit - und damit zurück zum Thema! - das gemacht, was die Intelligenzforschung macht, wenn sie die Erblichkeit der Intelligenz untersucht. Ein Ergebnis könnte zum Beispiel sein, daß die Gene für ungefähr fünfzig bis achtzig Prozent der Varianz der Intelligenz verantwortlich sind; diese gemessen als IQ.
Sie verstehen jetzt, was mit einer solchen Aussage gemeint ist. Und Sie verstehen, worauf sich Thilo Sarrazin bezog, als er etwas unscharf sagte, daß "fünfzig bis achtzig Prozent der Intelligenz vererbbar" seien.
Aber stimmt das überhaupt? Und wie kann man das entscheiden? Die moderne Forschung - die Verhaltensgenetik (behavioral genetics) - hat in den vergangenen Jahrzehnten auf diesem Gebiet große Fortschritte gemacht.
Die Zwillingsmethode. Um zu wissen, ob die Herkunft aus Nord- oder Südeuropa einen Teil der Varianz in der Körpergröße der Europäer aufklärt, brauchten wir nur unsere Gesamtheit in diese beiden Teilmengen aufzuteilen.
Könnten wir nicht bei der Frage der Erblichkeit der Intelligenz ebenso verfahren? Wir messen die Intelligenz von Kindern und bilden zwei Gruppen; eine mit Eltern, deren gemessene Intelligenz hoch ist, und eine Gruppe mit Eltern von niedriger Intelligenz. Wenn sich dann die Varianz reduziert, wie in unserem Beispiel der Körpergröße, wüßten wir dann nicht, daß Intelligenz erblich ist?
Leider nein. Denn Kinder intelligenter Eltern wachsen in der Regel auch in einer günstigeren Umgebung auf als Kinder weniger intelligenter Eltern. Man sagt, der genetische Faktor und der Umweltfaktor sind "miteinander korreliert". Wenn wir einen Unterschied zwischen unseren beiden Gruppen finden - so, wie in dem Beispiel zwischen Nord- und Südeuropäern -, dann mag das an den Genen liegen oder an der Umwelt, oder an beidem. Wir können es nicht sagen.
Also muß man die beiden Faktoren irgendwie trennen. Am besten ist es, wenn man einen davon konstant halten kann, um zu sehen, wie sich dann der andere auswirkt. Im Prinzip kann man das auf zwei einander ergänzende Weisen tun:
Das ist eine stringente Logik. Allerdings sind bei ihrer Umsetzung in der Forschung zahlreiche Schwierigkeiten zu überwinden. Man muß da sehr sorgsam vorgehen und alle Einwände berücksichtigen.Adoptivkinder sind ihren Adoptiveltern genetisch nicht ähnlicher als beliebigen anderen Personen. Wenn ihre Intelligenz dennoch davon abhängt, in welchem Elternhaus sie aufwachsen, dann zeigt das einen Einfluß der Umwelt. Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge (die im wesentlichen genetisch identisch sind) wachsen ebenso in verschiedenen Umwelten auf wie beliebige andere Kinder. Wenn sie einander in ihrer Intelligenz dennoch ähnlicher sind als diese, dann zeigt das einen Einfluß der Vererbung.
Könnte es beispielsweise nicht sein, daß getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge doch gewisse gemeinsame Erfahrungen gemacht haben, bevor man sie trennte; vielleicht gar schon im Mutterleib? Ein triftiger Einwand, dem man aber begegnen kann, wenn man getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge mit getrennt aufgewachsenen zweieiigen Zwillingen vergleicht, die im Schnitt nur 50 Prozent ihres Erbguts gemeinsam haben.
In beiden Fällen kann es gemeinsame Erfahrungen vor der Trennung geben. Sind die eineiigen Zwillinge in ihrer Intelligenz einander dennoch ähnlicher - wird also mehr Varianz durch ihre Verwandtschaft aufgeklärt als bei zweieiigen Zwillingen -, dann spricht das für Erblichkeit der Intelligenz.
Derartige Untersuchungen sind in den vergangenen Jahrzehnten in großem Umfang und in verschiedenen Ländern durchgeführt worden. Die Ergebnisse stehen in bemerkenswert gutem Einklang miteinander: Erbanlagen sind für mindestens knapp fünfzig Prozent der Varianz der Intelligenz verantwortlich, wahrscheinlich für noch mehr.
Man spricht in dieser Forschung von Erblichkeit (heritability), wobei eine Erblichkeit von 1,0 vorliegen würde, wenn die genetischen Anlagen 100 Prozent der Varianz aufklären würden; einer Erblichkeit von 0,0 würde der Fall entsprechen, daß die Anlagen überhaupt nicht zur Intelligenz beitragen.
Die internationale Wikipedia (und bei solchen Themen ist sie stets der deutschen vorzuziehen) faßt den Stand der Forschung so zusammen:
Estimates in the academic research of the heritability of IQ have varied from below 0.5 to a high of 0.9. A 1996 statement by the American Psychological Association gave about .45 for children and about .75 during and after adolescence. A 2004 meta-analysis of reports in Current Directions in Psychological Science gave an overall estimate of around .85 for 18-year-olds and older.
In der wissenschaftlichen Forschung variieren die Schätzungen der Erblichkeit des IQ von unter 0,5 bis 0,9. Eine Erklärung der amerikanischen Psychologengesellschaft (American Psychological Association) aus dem Jahr 1996 nannte ungefähr 0,45 für Kinder und ungefähr 0,75 für Erwachsene während und nach der Adoleszenz. Eine Metaanalyse [zusammenfassende nachträgliche Analyse; Zettel] von Artikeln, die 2004 in Current Directions in Psychological Science erschien, gab einen allgemeinen Schätzwert von um 0,85 für Personen ab 18 Jahren an.
Wie man sieht, stimmen diese Zahlen sehr gut mit dem überein, was Thilo Sarrazin geschrieben und gesagt hat. Er hat sich lediglich etwas laienhaft ausgedrückt, wenn er statt von Varianzanteilen davon sprach, daß die Intelligenz "zu 50 bis 80 Prozent vererbbar" sei.
Es bleiben noch zwei Fragen zu besprechen: Wie kommt es, daß die Erblichkeit bei Erwachsenen höher ist als bei Kindern; ein Ergebnis, das auf den ersten Blick jeder Intuition widerspricht? Und: Stimmt es, daß, wie Sarrazin in seiner Argumentation voraussetzt, Kinder aus der Unterschicht im Schnitt weniger intelligent sind als der Durchschnitt?
Die Wechselwirkung von Intelligenz und Umwelt. Der Varianzanteil, der durch Vererbung aufgeklärt wird, wächst im Lauf der Kindheit und erreicht erst im Erwachsenenalter sein Maximum. Das erscheint nachgerade paradox. Sollte es nicht genau umgekehrt sein? Sollte nicht am Anfang, wenn der Mensch sozusagen noch ein von der Umwelt wenig beschriebenes Blatt ist, der genetische Einfluß groß sein, und sollte er sich nicht verringern, je mehr Erfahrungen wir machen, je mehr also die Umwelt auf uns einwirkt?
Und doch ist es genau umgekehrt - ein stabiles, immer wieder gefundenes Ergebnis. Wie kommt das? Einer der bedeutendsten gegenwärtigen Intelligenzforscher, James R. Flynn von der University of Otago, hat dafür zusammen mit seinem Koautor William T. Dickens im Jahr 2001 ein Modell vorgelegt, das er später weiterentwickelt hat und das inzwischen weithin akzeptiert wird.
Eine Zusammenfassung der Arbeit können Sie kostenlos hier lesen. Den ganzen Artikel zu kaufen würde ich nur empfehlen, wenn Sie einigermaßen sattelfest in Mathematik sind; denn der Kern des Aufsatzes ist ein mathematisches Modell. Überhaupt ist die Intelligenzforschung ja hochgradig mathematisiert.
Ein mathematisches Modell wovon? Von der komplexen Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt. Dickens und Flynn argumentieren, daß der Einzelne sich, je mehr er heranwächst, seine Umwelt immer mehr selbst aussucht. (Jedenfalls gilt das in einer freien Gesellschaft wie den USA). Wer intelligent ist, der sucht sich eine stimulierende, seine Intelligenz fördernde Umwelt aus. Wer weniger intelligent ist, der wählt eine entsprechend schlichtere Umwelt.
Dazu gehört vor allem auch die soziale Umwelt. Man sucht sich seine Freunde und Bekannten so aus, daß sie in ihrer Intelligenz zu einem passen. So entsteht bei Intelligenten eine positive Rückkopplung: Wer da hat, dem wird gegeben, schreiben die Autoren. Der Intelligente sorgt dafür, daß er noch intelligenter wird, indem er sich die passenden sozialen Kontakte, den passenden Lesestoff, überhaupt die passenden Erfahrungen verschafft.
Das bedeutet, daß die hohe Erblichkeit von Intelligenz, ausgedrückt in dem Varianzanteil von bis zu mehr als 80 Prozent, nicht allein ein biologisches Phänomen ist. Es handelt sich um eine Wechselwirkung von Anlage und Umwelt. Der reine Effekt der Anlage dürfte eher bei dem Varianzanteil liegen, der bei Kindern durch ihre Erbanlagen aufgeklärt wird, also bei knapp unter 50 Prozent.
Das hat Sarrazin bei dem, was er sagt und offenbar auch geschrieben hat, nicht berücksichtigt. Es ist freilich auch schon recht speziell; er hätte gut daran getan, solche Aussagen von einem Fachmann gegenlesen zu lassen.
An seinen Folgerungen ändert das aber nichts. Denn auch dann, wenn der hohe Varianzanteil, der durch die Erbanlagen aufgeklärt wird, durch deren Wechselwirkung mit der Umwelt zustandekommt, ist das eben doch nur möglich, weil es zunächst einmal genetische Unterschiede gibt. Und die fast 50 Prozent durch Erbanlagen aufgeklärte Varianz bei Kindern sind ja auch schon ein sehr hoher Wert.
Und wie ist es mit der geringeren Intelligenz in der Unterschicht? Hier gibt es gar keinen Zweifel: Angehörige der Unterschicht haben - im Durchschnitt, immer nur im Durchschnitt, wir leben hier in einer Welt der Statistik - eine niedrigere Intelligenz als Angehörige der Mittel- und der Oberschicht. Neuere Überblicksartikel dazu können Sie zum Beispiel hier und hier finden.
In dem "Zeit"-Interview von vor einer Woche sagte Sarrazin:
Die Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich. Die weniger Intelligenten vermehren sich schneller als der Durchschnitt. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Intelligenz der Grundgesamtheit sinkt.Der Mann hat Recht, auch hier.
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