9. September 2010

Marginalie: Ein Blick in Sarrazins Buch. Erste Eindrücke. Und jetzt gibt es auch endlich eine erste Meinungsumfrage

Gestern habe ich Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" bekommen. Ein Exemplar der vierten Auflage, obwohl ich noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin am 30. August bestellt hatte.

Das Buch hat 463 Seiten. Zieht man die Titelseite, die Anmerkungen, das Personen- und das Sachregister sowie den tabellarischen Anhang ab, dann verbleiben 402 Seiten Text.

Ich lese ziemlich schnell. Für eine Seite dieses Buchs brauche ich ungefähr 55 Sekunden.

Für 402 Seiten sind das rund 6 1/4 Stunden, wenn man ohne Pause liest, ohne sich die Tabellen und Abbildungen anzusehen, ohne auch nur eine einzige der 534 Anmerkungen und Belegstellen nachzuschlagen, ohne den tabellarischen Anhang zur Kenntnis zu nehmen.

Tut man das alles so, wie es sich gehört, bevor man über ein Buch urteilt; klappt man es vielleicht auch einmal für einen Augenblick zu, um nachzudenken und sich Notizen zu machen, dann dürfte sich leicht die doppelte Lesezeit ergeben, also rund 12 Stunden, das Eineinhalbfache eines Standard-Arbeitstags.

Damit können Sie sich eine Vorstellung davon machen, was von den Aussagen derer zu halten ist, die kurz nach dem Erscheinen der ersten Auflage verkündeten, sie hätten "das Buch gelesen". Besonders emphatisch hat das Michel Friedman am Mittwoch vergangener Woche bei Plasberg vorgetragen und sich theatralisch empört, als Sarrazin es zu bezweifeln wagte.



Und sonst? Ein fundiertes Urteil kann ich erst abgeben, wenn ich das Buch ganz gelesen habe, also in etlichen Tagen. Mein erster Eindruck ist:
  • Für ein Sachbuch, das sich an ein breites Publikum wendet, ist dieses Buch ganz ungewöhnlich wissenschaftlich. Jede Behauptung, jedes Zitat wird im Anhang belegt, was bei solchen Büchern alles andere als selbstveständlich ist. Es gibt zahlreiche Tabellen und Abbildungen sowie den tabellarischen Anhang mit Sarrazins Modellrechnung zur demographischen Entwicklung, deren Annahmen (Parameterwerte) präzise offengelegt werden. Man hätte das gern immer so.

  • Der Autor argumentiert sachlich und geht immer wieder auf Einwände und Alternativen zu seiner Analyse ein. Im Nachwort schreibt er:
    In den letzten Jahren habe ich wiederholt erfahren, welche Empfindlichkeiten manche Punkte wecken, die ich anspreche. Ich habe versucht, Zuspruch und Widerspruch produktiv umzusetzen, und äußere hier meine persönlichen Ansichten, unabhängig von beruflichen Tätigkeiten. Es schadet nicht, die eigene gefestigte Meinung immer wieder in Frage zu stellen, denn in der Weite der sozialen Wirklichkeit gibt es nur wenige endgültige und abschließende Antworten.
  • Das Hauptthema des Buchs ist nicht Zuwanderung und Integration. Damit befaßt sich nur eines von neun Kapiteln auf 75 der 402 Textseiten.

  • Ein Hauptthema hingegen, das offenbar den ganzen Text durchzieht, ist die Eigenverantwortung des Menschen. Sarrazin sieht darin - vor allem in der Chance, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen - ein wesentliches Moment des Lebensglücks:
    Es ist in erster Linie gar nicht so wichtig, was man arbeitet und was man dafür bekommt. Entscheidend für das Selbstgefühl und für die persönliche Zufriedenheit ist das Bewusstsein, den eigenen Unterhalt und den der Familie bestreiten zu können, und der Zwang zur disziplinierten Lebensführung, der sich aus regelmäßigen Pflichten und einem durch sie strukturierten Tageslauf ergibt. (S. 154)
  • Das sind erste Eindrücke beim Blättern in dem Buch; beim "Anlesen". Wenn ich das Buch gelesen habe, wird es noch eine gründlichere Besprechung geben. Aber schon jetzt glaube ich das sagen zu können, was man gelegentlich am Ende von Buchrezensionen und als deren Fazit liest: "Ein Buch, dem man viele Leser wünscht".

    Dieser Wunsch ist hier freilich kaum vonnöten. Der Verlag peilt im Augenblick eine Gesamtauflage von einer Viertelmillion Exemplaren an.



    Und noch dies: Ich hatte am Montag darauf aufmerksam gemacht, daß es noch immer keine Umfrage gibt, die schlicht danach fragt, ob man mit Sarrazin einverstanden ist. Jetzt endlich hat Forsa das gemacht. Das Ergebnis faßt ntv so zusammen:
    70 Prozent stimmen Sarrazin zu

    Insgesamt finden Sarrazins Thesen in der Bevölkerung wenig Widerspruch. Gefragt, wie sie alles in allem Sarrazins Äußerungen bewerten, sagten 61 Prozent, sie stimmten ihnen teilweise zu, 9 Prozent teilten sie sogar ganz. 22 Prozent erklärten, Sarrazins Ansichten seien inakzeptabel. 8 Prozent hatten keine Meinung dazu.
    Es ist also nur eine Minderheit von weniger als einem Viertel der Deutschen, die Sarrazin so beurteilt wie die nahezu geschlossene Phalanx von Spitzenpolitikern und führenden Medien. Besser läßt sich die Kluft, die sich in Deutschland zwischen der Meinungselite und der Bevölkerung aufgetan hat, kaum illustrieren.

    Und sie hat ja auch eine positive Seite, diese Kluft:

    Seit mehr als zwei Wochen werden wir Deutschen nun einem Trommelfeuer schärfster, oft im Wortsinn vernichtender Kritik an Sarrazin ausgesetzt (zu Ausnahmen siehe hier). Und das Ergebnis? Diese geballte Agitation und Propaganda stößt offensichtlich auf taube Ohren. Das Volk erlaubt sich in seiner großen Mehrheit, denjenigen, die es belehren und führen wollen, trotzig nicht zu glauben.

    Das Volk ist nicht tümlich, hat Brecht geschrieben. Das Volk ist auch nicht dümmlich.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.