27. September 2010

Marginalie: Noch nie hatte sich ein Jahr nach einer Wahl die Parteienlandschaft so grundlegend verändert wie jetzt. Versuch einer Erklärung

Heute vor einem Jahr haben wir den 17. deutschen Bundestag gewählt. Seither hat sich die deutsche Parteienlandschaft so stark verändert wie noch nie innerhalb eines Jahres nach nationalen Wahlen.

2009 erreichte die FDP mit 14,6 Prozent ihr bestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik, und die Grünen landeten weit dahinter bei 10,7 Prozent. Nach den aktuellen Umfragen liegt die FDP noch zwischen 5 und 6,5 Prozent und ist damit auf ein Drittel bis weniger als die Hälfte ihres damaligen Stimmenanteils abgestürzt; während die Grünen auf 17 bis 20 Prozent geklettert sind. Forsa meldet für sie gar 24 Prozent. Sie haben ihren Anteil also nahezu verdoppelt.

Gewiß, gewiß: Wir alle haben das im Ohr, was zum Beispiel Helmut Kohl nicht müde wurde zu sagen: Es geht am Ende um Stimmen, nicht Stimmungen. Und doch, solch eine gewaltige Verwerfung innerhalb eines Jahres bedarf der Erklärung.

Drei Erklärungen können leicht ausgeschieden werden:
  • Es kann nicht an soziologischen Faktoren liegen wie zum Beispiel einer "Verbürgerlichung" der Grünen oder einem Schrumpfen der bürgerlich-liberalen Wählerschichten. Das mag stattfinden; aber es vollzöge sich dann nicht in einem solchen Tempo wie die jetzige Veränderung der Umfragewerte.

  • Personalien scheiden ebenso aus. Weder die Grünen noch die FDP haben im vergangenen Jahr ihre Spitzenleute ausgetauscht. Die Grünen werden von vier alten Bekannten geführt - Künast, Trittin, Roth und Özdemir. An der Spitze der FDP steht weiter jener Guido Westerwelle, dem vor einem Jahr zu Recht ein großer Anteil an dem grandiosen Wahlerfolg attribuiert wurde. Sofern es überhaupt bei der FDP personell Bewegung gegeben hat, sollte sie dem Image der Partei gedient haben: Mit dem neuen Generalsekretär Christian Lindner ist ein Mann mit positiver medialer Wirkung in die Führungsspitze aufgerückt.

  • Auch programmatisch hat sich keine der beiden Parteien im letzten Jahr wesentlich verändert. Die Grünen - die am meisten rückwärtsgewandte Partei Deutschlands - sagen immer noch exakt das, was sie schon vor fünf, zehn, vor zwanzig Jahren gesagt haben. Die FDP steht weiter zu dem, was sie im Wahlkampf propagierte und in den Koalitionsvertrag hat hineinschreiben können.
  • Gewiß, in der Regierung lief in diesem Jahr nicht alles rund, und Guido Westerwelle hat bisher als Außenminister nicht überzeugt. Aber so etwas läßt eine Partei nicht auf fast ein Drittel schrumpfen; und den Höhenflug der Grünen erklärt es schon gar nicht.



    Da diese naheliegenden Erklärungen somit untauglich erscheinen, möchte ich es mit einer anderen These versuchen. Sie ist spekulativ; ich kann überhaupt keine Daten nennen, die sie stützen würden. Und als wenn das nicht genug wäre, ist sie auch noch psychologisierend.

    Mir scheint, daß wir Deutschen uns in unserem politischen Denken zwischen zwei Polen bewegen:

    Wir sind auf der einen Seite Pragmatiker. Wir hängen keinen politischen Utopien an; so, wie das nicht wenige Franzosen tun. Unsere Gewerkschaften stellen selten unerfüllbare Forderungen; unsere Unternehmer lassen mit sich reden.

    Wir mögen den ruhigen, gesetzten, vorsichtigen Politiker. Darum haben wir Konrad Adenauer gewählt, Helmut Schmidt und jetzt Angela Merkel. Da weiß man, was man hat. "Keine Experimente"; damit hat Adenauer 1953 die absolute Mehrheit geholt.

    Aber in uns so pragmatischen Deutschen lauert doch auch etwas Anderes; nennen wir es eine Mischung aus Romantik und Hedonismus.

    Wir haben ein sentimentales Verhältnis zur Natur wie sonst kaum ein Volk auf der Welt. Wandernden Kröten gilt in Deutschland mehr Aufmerksamkeit als schlechten Schulen.

    Und wir haben einen Hang zum Genießen. Nicht auf die lässige Art der Franzosen oder die verspielte der Italiener. Sondern wir Deutschen "leisten" uns - schönes Wort in diesem Zusammenhang - gern etwas Gutes. Wir sind nicht zufällig Weltmeister im Reisen. Lustbarkeiten wie der Kölner Karneval oder jetzt das Münchner Oktoberfest rangieren höher als jeder kirchliche Feiertag.

    Wie bringen wir sie zusammen, diese beiden Seelen in unserer nationalen Brust? Indem wir mal der einen und mal der anderen das Regiment anvertrauen. Auch in der Politik.

    Wenn wir eine Krise spüren, dann sind wir die nüchternen, pragmatischen Deutschen. Dann wählen wir nach Kompetenz; also Adenauer oder Schmidt oder Merkel.

    Dann wählen wir eine Partei wie die FDP, die etwas von der Wirtschaft versteht. Die auf dem Boden der Realität steht; die vor den letzten Wahlen ankündigte, mittels Steuersenkungen die Konjunktur wieder zum Laufen zu bringen (oder die Pferde wieder zum Saufen, wie der Wirtschaftsminister Karl Schiller das einst nannte).

    Wenn wir dann aber raus sind aus der Krise, wenn die Furcht verflogen ist - dann bricht in uns wieder der Romantiker und der Hedonist hervor. Dann wollen wir Gutes tun und uns an etwas Gutem regalieren.

    Dann empfinden wir eine innere Zustimmung zu der Partei, die beides verkörpert: Den sinnlichen Genuß (wir denken an Joschka Fischer und den unvergeßlichen Rezzo Schlauch, beispielsweise), aber auch die romantische Verklärung, bis hinein in Vorstellung, daß sogar Energie "sauber" zu sein hat und die Energiewirtschaft irgendwie "sanft". Die Lust und die Romantik - niemand verkörpert das so rein wie Claudia Roth, die Trash-Version der Evita Perón.

    Vor einem Jahr lebten wir noch in der Angst, die Rezession könne doch noch nicht ausgestanden sein; das dicke Ende könne vielleicht gar noch bevorstehen. Das war die Stunde der FDP. Jetzt weisen alle Indikatoren nach oben. Jetzt können wir wieder romantisch und hedonistisch sein; also Sympathisanten oder gar Wähler der Grünen.



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