7. September 2010

Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (3): Teilen alle Juden ein bestimmtes Gen? - Teil 2: Der Stand der Forschung

Die Frage, ob - wie Thilo Sarrazin es gesagt hat - "alle Juden ein bestimmtes Gen teilen", gehört in das Gebiet der Populationsgenetik. Im ersten Teil dieser Folge habe ich mich deshalb mit den Grundlagen der Populationsgenetik befaßt. Auf das dort Gesagte beziehe ich mich jetzt, um die Frage zu beantworten, ob Sarrazin Recht hat. Zunächst: Um welche Population geht es?

Was sind "die Juden"? Ein Volk? Nur Angehörige einer Religion? Gar eine "Rasse", wie die Nazis behaupteten?

"Rasse" können wir mit einem Satz erledigen: Es gibt genetisch keine Menschenrassen, also gibt es auch keine "jüdische Rasse". Das ist unwissenschaftliches, rassistisches Gerede.

Aber wie steht es mit "Volk" und "Religion"? Das sind keine Gegensätze. In der Jewish Virtual Library beantwortet Rebecca Weiner die Frage, wer Jude sei, so: "Judaism is considered to be both a religion and a nation/culture"; das Judentum werde als zugleich eine Religion und eine Nation/Kultur verstanden. Und die Wikipedia schreibt:
Judaism shares some of the characteristics of a nation, an ethnicity, a religion, and a culture, making the definition of who is a Jew vary slightly depending on whether a religious or national approach to identity is used. Generally, in modern secular usage, Jews include three groups: people who were born to a Jewish family regardless of whether or not they follow the religion; those who have some Jewish ancestral background or lineage (sometimes including those who do not have strictly matrilineal descent); and people without any Jewish ancestral background or lineage who have formally converted to Judaism and therefore are followers of the religion.

Das Judentum umfaßt gewisse Merkmale einer Nation, einer Ethnizität, einer Religion und einer Kultur. Dadurch variiert die Definition, wer Jude ist, leicht - je nachdem, ob man die Identität eher religiös oder eher national sieht. Allgemein umfassen im modernen säkularen Wortgebrauch Juden drei Gruppen: Menschen, die in einer jüdischen Familie geboren sind, unabhängig davon, ob sie die Religion praktizieren oder nicht; diejenigen, die eine jüdische Abstammung, also jüdische Vorfahren haben (manchmal einschließlich derer, bei denen die Abstammung nicht nur mütterlicherseits ist); und Menschen ohne jüdische Vorfahren, also jüdische Abstammung, die formell zum Judentum konvertiert sind und Anhänger dieser Religion sind.
Die Kritik an Sarrazin, die darauf Bezug nimmt, daß zum Judentum Konvertierte doch damit ihre Gene nicht ändern, läuft also ins Leere. Gudrun Eussner zitiert dazu den deutsch-israelischen Schriftsteller Chaim Noll:
Nach der Halacha [der rechtlichen Überlieferung des Judentums; Zettel] ist Judesein zum Teil genetisch definiert, indem nämlich jedes Kind einer jüdischen Mutter - im Judentum zählt traditionell die mütterliche Linie - als jüdisch gilt. Daneben gibt es eine zweite Definition des Judeseins, über Konversion oder Annahme der jüdischen Religion. Die genetische und die konfessionelle Definition bestehen seit Jahrhunderten nebeneinander. (...) Jeder Jeschiwa-Schüler [Schüler einer Talmudschule; Zettel] hätte ... den Sachverhalt - der in Israel der staatlichen Gesetzgebung zugrunde liegt - erklären können.
Wenn ich jetzt Sarrazins Behauptung unter die Lupe nehme, dann bezieht sich das selbstverständlich - und natürlich hat es auch Sarrazin so gemeint - nur auf die genetische Definition.



Die Wechselwirkung zwischen Religion und Genetik. Seit einigen Jahrzehnten befaßt sich die Populationsgenetik besonders eingehend mit der Bevölkerungsgruppe der Juden. Zu den Gründen für dieses Interesse gehört die Besonderheit, ja Einmaligkeit dieser Bevölkerungsgruppe: Sie hat sich einerseits seit der Antike durch Wanderungsbewegungen in verschiedene Teile der Welt ausgebreitet, dabei andererseits aber ihre religiöse Zusammengehörigkeit bewahrt.

In seiner Monographie "The faith instinct" (Der Glaubensinstinkt) beschreibt Nicholas Wade die Wechselwirkung zwischen Religion und Genetik in der Geschichte der Menschheit: Die Religion entstand - so Wades These - vor etlichen zehntausend Jahren in Gruppen von Jägern und Sammlern. Die gemeinsame Religion (die Riten, die Tänze und das Singen, die miteinander geteilten Überzeugungen) schuf eine Bindung zwischen den Mitgliedern der Gruppe und bot dieser damit einen evolutionären Vorteil.

Ob Wades These nun stimmt oder nicht - jedenfalls waren Religionen bis zur Entstehung und der Ausbreitung der heutigen Weltreligionen an bestimmte Bevölkerungen und deren Kultur gebunden. Die Ägypter hatten ihre eigene Religion, die Karthager, die Griechen; und eben auch die Juden.

Religion war etwas Nationales, nicht etwas Universelles. Das änderte sich mit der Ausbreitung des Christentums und dann des Islam (und früher schon in Asien mit derjenigen vor allem des Buddhismus). Die Besonderheit des Judentums war und ist es, daß es die ursprüngliche enge Verbindung von Kultur, Ethnizität und Religion bewahrt hat.

Das unter anderem macht es für die Populationsgenetiker spannend, die genetische Verwandtschaft zwischen Juden in verschiedenen Gegenden der Diaspora zu untersuchen.

Was mit "genetischer Verwandtschaft" gemeint ist, habe ich im ersten Teil erläutert: Untersucht wird das Ausmaß, in dem es eine Übereinstimmung bei Allelen gibt. Eine besondere Rolle spielen dabei die genetischen Marker. Analysiert werden hierbei auf dem Y-Chromosom Gruppen von Allelen, die gemeinsam vererbt werden, sogenannte Haplotypen. Mit den heutigen automatisierten Methoden kann aber auch das gesamte Genom analysiert werden.

Eine der ersten umfangreichen Untersuchungen zum Genom von in der Diaspora lebenden Juden erschien vor zehn Jahren in den amerikanischen Proceedings of the National Academy of Sciences; an ihr waren Forschungsgruppen in den USA, Israel, England, Italien und Südafrika beteiligt.

Untersucht wurden jüdische Populationen im Nahen Osten, in Nordafrika, im Mittelmeerraum und in Mittel- und Nordeuropa sowie nichtjüdische Vergleichspopulationen aus denselben Gebiet; insgesamt 1.371 Männer. Würden die weit voneinander entfernt lebenden jüdischen Populationen den nichtjüdischen Bevölkerungen ihrer Siedlungsgebiete ähnlich sein, oder würde die Ähnlichkeit mit den anderen jüdischen Populationen überwiegen? Die Autoren fassen ihre Ergebnisse so zusammen:
Despite their long-term residence in different countries and isolation from one another, most Jewish populations were not significantly different from one another at the genetic level. (...) The results support the hypothesis that the paternal gene pools of Jewish communities from Europe, North Africa, and the Middle East descended from a common Middle Eastern ancestral population, and suggest that most Jewish communities have remained relatively isolated from neighboring non-Jewish communities during and after the Diaspora.

Trotz ihrer langen Ansässigkeit in verschiedenen Ländern und der Isolierung voneinander unterschieden sich die meisten jüdischen Populationen auf der genetischen Ebene nicht signifikant voneinander. (...) Die Ergebnisse stützen die Hypothese, daß die paternalen [vom Vater an den Sohn weitergegebenen; Zettel] Genpools jüdischer Bevölkerungsgruppen aus Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten auf eine gemeinsame Population von Vorfahren im Nahen Osten zurückgehen, und sie deuten darauf hin, daß die meisten jüdischen Gemeinschaften während und nach der Diaspora von den nichtjüdischen Gemeinschaften in ihrer Nachbarschaft relativ isoliert geblieben sind.
Im vergangenen Jahrzehnt sind etlich weitere Untersuchungen publiziert worden, die diese Folgerungen bestätigen. Anders als in den älteren Forschungsarbeiten wurden dabei nicht nur bestimmte genetische Marker untersucht, sondern es wurden die gesamten Genome (also, wie Sie jetzt wissen, die Allele) untersucht.

Die beiden aktuellsten publizierten Arbeiten sind diejenige von Gil Atzmon, Harry Ostrer und amerikanischen sowie israelischen Koautoren in der Ausgabe vom Juni 2010 des American Journal of Human Genetics sowie eine Arbeit eines großen internationalen Teams unter Leitung von Doron M. Behar und Karl Skorecki von der Universität Haifa (Israel), die Anfang Juli in Nature erschien.

Aus der Zusammenfassung der Publikation im American Journal of Human Genetics:
... genome-wide analysis of seven Jewish groups (Iranian, Iraqi, Syrian, Italian, Turkish, Greek, and Ashkenazi) and comparison with non-Jewish groups demonstrated distinctive Jewish population clusters, each with shared Middle Eastern ancestry, proximity to contemporary Middle Eastern populations, and variable degrees of European and North African admixture.

Eine das ganze Genom umfassende Analyse von sieben jüdischen Bevölkerungsgruppen (iranisch, irakisch, syrisch, italienisch, türkisch, griechisch und aschkenasisch) und der Vergleich mit nichtjüdischen Gruppen wies für die jüdischen Populationen kennzeichnende Merkmalsgruppen nach, alle zurückgehend auf gemeinsame Vorfahren im Nahen Osten, mit Nähe zu heutigen Populationen im Nahen Osten und mit unterschiedlichen weiteren Anteilen aus Europa und Afrika.
Die zweite Autorengruppe untersuchte noch zahlreichere Stichproben; insgesamt 14 jüdische Bevölkerungsgruppen und 69 nichtjüdische aus deren Nachbarschaft:
These samples were carefully chosen to provide comprehensive comparisons between Jewish and non-Jewish populations in the Diaspora, as well as with non-Jewish populations from the Middle East and north Africa. (...) Most Jewish samples form a remarkably tight subcluster (...) These results cast light on the variegated genetic architecture of the Middle East, and trace the origins of most Jewish Diaspora communities to the Levant.

Diese Stichproben wurden sorgsam so ausgewählt, daß sie umfassende Vergleiche zwischen den jüdischen und den nichtjüdischen Populationen in der Diaspora ermöglichten; desgleichen mit nichtjüdischen Populationen aus dem Nahen Osten und Nordafrika. (...) Die meisten jüdischen Stichproben bildeten eine bemerkenswert eng zusammenhängende Untergruppe (...) Diese Ergebnisse beleuchten die vielfältige genetische Architektur des Nahen Ostens und erlauben es, die Ursprünge der jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora bis in die Levante [den östlichen Mittelmeerraum; Zettel] zurückzuverfolgen.
Allerdings trifft dieses Muster nicht auf alle jüdischen Gemeinschaften zu. Äthiopische Juden (Beta-Juden) und indische Juden (Bene Israel und Cochini) weisen zwar auch eine genetische Linie in die Levante auf, zeigen aber eine größere genetische Übereinstimmungen mit der benachbarten nichtjüdischen Bevölkerung.

Falls Sie sich für die Einzelheiten dieser Untersuchungen interessieren, empfehle ich den kompetenten Artikel von Nicholas Wade in der New York Times vom 9. Juni. Wenn Sie lieber einen kürzeren Artikel auf Deutsch lesen wollen, finden Sie die beste mir bekannte Zusammenfassung in der "Jüdischen Allgemeinen" vom 17. Juni.



Zurück zu Thilo Sarrazin.

Den Satz, den man ihm vorwirft - "Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen" -, hat er auf eine Frage der Interviewer von "Welt am Sonntag" hin gesagt. In seinem Buch kommt dieses Thema gar nicht vor.

Im Rückblick meint Sarrazin - man kann das im aktuellen "Spiegel" (36/2010, S. 30) lesen -, daß er beim Gegenlesen des Textes nach einem anstrengenden Tag, der ihn an seine Leistungsgrenze gebracht habe, die Brisanz dieses Satzes nicht erkannte und das Interview dadurch autorisiert habe.

Sie wissen jetzt, lieber Leser, wie dieser Satz Sarrazins zu beurteilen ist: Er bezieht sich auf einen Sachverhalt, der wissenschaftlich ausgesprochen gut gesichert ist, nämlich eine hohe genetische Übereinstimmung zwischen jüdischen Bevölkerungsgruppen, unabhängig davon, wo sie in der Diaspora leben. Im Kern hat Sarrazin also Recht.

Aber wie im Fall der Erblichkeit von Intelligenz hat er diesen wissenschaftlichen Sachverhalt in einer laienhaften, vereinfachenden Formulierung gefaßt. Er gilt nicht für "alle" Juden, sondern nur für erstaunlich viele. Und es geht nicht um "ein Gen", sondern um die Genmarker in den älteren und um die Allele des gesamten Genoms in den neueren Untersuchungen.

Daß Laien sich zu wissenschaftlichen Themen in dieser Weise unpräzise äußern, ist das Übliche. Man wirft ihnen das nicht vor, wenn das Gemeinte im Kern stimmt.

Aber Sarrazin hat man diesen einen Satz nicht nur vorgeworfen, sondern man hat ihn absurderweise zum Antisemiten und Rassisten gestempelt.

Lesen Sie einmal, was beispielsweise die Vorsitzende der Partei "Die Grünen" Claudia Roth, was aber auch Vizekanzler Westerwelle an Diffamierendem über Thilo Sarrazin gesagt hat, nur weil er sich auf internationale, zu einem erheblichen Teil israelische Forschung bezog.

Dann bekommen Sie einen Eindruck davon, wie bestürzend kenntnislos Politiker bei wissenschaftlichen Themen sind, die gleichwohl das Recht für sich in Anspruch nehmen, andere mit beleidigenden Äußerungen zu überziehen.



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Nachtrag am 17. September: Erst jetzt bin ich auf eine Erklärung von Thilo Sarrazin bereits vom 30. August aufmerksam gemacht worden, die - wieder einmal, wir kennen das ja bereits von den Umfragewerten - von den Leitmedien weitgehend ignoriert wurde. Überhaupt nur zwei Zeitungen haben sie dokumentiert, nämlich die FAZ und die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA).

In dieser Erklärung - abgegeben einen Tag nach dem Interview mit "Welt am Sonntag" - beschreibt Sarrazin seine Auffassung genau so, wie ich den Stand der Forschung dargestellt habe. Bis heute wird er aber mit der Behauptung von "einem Juden-Gen" zitiert. Sarrazins Erklärung vom 30. August:
Eine Interview-Äußerung von mir vom 29. August 2010 hat für Irritationen und Missverständnisse gesorgt, die ich bedauere. Als ich sagte, dass "alle Juden ein bestimmtes Gen teilen", habe ich mich nicht hinreichend präzise ausgedrückt.

Ich bezog mich mit meiner Äußerung - wegen der Interviewsituation leider verkürzt - auf neuere Forschungen aus den USA. Ich bin kein Genetiker. Aber ich habe zur Kenntnis genommen: Aktuelle Studien legen nahe, dass es in höherem Maße gemeinsame genetische Wurzeln heute lebender Juden gibt, als man bisher für möglich hielt.

Damit ist keinerlei Werturteil verbunden, damit ist auch nichts über eine wie auch immer zu verstehende "jüdische Identität" ausgesagt. Die Frage, was aus möglichen genetischen Übereinstimmungen von Bevölkerungsgruppen zu schließen ist, ist vollkommen offen. Entscheidend für politische und wirtschaftliche Sachverhalte, die im Zentrum meines Buches stehen, sind kulturelle Faktoren.

Über diese Forschungsergebnisse hatte ich im Berliner "Tagesspiegel" gelesen, davor hatte die New York Times darüber berichtet - und viele andere Medien auch. Die beiden von einander unabhängigen Studien wurden in den renommierten Fachzeitschriften "Nature" und "American Journal of Human Genetics" im Juni 2010 veröffentlicht.

Wenn neue genetische Forschungen zeigen, dass viele heutige Juden zahlreiche Gene von einer ursprünglichen jüdischen Bevölkerungsgruppe, die vor etwa 3000 Jahren im Nahen Osten lebte, gemeinsam haben, ist das zunächst einmal interessant. Politisch ist diese These neutral. Um eine rassistische Äußerung handelt es sich nicht.

Thilo Sarrazin



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Nina unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Mit Dank an C. und an Werner Stenzig. Für den Hinweis auf die Dokumentation der HNA danke ich Sänger.