19. September 2010

Sarrazin: Gibt es jetzt doch noch eine Diskussion? Nebst einem (fast) unbekannten Dokument zum "Juden-Gen"

Wie bitte, werden Sie sagen - "doch noch" eine Diskussion? Diese Diskussion läuft doch seit fast vier Wochen; nämlich seit Montag, dem 23. August, als Sarrazins Essay - der Auszug aus seinem Buch - im "Spiegel" erschienen war. Und ist das denn nicht inzwischen eine der heftigsten Diskussionen, die unser Land jemals erlebt hat?

Ja, gewiß. Aber es ist auch eine der seltsamsten. Im Grunde eine Nicht-Diskussion. Die Verweigerung der Debatte, getarnt als Dauerdebatte. Der unisono angestimmte Chor dort, wo Polyphonie angezeigt wäre.

Diskutiert wird Sarrazins Buch so, als sei dessen Autor nicht unter den Lebenden; oder als sei er ein Mensch fremder Zunge, ansässig am anderen Ende der Welt. Aber Thilo Sarrazin ist ja nun ein lebender Autor, ein in diesem Land lebender, ein streitbarer und zur Stellungnahme bereiter Autor.

Er wird massiv angegriffen, aber man vernimmt kaum Abwehrendes von ihm; kaum Gegenkritik, eine Richtigstellung. Eigenartig, nicht wahr? Unerhört in unserem Kulturbetrieb, der doch vom Streit der Meinungen lebt. In dem es von "Kontroversen" nur so wimmelt. In dem Angegriffenen selbstverständlich Gelegenheit gegeben wird, in Entgegnungen ihre eigene Sicht darzulegen.

Zu Sarrazins Buch erschienen zahlreiche Kommentare; in fast jeder größeren Zeitung und politischen Wochenschrift. Sarrazin wurde und wird so massiv kritisiert wie kaum je ein deutscher Erfolgsautor. Aber wo konnte man seine Entgegnungen lesen?

Welche Gelegenheiten hatte dieser Autor eines Bestsellers (Nummer 1 bei Amazon; jetzt in der zweiten Woche an der Spitze der Sachbücher auf der "Spiegel"-Bestsellerliste), sich in den Medien gegen Kritik zu wehren, falsche Behauptungen richtigzustellen, seine Sicht auch nur annähernd so ausführlich darzulegen, wie das seine Kritiker tun können?

Auf zwei Ausnahmen, vielleicht überhaupt eine neue Situation, werde ich kommen. Zunächst aber ein Rückblick auf die bisherige Nicht-Diskussion in unserer vom Mehltau überzogenen Medienlandschaft.



Sarrazin wurde in der Woche nach der offiziellen Vorstellung seines Buchs zu zwei Talkshows eingeladen. In der ersten - "Beckmann" am 30. August - veranstalteten sämtliche anderen Talkgäste unter Anleitung des Moderators so etwas wie ein konzertiertes rhetorisches Dauerbombardement gegen Sarrazin.

Die zweite - "Hart aber fair" am 1. September - machte ihrem Namen Ehre, was die Härte anging. Fairer als "Beckmann" war sie auch, was freilich kein Kunststück darstellte.

Es gab sodann in den Printmedien einige wenige Interviews mit Thilo Sarrazin.

Eines der ersten, das in der "Zeit" vom 26. August erschien, wurde von den beiden Interviewern derart aggressiv geführt, daß die Redaktion dies zu rechtfertigen trachtete, indem sie ihm den Namen "Streitgespräch" gab.

Sodann gab es am 29. August das Interview mit "Welt am Sonntag", in dem Sarrazin den Satz von dem Gen sagte, das alle Juden teilten; den Satz, der ihm seither um die Ohren geschlagen wird.

Und an diesem Satz sehen Sie, wie seltsam, wie beunruhigend seltsam diese Diskussion verläuft. Nein, "seltsam" ist ein Euphemismus. "Skandalös" dürfte es besser treffen.



Was Sie jetzt lesen, werden Sie vielleicht nicht glauben. Es ist aber so:

Natürlich war auch Thilo Sarrazin schnell klar, daß seine Formulierung von "einem jüdischen Gen" unpräzise gewesen war und es denjenigen, die ihn diffamieren wollten, leicht machte, ihn als "Rassisten" hinzustellen oder des Antisemitismus zu verdächtigen. Er hat später gesagt, daß er am Abend eines anstrengenden Tags, der ihn an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht habe, die Brisanz dieses Satzes nicht erkannt und dadurch das Interview autorisiert habe.

Also verfaßte Sarrazin umgehend eine Erklärung, in der er seine Aussage präzisierte und sie mit aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen belegte. Diese Korrektur wurde bereits am Tag nach Erscheinen des Interviews von seinem Verlag, der Deutschen Verlagsanstalt, verbreitet; also am Montag, dem 30. August.

Hand aufs Herz: Haben Sie jemals von dieser Korrektur Sarrazins erfahren, durch welche alle die anschließenden Vorwürfe des Biologismus, des Antisemitismus, des Rassismus hinfällig geworden waren?

Mir war sie entgangen, obwohl ich das Thema eingehend verfolge und für meine Artikel immer wieder recherchiert habe. Erst vorgestern bin ich darauf aufmerksam geworden, und zwar durch diesen Beitrag von Sänger in Zettels kleinem Zimmer. Sein Link führte zur Internetausgabe der "Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen", und dort fand ich die Erklärung Sarrazins vom 30. August; verbreitet durch dpa. Also so gut wie allen Zeitungen und Wochenschriften zugegangen.

Ich habe daraufhin zunächst einen Nachtrag zum zweiten Teil meines Artikels zur Populationsgenetik geschrieben; weil ich dort - fälschlicherweise, wie sich nun gezeigt hatte - davon ausgegangen war, daß Sarrazin sich nicht selbst korrigiert hatte. Deshalb hatte ich ihm in dem Artikel mangelnde Präzision zugeschrieben, auch wenn er im Kern Recht hatte.

In diesem Nachtrag finden Sie auch das Ergebnis einer weiteren Recherche: Außer der HNA hat, soweit ich das ermitteln konnte, allein die FAZ die Korrektur von Sarrazin gebracht; eingebettet in einen Artikel, der Sarrazin massiv kritisiert. Die anderen Leitmedien haben sie schlicht ignoriert.

Ich habe in dem Nachtrag die Erklärung Sarrazins vom 30. August im Wortlaut dokumentiert. Jetzt nehme ich die Redundanz in Kauf und zitiere sie noch einmal, damit Sie sich auch ohne Weiterklicken davon überzeugen können, wie absurd spätestens nach dieser Erklärung die Vorwürfe des Biologismus, des Rassismus, des Antisemitismus waren und sind. Im folgenden hebe ich die entscheidenden Stellen hervor:
Eine Interview-Äußerung von mir vom 29. August 2010 hat für Irritationen und Missverständnisse gesorgt, die ich bedauere. Als ich sagte, dass "alle Juden ein bestimmtes Gen teilen", habe ich mich nicht hinreichend präzise ausgedrückt.

Ich bezog mich mit meiner Äußerung - wegen der Interviewsituation leider verkürzt - auf neuere Forschungen aus den USA. Ich bin kein Genetiker. Aber ich habe zur Kenntnis genommen: Aktuelle Studien legen nahe, dass es in höherem Maße gemeinsame genetische Wurzeln heute lebender Juden gibt, als man bisher für möglich hielt.

Damit ist keinerlei Werturteil verbunden, damit ist auch nichts über eine wie auch immer zu verstehende "jüdische Identität" ausgesagt. Die Frage, was aus möglichen genetischen Übereinstimmungen von Bevölkerungsgruppen zu schließen ist, ist vollkommen offen. Entscheidend für politische und wirtschaftliche Sachverhalte, die im Zentrum meines Buches stehen, sind kulturelle Faktoren.

Über diese Forschungsergebnisse hatte ich im Berliner "Tagesspiegel" gelesen, davor hatte die New York Times darüber berichtet - und viele andere Medien auch. Die beiden von einander unabhängigen Studien wurden in den renommierten Fachzeitschriften "Nature" und "American Journal of Human Genetics" im Juni 2010 veröffentlicht.

Wenn neue genetische Forschungen zeigen, dass viele heutige Juden zahlreiche Gene von einer ursprünglichen jüdischen Bevölkerungsgruppe, die vor etwa 3000 Jahren im Nahen Osten lebte, gemeinsam haben, ist das zunächst einmal interessant. Politisch ist diese These neutral. Um eine rassistische Äußerung handelt es sich nicht.

Thilo Sarrazin
Die beiden vor drei Monaten publizierten Untersuchungen, auf die Sarrazin sich bezieht, habe ich in dem Artikel detailliert dargestellt. Was Sarrazin schreibt, entspricht dem aktuellen Stand der Forschung und kann nur von jemandem als "rassistisch" oder "antisemitisch" qualifiziert werden, der entweder nicht Bescheid weiß oder der böswillig ist.



Das also ist die deprimierende Situation: Sarrazin wird mit Vorwürfen und Unterstellungen überzogen, bekommt aber keine Gelegenheit zur Entgegnung. Seine Korrektur, die nur einen Tag nach dem WamS-Interview von dpa verbreitet wurde, haben fast alle Medien nicht gebracht; man kann auch sagen: unterdrückt. Sarrazin ist in der Position eines Angeklagten, dem die eigene Stellungnahme weitgehend verweigert wird.

Nein, ich sollte das alles im Imperfekt schreiben. Es war so. Aber es ist inzwischen etwas in Bewegung gekommen; ich habe sein Entstehen zu beschreiben versucht (Sarrazin und die Folgen. Haben wir in Deutschland noch eine Demokratie?; vom 6. 9. 2010; "... daß die Aufregung möglichst schnell vorbeigehen möge"; ZR vom 12. 9. 2010; Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).

Es hat den Anschein, daß die große Zustimmung zu Sarrazin in der Bevölkerung es den meinungsbildenden Medien inzwischen schwer macht, ihn auf die Anklagebank zu setzen, ohne daß er sich verteidigen kann.

In der aktuellen Ausgabe der "Zeit" (38/2010 vom 16. 9. 2010, S. 4) ist ein Artikel des SPD-Vorsitzenden Gabriel zu lesen, den auch "Zeit-Online" bringt. In der gedruckten "Zeit" steht er unter der freundlichen Überschrift "Anleitung zur Menschenzucht". So hieß er anfangs auch in der "Zeit-Online"-Version. Inzwischen hat man ihn dort "nach längerer Diskussion" umgetitelt; er heißt jetzt "Welch hoffnungsloses Menschenbild!".

Die eine Überschrift wie die andere illustriert mit ihrer Übertriebenheit, was Gabriel macht: Er reißt Zitate aus Sarrazins Buch aus dem Zusammenhang und interpretiert sie so, wie Sarrazin sie (was jeder sieht, der das Buch gelesen hat und den jeweiligen argumentativen Zusammenhang kennt) nicht gemeint hat.

Es ist die klassische Methode unfairen Zitierens. Gabriel setzt sich mit Sarrazin nicht auseinander, sondern er verzerrt dessen Aussagen, bis er aus den detaillierten, bis ins Einzelne empirisch begründeten Analysen in dem Buch das "absurde Ergebnis eines Hobby-Darwins" (Gabriel) gemacht hat.

Nun war von Gabriel nichts anderes zu erwarten; wer noch eine gewisse Achtung vor diesem Mann gehabt hatte, der dürfte sie nach der Lektüre dieses Artikels eingebüßt haben. Das Überraschende, das wirklich Überraschende ist nicht Gabriels Text, sondern der redaktionelle Fußtext: "Eine Entgegnung Thilo Sarrazins auf Sigmar Gabriel erfolgt an gleicher Stelle".

Da deutet sich so etwas wie eine späte Fairness an. Und nicht nur bei der "Zeit", wo wir auf diese Entgegnung wohl bis nächste Woche warten müssen.

Denn bereits gestern hat überraschend die FAZ eine Entgegnung Sarrazins gebracht. Wer das Buch gelesen hat, der kann Sarrazins dortigem Fazit nur zustimmen: "Mich mit dem Hinweis, ich sei 'Eugeniker', politisch stigmatisieren zu wollen und mir vorzuwerfen, ich bereitete 'den Boden für Hassprediger im eigenen Volk', ist unzulässig und ehrabschneidend". Eine zurückhaltende Formulierung, wie es Sarrazins Art ist. Manch anderer hätte sich empörter gewehrt.

Warum hat Sarrazin seine Entgegnung schon jetzt in der FAZ publiziert? Das ist bisher unbekannt. Ich bin jedenfalls gespannt, was kommende Woche in der "Zeit" stehen wird und ob die Redaktion tatsächlich so liberal sein wird, Sarrazins Entgegnung unredigiert und ohne distanzierenden Vor- oder Nachspann zu bringen.



Listen der bis zum 6. September in ZR erschienenen Artikel zu Sarrazin findet man jeweils am Ende dieses und dieses Artikels. Die bisherigen Folgen der Serie "Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft" sind hier verlinkt. Inzwischen sind diese Artikel hinzugekommen:
  • Marginalie: Ein Blick in Sarrazins Buch. Erste Eindrücke. Und jetzt gibt es auch endlich eine erste Meinungsumfrage; ZR vom 9. 9. 2009

  • Zitat des Tages: "... daß die Aufregung möglichst schnell vorbeigehen möge". Noch einmal Sarrazin und die Folgen; ZR vom 12. 9. 2010

  • Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010

  • Zettels Meckerecke: Im Politbarometer 56 Prozent Zustimmung für Sarrazin, 28 Prozent Ablehnung. Und was meldet "Spiegel-Online"? Raten Sie mal ... ; ZR vom 14. 9. 2010

  • Marginalie: Nicht nur "Spiegel-Online" verschwieg die Zustimmung zu Sarrazin. Ein Blick in unsere Leitmedien; ZR vom 15. 9. 2010

  • Zettels Meckerecke: "Neunzig Prozent haben kein Bedürfnis, sich zu artikulieren". Das elitäre Politikverständnis des Sozialpsychologen Harald Welzer; ZR vom 17. 9. 2010



  • © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Mit Dank an FAB., der auf Sarrazins Artikel in der FAZ aufmerksam gemacht hat.