20. September 2010

Marginalie: Der Kachelmann-Prozeß ist sehr wahrscheinlich entschieden. Lobendes über Gisela Friedrichsen

Coram iudice et in alto mari sumus in manu Dei, sagte man im Alten Rom - vor dem Richter und auf Hoher See sind wir in Gottes Hand.

Auch Jörg Kachelmann ist in Gottes Hand. Mit Sicherheit kann niemand prognostizieren, wie sich seine Mannheimer Richter entscheiden werden. Aber mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kann man jetzt sagen, wie sie sich entscheiden müssen, wenn sie denn unbefangen urteilen.

Man kann das sagen, wenn man den Artikel "High Noon in Mannheim" von Gisela Friedrichsen gelesen hat; im aktuellen "Spiegel" (38/2010, S. 42-44).



Gisela Friedrichsen ist eine Gerichtsreporterin, wie es wenige gibt; wie es wenige gegeben hat. Sie hat die unbestechliche Objektivität ihres großen Vorgängers beim "Spiegel" Gerhard Mauz, schreibt aber ohne dessen oft elegischen Unterton; dieses Klagen über das Elend von Menschen in unserer Welt.

Gisela Friedrichsen schreibt kühler. Gewiß, auch sie hat nicht den Blick des Juristen, der einen Fall primär unter dem Gesichtspunkt zu beurteilen hat, ob und wenn ja welche Gesetze verletzt wurden. Wie Mauz sieht sie auch die menschliche, auch die psychologische Seite. Aber ganz ohne Larmoyanz; eher wie der professionelle Psychologe.

Wie der Gerichtsgutachter beispielsweise, der ein psychologisches Gutachten abzugeben hat.

Gutachten spielten für die Beurteilung des Falls Kachelmann schon eine Rolle, bevor der Prozeß überhaupt begonnen hatte; Gutachten, die erhebliche Zweifel daran begründeten, daß die Tat sich so abgespielt haben konnte, wie die Anzeigeerstatterin "Simone" (warum wird ihr Name eigentlich immer noch geheimgehalten?) das schildert. Zweifel auch an deren Glaubwürdigkeit. Sie hat bei Vernehmungen gelogen, das steht außer Frage.

Das allein würde es nicht rechtfertigen, den Ausgang des Prozesses zu prognostizieren. Wie gesagt, vor dem Richter und auf Hoher See ...

Aber wenn man im Juli bei strahlend blauem Himmel im Ägäischen Meer segelt, hat man nicht mit einem Sturm zu rechnen. Auch Richter können sich, mögen sie nun befangen sein oder nicht, schwerlich über eindeutige Gutachten hinwegsetzen.

Diejenigen, die vor Prozeßbeginn vorlagen, waren eindeutig genug, um den 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe Ende Juli zu veranlassen, den Haftbefehl gegen Kachelmann aufzuheben (siehe "Gegen Jörg Kachelmann besteht kein dringender Tatverdacht mehr"; ZR vom 29. 7. 2010).

Nun liegt dem Gericht aber ein weiteres Gutachten vor. Ein Gutachten des Heidelberger Psychotherapeuten Günter Seidler, der - zugleich "Simones" Therapeut ist!

Mich wundert es, daß das überhaupt geht; daß man Therapeut und Gutachter in Personalunion sein kann. Mich wundert, daß ein Gericht jemanden als Gutachter heranzieht, der doch als Therapeut seiner Patientin gegenüber eine andere Haltung haben könnte als diejenige des streng objektiven Gutachters. Ich frage mich auch, wie ein Therapeut es schafft, als Gutachter über die eigene Patientin aufzutreten, ohne seine Schweigepflicht zu verletzen.



Nun gut, ob das formal in Ordnung ist, wird das Gericht ja geprüft haben; vielleicht hat "Simone" ihren Therapeuten von der Schweigepflicht entbunden. Aber wie sieht es inhaltlich aus, "materiell", wie die Juristen sagen? Gisela Friedrichsen:
Möglicherweise beschlichen die Richter Zweifel, ob ein Therapeut die richtige Auskunftsperson ist, wenn es um die Glaubhaftigkeit einer Aussage seiner Patientin geht. Vielleicht kamen ihnen aber auch einige der emotionalen Ausführungen Seidlers merkwürdig vor.
Jedenfalls beauftragten sie einen weiteren Gutachter, den Berliner forensischen Psychiater Hans-Ludwig Kröber. Über ihn schreibt Friedrichsen:
Wer Kröber beauftragt, bekommt ein streng wissenschaftliches, nüchtern-logisches, vom Zeitgeist unbeeindrucktes, bisweilen mit beißender Ironie gewürztes Gutachten.
Dieses Gutachten soll bis zum 13. Oktober vorliegen. Offenbar hat Gisela Friedrichsen aber bereits Informationen darüber, wie es ausfallen wird:
Vielleicht haben sich die Mannheimer Richter an Kröbers Heidelberger Vergangenheit erinnert und gehofft, er werde mit seinem früheren Kollegen Seidler schon freundlich umgehen. Vielleicht haben sie ihn beauftragt, weil er als Koryphäe gilt. Was er über Seidler und dessen unkontrollierte und unprofessionelle Nähe zur Patientin sagt, ist vernichtend. Was er zum Aussageverhalten der Frau sagt, die Kachelmann beschuldigt, nicht minder.
Würde ein beliebiger Journalist dies schreiben, dann würde es nicht viel besagen. Wenn Gisela Friedrichsen das schreibt, dann kann man sicher sein, daß sie weiß, wie der Tenor des Gutachtens lauten wird.

Und wenn er so lautet - wenn Kröbers Gutachten also die bereits vorliegenden Gutachten bestätigt, mit Ausnahme desjenigen von "Simones" Therapeuten -, dann kann ein unbefangenes Gericht Kachelmann nicht aufgrund von deren Aussage verurteilen.

Verurteilt werden könnte er dann nur noch, wenn bisher unbekannte objektive Beweise auftauchten, die ihn der Tat überführen würden.



Bisherige Artikel zu diesem Thema:
  • Zitat des Tages: Verhaftung des Schweizers Jörg Kachelmann. Die Nürnberger hängen keinen, ...; ZR vom 22. 3. 2010

  • Zettels Meckerecke: "Er macht einen sehr niedergeschlagenen Eindruck, ist aber nicht suizidgefährdet". Der Albtraum des Jörg Kachelmann. Eine Empörung; ZR vom 25. 3. 2010

  • Zitat des Tages: "Vielleicht kommt es nie zu einer Anklage". Seltsames im Fall Jörg Kachelmann; ZR vom 30. 3. 2010

  • Zitat des Tages: "Gegen Jörg Kachelmann besteht kein dringender Tatverdacht mehr"; ZR vom 29. 6. 2010

  • Kurioses, kurz kommentiert: Jetzt sprechen Kachelmanns Frauen. Was ist uns Kachelmann? Über Interesse und Erkenntnis; ZR vom 29. 8. 2010



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