5. September 2010

Marginalie: Zirkus und Sozialismus. Über das Gerechtigkeitsempfinden eines Sozialdemokraten und die Methoden von Tierschützern

Ich liebe den Zirkus. Mag sein, daß das eine frühkindliche Prägung ist. Im Einerlei der Nachkriegszeit in einem abgelegenen Dorf war mein erstes Erlebnis einer bunten, einer ganz anderen Welt, daß ein Zirkus "gastierte".

Er bestand aus einer Familie, die den Umstehenden (Sitze gab es natürlich nicht, geschweige denn ein Zelt) allerlei Akrobatisches vorführte; sowie zwei Zirkuspferden, die auch die Zugtiere des ganzen Ein-Wagen-Unternehmens waren. Wir hatten "Freikarten", weil meine Großmutter von dem Wenigen, was wir hatten, einer bettelnden Zirkus-Tochter etwas Zucker und Mehl gegeben hatte.

Dieser Zirkus, so lächerlich ärmlich er aus heutiger Sicht erscheinen mag, war faszinierend für den vierjährigen Knirps. Ich habe in den Wochen danach nur Pferde gemalt, wild geschmückt in allen Farben, die meine Farbstifte hergaben.

Nun gut, seitdem jedenfalls bin ich ein begeisterter Zirkusbesucher. Und lese beispielsweise CIRCUSWORLD samt dem dortigen Forum. Dort nun postete gestern ein Peter dies:
04.09.2010, 11:55

Die Stadt Bielefeld ist zu faul Freikarten an Minderbemittelte zu verteilen. Nun haben die empörten Vereine der Stadt dies übernommen.

Mit circensischen Grüßen

Peter
Dem Post ist ein Link beigefügt, der zum Internet-Auftritt des Bielefelder Lokalblatts "Neue Westfälsiche" führt. Und tatsächlich, da steht es:
Premiere im negativen Sinn für den Zirkus Krone in Bielefeld. Zum ersten Mal habe eine Stadt Freikarten abgelehnt, die der Zirkus an jedem Gastspielort für finanziell Bedürftige bereitstellt, sagt Krone-Sprecher Frank Keller. 1.100 Karten für Sozialbetreute, Heimkinder und Arme hatte Krone dem Oberbürgermeister angeboten.

Das Päckchen mit den Karten hat Pit Clausen umgehend zurücksenden lassen – nebst Ehrenkarten für ihn selbst. Man sehe keine Möglichkeit einer "wirklich gerechten Verteilung" steht im Begleitschreiben der Stadt an den Zirkus.
Wer ist dieser Pit Clausen?
Pit Clausen (eigentlich Peter Clausen; * 12. Mai 1962 in Düsseldorf) ist ein deutscher Politiker (SPD). Am 30. August 2009 wurde er zum Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld gewählt, seine Amtszeit begann am 21. Oktober. (...) Pit Clausen tritt vor allem für Klimaschutz auf kommunaler Ebene, Ausbau der Betreuung von Kleinkindern, Ganztagsschulen und "gemeinsames Lernen" über das 4. Schuljahr hinaus ein.
Also ein richtig guter Mensch, dem augenscheinlich vor allem soziale Gerechtigkeit am Herzen liegt.

Kein Wunder, daß er die 1.100 der Stadt vom Zirkus Krone zur Verfügung gestellten Freikarten zurückschicken lassen mußte, weil er "keine Möglichkeit einer 'wirklich gerechten Verteilung'" sah.

Der Oberbürgermeister Pit Clausen samt der Stadtverwaltung, der er vorsteht, wollen lieber keinem einzigen armen Kind ihrer Stadt die Freude eines kostenlosen Zirkusbesuchs machen, als daß sie am Ende keine "wirklich gerechte Verteilung" hinbekommen.

Wenn man nicht gerecht verteilen kann, dann bekommt eben niemand etwas. Die Gerechtigkeit besteht darin, daß es keinem besser gehen darf als irgendeinem anderen. Folglich allen gleich schlecht.

Kann man sich eine bessere Illustration des Sozialismus vorstellen?



À propos Zirkus Krone. Vielleicht ist es Ihnen auch schon aufgefallen: Fanatiker und Zeloten, die von sich behaupten, sie seien Tierschützer, nehmen sich immer mehr den Zirkus zum Objekt ihres Eiferertums. Der Zirkus Krone ist davon besonders betroffen.

Vor einem Jahr konnte man in der "Berliner Morgenpost" unter der Überschrift "Senatorin bereitet Zirkusverbot für Berlin vor" dies lesen:
Wilde Tiere wie Elefanten und Löwen sollen künftig in Berlin nicht mehr in Zirkusarenen zu sehen sein. (...) Berlins Landestierschutzbeauftragter Klaus Lüdcke will allen Zirkussen mit Wildtieren Auftritte in der Stadt untersagen und hat sich dazu der Unterstützung von Umweltsenatorin Katrin Lompscher (Die Linke) versichert.
Ebenfalls im September 2009 schrieb der Münchener Merkur in seinem Internetauftritt:
Die Tierrechts-Organisation "Peta" will heute Unterlagen präsentieren, die nach eigener Aussage "systemimmanente Tierquälerei" bei Krone belegen. "Peta" kündigte an, Strafanzeige gegen den Traditionsbetrieb zu erstatten. Der Zirkus wehrt sich – und stellte seinerseits Strafanzeige gegen "Peta" – unter anderem wegen übler Nachrede.
Auch dieses Jahr wird der Zirkus Krone wieder ins Visier genommen. Eine Tierrechtsinitiative Köln kündigt an:
100 Jahre Zirkus Krone - 100 Jahre Tierquälerei !!!!!
DA FEIERN WIR DOCH MIT!!!!

Großdemo in Köln am 16.09 2010 zum Premierenabend!!! (...)

Kommt bitte zahlreich,damit wir Zirkus Krone einen gebührenden Empfang bereiten können in Köln !! Zeigen wir dem Zirkus Krone,was wir von ihm und seiner Tierhaltung halten!!
Zelotentum bemißt sich an der Zahl der Ausrufezeichen. Aber nicht nur daran. Auch diese Meldung findet man im selben Blog "BiteBack":
Pressemitteilung

Circus CARL BUSCH: Plakate entsorgt wegen Tierquälerei. Hiermit informieren wir darüber, dass in der Stadt Schorndorf eine Aktion gegen Circus CARL BUSCH stattgefunden hat.

Wie Bite Back anonym mitgeteilt wurde, haben TierbefreierInnen in den vergangenen Tagen über 200 Werbeplakate zerstört, die das Gastieren des Zirkusses zwischen dem 26. und dem 30. August 2010 angekündigt haben.
Da kann einem um den Zirkus schon ein wenig bange werden. Es gibt in Deutschland offenbar ein Potential an sicher gut gemeinter, aber intellektuell schlichter Empörtheit, das sich nun auch den Zirkus zum Ziel nimmt.



Besteht zwischen dieser Anti-Zirkus-Bewegung und der Entscheidung des Oberbürgermeisters Pit Clausen ein Zusammenhang? Ich habe keine Ahnung. Ich will es nicht hoffen und gewiß nicht unterstellen.

Allerdings: Wenn die Stadt Bielefeld schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit armen Kindern den kostenlosen Besuch des Zirkus Krone verweigern wollte - seine Ehrenkarte immerhin hätte Clausen eigentlich nicht zurückschicken müssen. Denn da gab es doch kein Problem einer gerechten Verteilung.

Vielleicht schickt der Zirkus Krone ja dem OB die Ehrenkarte noch einmal. Und vielleicht geht dieser dann ostentativ in den Zirkus Krone, um sichtbar zu machen, daß er mit diesem Aktivisten-Zirkus gegen den Zirkus nichts zu tun haben will.



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