4. September 2010

Marginalie: Leseempfehlungen zu Sarrazin (erweiterte und aktualisierte Fassung)

Aus dem Geschwurbel und von Kenntnissen freien Gerede über einen Autor, dessen Buch man erkennbar nicht gelesen, jedenfalls nicht verstanden hat; aus allem diesem "krude" und "dumpf" und "wirr", das allenfalls zur Selbstkennzeichnung der betreffenden Politiker und Journalisten taugen mag, ragen einige Texte heraus. Dokumente der Vernunft in einer Diskussion, die ansonsten von dem beherrscht wird, was man neudeutsch Bauchgefühl nennt.

Erstens und auch zuvorderst möchte ich auf einen Artikel hinweisen, der zwar schon einige Tage zurückliegt, der aber mit seiner kühlen Analyse unbedingt Ihre Aufmerksamkeit verdient: Raysons fünf Thesen zu Sarrazin in B.L.O.G. Besonders gut hat mir die dritte These gefallen:
Wer auch immer die einzig wahre Ursache gefunden zu haben meint, seien es die genetische Ausstattung, die religiöse Ausrichtung, die Einkommens- und Vermögensverteilung, der Besitz oder Nichtbesitz an Produktionsmitteln oder sonstwas, hat in Wirklichkeit nichts gefunden.
So ist es; eine Kritik an Sarrazin ist es nicht.



Sodann will ich Sie auf drei Artikel in der FAZ aufmerksam machen; in der Zeitung, die (siehe meine kürzliche Kennzeichnung) immer noch ein Lichtblick in der deutschen Presselandschaft ist.

Dort beschrieb in der Ausgabe vom Freitag Berthold Kohler kurz und knackig das Dilemma der SPD, die einerseits gern die Stimmen von eingebürgerten Türken ergattern möchte, die andererseits aber mit diesem Anbiedern Gefahr läuft, angestammte Wähler zu verlieren.

Die Aufgeregtheit in der SPD ist - dies mein Kommentar dazu - in der Tat künstlich und taktischer Art; nur noch übertroffen von der schrillen Quakerei der Renate Künast, die gern im selben Stimmen-Pool baden möchte, um Regierende von Berlin zu werden. Wahltaktik im Gewand einer bigotten Besorgnis.

Von Kohler erscheint in der Wochenendausgabe der FAZ (zuvor schon im Internet zu lesen) ein weiterer Text zum Thema, in dem er ähnlich argumentiert wie ich am Donnerstag in diesem Artikel. Kohler:
Weil Sarrazin, von einer Woge der Unterstützung aus dem breiten Volk getragen, seinen hohen Richtern nicht den Gefallen tun und sich selbst als Problem aus der Welt schaffen wollte, haben jetzt auch diese eines mehr. Als Märtyrer der Meinungsfreiheit und Kronzeuge der Anklage breiter Bevölkerungsschichten wird Sarrazin sie noch lange verfolgen. (...)

Wenn die "Volksparteien" die von Sarrazin aufgegriffenen Sorgen und Ängste nicht schnell ernstnehmen, werden die sich andere Fürsprecher suchen, deren Mäuler sich nicht mit einem Antrag beim Bundespräsidenten stopfen lassen.
Am Freitag stand in der FAZ des weiteren ein Kommentar des Mitherausgebers Günter Nonnenmacher.

Er enthält zwar viel Vorwitziges über Sarrazin ("... dass Sarrazin sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse beruft, die er nur halb, teilweise auch gar nicht verstanden hat und aus denen er unhaltbare Schlussfolgerungen zieht". Das traut sich der studierte Philosoph und Historiker Nonnenmacher zu beurteilen?). Aber im Kern hat Nonnenmacher doch Vernünftiges zu sagen, in Gestalt nämlich einer Zustimmung zu Sarrazins, wie Nonnenmacher es treffend formuliert, "Zustandsbeschreibung von Sozialstaatsmissbrauch und Integrationsverweigerung".

Immerhin. Man wird ja bescheiden.

Ein Stück mehr Freude hat mir die Lektüre von drei weiteren Artikeln gemacht; und hier ist meine Leseempfehlung auch dringlicher.



Im "Hamburger Abendblatt" hat schon am Mittwoch Armgard Seegers (Redakteurin im Ressort Kultur; sie war übrigens einmal als Hamburger Kultursenatorin im Gespräch) die Kampagne gegen Sarrazin in den Kontext unserer deutschen Verbotskultur gestellt:
Die Empörung war deshalb so groß, weil Sarrazin es gewagt hatte, unliebsame Äußerungen gegen muslimische Ausländer zu machen. So etwas darf man nicht in Deutschland. Denn das, was man sagen und nicht sagen darf, ist fest in der Hand der Diskurswächter, darüber gibt es bei uns inoffizielle Regeln.

Als Frau beispielsweise darf man etwas gegen Männer sagen. Ganze Shows, Partys und Abendunterhaltungen leben davon. Umgekehrt geht das nicht. Es gibt andere Bevölkerungsgruppen, die man nur im Zusammenhang mit Beiwörtern wie ausgegrenzt, bildungsfern oder chancenlos anwenden darf: Hartz-IV-Empfänger etwa, Homosexuelle oder Ausländer, die stets Migranten heißen sollen. Es herrscht ein allgemeiner Konsens darüber, was, wann und wie gesagt werden darf.
Ein allgemeiner Konsens freilich - möchte ich hinzufügen -, der nicht derjenige einer Mehrheit der Bevölkerung ist, sondern der von einer kleinen, freilich mächtigen Minderheit formuliert, gepflegt und - siehe Sarrazins Entlassung - mit allen zur Verfügung stehenden Sanktionen ohne Skrupel durchgesetzt wird.

Von einer Minderheit, von der die meisten sich als "linksliberal" sehen dürften; deren zum Totalitarismus neigendes Denken aber dem Liberalismus ungefähr so ähnlich ist, wie Albert Einstein einem Sumō-Ringer ähnelte.

Zu dieser Meinungsdominanz gehört es auch, daß mit zweierlei Maß gemessen wird, was Urteile über "Bevölkerungsgruppen" angeht. Seegers:
Ungerüffelt sagen darf man hingegen etwas über "die Amerikaner", "die Israelis" und "die Banker". "Die Franzosen" darf man beschimpfen, wenn sie Roma (früher Zigeuner) rauswerfen. Und "die Industrie" und "die Energiewirtschaft" sind von vornherein ganz schlecht. "Die Bahn" ist auf dem besten Weg dorthin. Ansonsten, und das ist vielleicht der größte Fehler, den Thilo Sarrazin gemacht hat, darf man niemals pauschalisieren. Kollektive Zuschreibungen sind Tabu.
Aber lesen Sie diesen hellsichtigen, liberalen und auch gut geschriebenen Artikel selbst. Es lohnt sich.



Dasselbe gilt für den Artikel von Cora Stephan in "Die Achse des Guten". Sie nimmt die Wissenschaftsfeindlichkeit aufs Korn, die ja in der Tat ein wesentlicher Aspekt dieser gespenstischen Sarrazin-Diskussion ist:
Nun, wer in den letzten Tagen ferngesehen hat, ... hat ein Land erlebt, in dem der Ökonom Thilo Sarrazin von der Politikerin Renate Künast als "menschlich schäbig" und "gefühlskalt" beschimpft wurde, weil er sich auf Zahlen und Statistiken bezieht. In dem eine deutschtürkische Landesministerin aus Niedersachsen, die der Presse "kultursensible Sprache" gegenüber türkischen Migranten verordnen wollte, stolz verkündet, „"sie brauche keine Statistiken und Analysen", da sie die "Migranten ja kenne".

Ob bei Beckmann, ob bei Plasberg: es triumphierten die Menschlichkeit und das Leben über das statistische Teufelszeug, das "Menschen auf Zahlen" reduziere.
Cora Stephans Text ist zunächst im "Politischen Feuilleton" von Deutschlandradio Kultur publiziert worden; Sie können ihn sich dort auch anhören. Außerdem finden Sie ihn im Blog von Cora Stephan, den ich sehr empfehlen kann.

Wie ich übrigens auch das "Politische Feuilleton" wärmstens empfehlen möchte; werktags immer um 7.20 Uhr am Morgen (siehe dazu "Konservative und Nazis haben so viel gemeinsam wie das Flötenkonzert von Sanssouci mit dem Horst-Wessel-Lied"; ZR vom 30. 6. 2009). Ein Hort der Meinungsfreiheit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Eine bunt blühende Oase in der trostlosen Wüstenei politischer Korrektheit.



Und dann möchte ich Ihnen noch ein Schmankerl aus der Netzwelt nein, nicht ans Herz legen, sondern Ihrem kritischen Verstand anempfehlen: Den Artikel "Er hat Gen gesagt!" im Blog von Califax "The Outside of the Asylum". Califax weist auf das Seltsame, ja Komische einer Diskussion hin, in der kaum jemand das kennt, worüber er diskutiert:
Aber keiner weiß, was der da geschrieben hat! Niemand weiß, worum es eigentlich geht! Und das ist zum Schreien komisch.

Weil niemand das Buch in der kurzen Zeit, und schon gar nicht vor seiner Veröffentlichung, lesen und verstehen konnte. Und jetzt ist es zu spät. Man hat sich positioniert. Jetzt kann keiner mehr zugeben, daß da vielleicht etwas ganz anderes drinsteht, als man blind vor Borniertheit und Ideologie drauflosgeraten hat. Weder seine Freunde noch seine Feinde sind jetzt noch in der Lage, sein Buch zu lesen und dann über den Inhalt zu reden. Entweder zum Thema informieren oder drüber reden. Da haben wir die zentrale Anforderung an den deutschen Politikexperten in Reinstform.

Selten wurde deutsche Politik so treffend und so absurd karikiert wie in diesem Skandal. Und selten war das Theater so haarsträubend komisch.
So ist es. Freilich kann ich mich an dieser Komik nur begrenzt erfreuen. Es ist die Komik, die auch in einem Tollhaus anzutreffen ist.



Und wie ist eigentlich die Reaktion im Ausland? Weitaus gelassener als in den meisten deutschen Medien.

So hieß es am Mittwoch im britisch-amerikanischen Nachrichtenmagazin The Economist über Sarrazin:
In a way, the stir he has created is a tribute to Germany’s political culture. The mainstream parties are not blind to the problems he identifies but strive to be politically correct about them. The few openly xenophobic parties are marginalised. Mr Sarrazin has given voice to fears and resentments that have no political outlets.

In gewisser Weise ist die Aufruhr, die er bewirkt hat, der politischen Kultur Deutschlands geschuldet. Die etablierten Parteien sind nicht blind für die Probleme, die er beim Namen nennt; aber sie unternehmen Anstrengungen, in Bezug auf sie politisch korrekt zu sein. Die wenigen offen fremdenfeindlichen Parteien sind ausgegrenzt. Sarrazin hat den Befürchtungen und der Unmut eine Stimme verliehen, die sich politisch nicht artikulieren können.
In der New York Times schrieb deren Berliner Korrespondent Michael Slackman am Freitag:
But the banker, Thilo Sarrazin, an executive with the central bank and a former Berlin finance minister, has not emerged as the marginalized hate-monger that the initial condemnation suggested. (...) Mr. Sarrazin has set off a painful public discussion here that highlights one of the nation’s most vexing challenges: how to overcome what is widely seen as a failed immigration policy that over decades has done little to support and integrate the nearly 20 percent of the population with an immigrant background.

Aber der Banker, Thilo Sarrazin, Vorstandsmitglied der Bundesbank und früherer Finanzsenator in Berlin, hat sich nicht als der ausgegrenzte Haßprediger erwiesen, als der er in den anfänglichen Verdammungsurteilen hingestellt wurde. (...) Sarrazin hat hier eine schmerzliche öffentliche Diskussion ausgelöst, die eine der irritierendsten Herausforderungen an die Nation ins Scheinwerferlicht rückt: Wie man mit dem fertig wird, was weithin als eine gescheiterte Einwanderungspolitik gesehen wird, die über Jahrzehnte wenig dafür getan hat, die fast 20 Prozent der Bevölkerung mit einem Migrationshintergrund zu fördern und zu integrieren.
Ebenfalls am Freitag formulierte es Frédéric Lemaître in der führenden französischen Tageszeitung Le Monde so:
Alors que le SPD a entamé une procédure d'exclusion de cet adhérent encombrant, la direction admet que la démarche n'est pas facile car une partie de la base soutient l'économiste.

Du coup, la plupart des commentateurs sont partagés entre condamner les propos de M. Sarrazin, qui schématise à l'excès les termes du débat (en opposant "eux" les immigrés et/ou les musulmans et "nous" les Allemands) ou, au contraire, s'appuyer sur ces propos pour crever l'abcès et essayer d'améliorer l'intégration des immigrés qui, si elle est loin d'être idyllique, semble, malgré tout, moins conflictuelle que dans d'autres pays européens.

Zwar hat die SPD gegen dieses störende Mitglied ein Ausschlußverfahren eingeleitet, aber deren Führung räumt ein, daß dieses Vorgehen nicht leicht ist, denn ein Teil der Basis steht zu dem Volkswirtschaftler.

Also sind die meisten Kommentatoren gespalten, ob sie die Thesen Sarrazins verurteilen sollen, der die Elemente der Debatte bis zum Extrem vereinfacht (indem er "die", die Einwanderer und/oder die Moslems, "uns", den Deutschen, gegenüberstellt); oder ob sie sich im Gegenteil auf seine Worte stützen sollen, um das Geschwür zu schneiden und die Integration der Einwanderer zu verbessern, die - fern davon, idyllisch zu sein - doch trotz allem weniger konfliktgeladen ist als in anderen Ländern Europas.
Dazu könnte man anmerken, daß das Thema Integration in Deutschland vielleicht deswegen weniger konfliktgeladen als anderswo erscheint, weil man die Konflikte bisher unter den Teppich gekehrt hat.

Weil man den Geist in der Flasche gehalten hat, den Pfropfen fest verschlossen. Jetzt ist, so scheint es nach fast zwei Wochen Diskussion, der Geist entwichen; und zurück in die Flasche wird man ihn möglicherweise nicht mehr bekommen.




Dieser Artikel erschien zunächst gestern in einer kürzeren Fassung. Ich habe ihn jetzt aktualisiert und erweitert; und zwar vor allem aufgrund der Hinweise von Diskus, Reader und ganz besonders Kallias, denen ich herzlich danke.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Calimero.