10. September 2010

Von Sarrazin zu Steinbach. Schon wieder Pawlow'sche Reflexe. Die historischen Fakten zur polnischen Mobilmachung 1939. Nebst einem Nachtrag

Kaum ist der Hype um Thilo Sarrazin am Abklingen, da haben wir schon die nächste öffentliche Aufgeregtheit. Jetzt also Erika Steinbach. Die Scheinwerfer werden weggedreht von einem schwarzes Schaf der SPD und richten sich auf ein schwarzes Schaf der CDU. Und wieder funktioniert die Reflexmaschine.

Auf Sarrazin gingen die Beschimpfungen nieder, noch bevor überhaupt sein Buch auf dem Markt war. Es genügten einige Stichwörter, um bei vielen Politikern und auch Journalisten an die Stelle des abwägenden Urteils reflexhafte Reaktionen treten zu lassen; siehe Pawlow'sche Reflexe. Diffamierungen statt einer Auseinandersetzung mit den Thesen von Thilo Sarrazin; ZR vom 25. 8. 2010.

Wer Sarrazins Buch liest, der wird feststellen, daß der Autor überwiegend das gar nicht geschrieben hat, was man ihm vorhielt. Man hatte sich nicht mit dem real existierenden Thilo Sarrazin befaßt, sondern mit einem Watschenmann, den man sich selbst gebaut hatte.



Es sieht so aus, als würde sich das jetzt bei Erika Steinbach wiederholen. Auch in ihrem Fall funktionieren offenbar Pawlow'sche Reflexe, ausgelöst durch bestimmte Reizwörter. Auch ihr wird zugeschrieben, was sie weder gesagt noch gemeint hat; jedenfalls, soweit bisher bekannt.

Im Augenblick ist zum Beispiel in "Spiegel-Online" diese Stellungnahme des SPD-Fraktionsgeschäftsführers im Bundestag Thomas Oppermann zu lesen:
Frau Steinbach ist im Menschenrechtsausschuss des Bundestages deplatziert. Wer so unsensibel revisionistische Thesen verteidigt wie sie, ist nicht geeignet, in wichtigen menschenrechtlichen und historischen Fragen sachgemäß zu urteilen. Sie ist eine Giftmischerin für die deutsch-polnische Aussöhnung und sollte ihren Platz räumen.
Cornelia Piper (FDP) erklärte laut sueddeutsche.de über die "Einlassungen der CDU-Politikerin Steinbach" kurz und bündig: "Sie stellen die Geschichte auf den Kopf". Ebenfalls laut sueddeutsche.de warf die Vorsitzende der Partei "Die Grünen", Claudia Roth, Frau Steinbach eine "Relativierung der deutschen Kriegsschuld" vor. Den Vogel schoß, wie auch anders, eine Kommunistin ab, die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke:
Steinbachs Relativierung der deutschen Kriegsschuld entspricht der Logik von Hitlers Lüge, "ab 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen".
So weit die Pawlow'schen Reflexe. Und was war nun wirklich?

Über die Sitzung der Fraktionsspitze der Union, auf die diese jetzigen Aufgeregtheiten zurückgehen, gibt es zwei ausführliche Berichte, fast schon Protokolle. Offenbar haben Teilnehmer gegenüber Journalisten geplaudert. Gestern erschien in "Welt-Online" ein Bericht von Robin Alexander; und für die FAZ berichtet in deren heutiger Ausgabe der Leiter ihrer politischen Redaktion in Berlin, Günter Bannas; der Artikel war gestern schon in FAZ.Net zu lesen.

Die beiden Berichte stimmen weitgehend überein:

Am Mittwochnachmittag tagte die Fraktionsspitze der Union. Auf dieser "Klausurtagung" rechtfertigte die Kanzlerin ihre Kritik an Thilo Sarrazin. Frau Steinbach meldete sich daraufhin zu Wort und verteidigte Sarrazin. Dieser "habe in Sachen Integration recht und werde mundtot gemacht", so Robin Alexander. Im Artikel von Günter Bannas findet man dazu die Ergänzung: "Frau Steinbach ist der Auffassung, hier handele es sich um eine 'strategische' Frage der Politik der Union".

Nämlich - so darf man das wohl interpretieren - um die Frage des Umgangs der Union mit ihren konservativen Mitgliedern und Wählern. Das nun war offenbar für Erika Steinbach die gedankliche Brücke zu einem zweiten Thema, zu dem sie sich auch gleich noch äußerte:

Da hatte das CDU-Mitglied Hartmut Saenger, auch im Vorstand des "Bundes der Vertriebenen" tätig, in einem Blättchen - der "Pommerschen Zeitung" - etwas geschrieben, das der unermüdliche, eifrige und auch manchmal eifernde Konvertit zum Judentum Stephan Kramer kritisiert hatte.

Was schrieb Saenger? Ich habe keinen Internetauftritt dieser "Pommerschen Zeitung" finden können und kann dazu deshalb dazu nur das nennen, was in tagesschau.de als Zitat von Saenger steht:
Im März 1939 machte Polen sogar gegen Deutschland mobil und gab damit Hitler die Möglichkeit der Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffs-pakts von 1934.
Das ist alles. Mehr jedenfalls zitiert tagesschau.de nicht; hätte Saenger Skandalöseres geschrieben, dann hätte man das den Lesern vermutlich nicht vorenthalten.

Ob Saengers Behauptung stimmt, dazu später etwas. Jedenfalls: Steinbach warf in der Sitzung, anschließend an ihrer Stellungnahme zu Sarrazin, dem Kultur-Staatssekretär Neumann vor, den Angriff gegen die beiden CDU-Mitglieder Tölg und Saenger nicht zurückgewiesen zu haben. Ein Wort gab das andere, und irgendwann sagte Steinbach: "Und ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobilgemacht hat."



Hat Erika Steinbach also "revisionistische Thesen verteidigt"? Hat sie "die Geschichte auf den Kopf" gestellt? Hat sie "die deutsche Kriegsschuld relativiert"? Das Gegenteil ist wahr. "Welt-Online":
Sofort versucht der Fraktionsvorsitzende Kauder den Geist in die Flasche zurückzustopfen: Kriegsschuldrelativierung könne er nicht dulden. Andere pflichten ihm bei. Die Kanzlerin schweigt, aber sie applaudiert bei jeder Anti-Steinbach-Äußerung. Die Angegriffene sagt jetzt, so habe sie es nicht gemeint. Sie wolle die Kriegsschuld nicht relativieren.
Fast gleichlautend FAZ.Net:
Frau Steinbach wurde mit der Bemerkung vernommen, Polen habe im März 1939 "zuerst mobilgemacht". Sie sagte, sie habe damit aber nicht die Kriegsschuldfrage relativiert.
Auch der Autor Hartmut Saenger hat das nicht getan; jedenfalls, soweit tagesschau.de ihn zitiert.

Wenn er schreibt, daß Polen im März 1939 mobil gemacht habe und damit Hitler die Möglichkeit gab, den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt aufzukündigen, dann relativiert er damit offenkundig nicht Hitlers Schuld an diesem Krieg. Er nennt nur eine - angebliche - Voraussetzung dafür, daß dieser seine Kriegspolitik verfolgen konnte. Jedenfalls, soweit man das diesem Zitat entnehmen kann. Ich hätte gern den ganzen Artikel von Saenger gelesen.

So, wie es im Augenblick aussieht, wirft man also Erika Steinbach eine Meinung vor, die sie nicht nur nicht geäußert hat, sondern deren Gegenteil sie geäußert hat: Sie sagt, daß sie die deutsche Kriegsschuld nicht relativiert. Also wirft man ihr vor, daß sie die deutsche Kriegsschuld relativiert.



Und wie sind nun die historischen Fakten? Man kann sie hier und hier nachlesen sowie in Gerald A. Weinbergs A world at arms: a global history of World War II:

Hitler-Deutschland und Polen hatten - das ist relativ wenig bekannt - nach Hitlers "Machtergreifung" zunächst eine Politik der Annäherung verfolgt. Beide Seiten hatten dabei - natürlich - gegensätzliche Interessen. Hitler wollte Polen an Deutschland binden, als Vorbereitung für eine völlige Dominanz über das Land. Der Marschall Piłsudski fürchtete die Sowjetunion mehr als Deutschland und unterschätzte zunächst die Aggressivität von Hitlers Politik.

Es kam zu Verhandlungen über einen Nichtangriffspakt, in deren Verlauf sogar das Gerücht aufkam - vermutlich gestreut von der polnischen Botschaft in Paris -, Polen erwäge die Alternative eines Pakts mit Frankreich mit dem Ziel eines gemeinsamen Angriffs gegen Hitler-Deutschland.

Aber nicht ein solcher Pakt wurde geschlossen, sondern eben der deutsch-polnische Nichtangriffspakt vom 26. Januar 1934. Er führte, wie die Wikipedia schreibt, in den folgenden fünf Jahren zu "friendly relations", zu freundlichen Beziehungen zwischen Polen und Hitler-Deutschland.

Das änderte sich radikal mit dem Abkommen von München, der Annexion des Sudetenlands und Hitlers brutalem Vorgehen gegen die Tschechoslowakei. In Polen wurde man sich jetzt klar darüber, daß man das nächste Opfer der Hitler'schen Aggressionspolitik sein würde.

Dennoch hat Polen bis zum August 1939 auf eine vorbeugende Mobilisierung gerade verzichtet. Weinberg schreibt dazu:
If Poland mobilized her forces as the danger in 1939 appeared more urgent, she would both damage her fragile economy by the withdrawal of skilled labor from industry and simultaneously provide the Germans with propaganda opportunities for blaming Poland as responsible for the increase in tensions and the outbreak of any war that occured.

Wenn Polen, als die Gefahr im Jahr 1939 dringlicher erschien, seine Streitkräfte mobilisiert hätte, dann hätte es zum einen seine anfällige Wirtschaft durch das Abziehen von Facharbeitern aus der Industrie geschwächt. Zum anderen hätte es die Deutschen mit der Gelegenheit für eine Propaganda versorgt, die Polen als den Verantwortlichen für das Anwachsen der Spannungen und den etwaigen Ausbruch eines Kriegs hätte darstellen können.
Das Risiko eines deutschen Überfalls gegen ein Land, das sich dann erst mitten in der Mobilisierung befinden würde, nahm man in Kauf. Mobilisiert hat Polen erst Ende August 1939, wenige Tage vor dem deutsch-sowjetischen Überfall.

Hitler allerdings hat - so weit hat Saenger Recht - den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom Januar 1934 aufgekündigt, und zwar öffentlich in einer Rede vor dem Reichstag schon am 28. April 1939. Zwei Tage zuvor hatte er bereits den deutsch-britischen Marinevertrag annulliert.

Hat vielleicht Hitler in seiner Rede vom 28. April 1939 die Legende von der polnischen Mobilisierung im März in die Welt gesetzt? Ich hätte das gern nachgesehen und bin beim Googeln auch sofort auf ein Video dieser Rede bei YouTube gestoßen.

Aber ach - statt daß das Video beginnt, wenn man auf "Abspielen" klickt, erscheint dieser Text: "Das Video wurde aufgrund eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen entfernt". Es gibt schon seltsame Hindernisse, wenn man sich über das eine oder andere Detail aus der Geschichte der Nazizeit orientieren möchte. Trotz längeren Bemühens habe ich den Text dieser Rede nicht finden können.



Erika Steinbach hat also verteidigt, was nicht zu verteidigen ist. Sie hätte sich sachkundig machen sollen, bevor sie in der Klausursitzung sagte "Und ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobilgemacht hat."

Nein, sie kann das nicht ändern, weil es gar nicht so war.

Sie sollte diesen Irrtum eingestehen, möglichst bald. Und aus der Union sollten die Angriffe gegen sie aufhören. Frau Steinbach hat einem Gewährsmann getraut, dem sie nicht hätte trauen sollen. Die deutsche Schuld am Krieg gegen Polen hat sie damit objektiv nicht relativert; und sie wollte das auch subjektiv nicht, wie sie ausdrücklich klargestellt hat.




Nachtrag um 13.55 Uhr: Nachdem dieser Artikel erschienen war, hat in Zettels kleinem Zimmer Gorgasal auf dieses Interview mit dem Historiker Jochen Böhler aufmerksam gemacht, der Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau ist und der eine Monographie "Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939" publiziert hat. Also ein Spezialist für dieses Thema. Böhler sagt in dem Interview:
Polen hat am 23. März 1939 in direkter Reaktion auf den deutschen Einmarsch in die sogenannte Rest-Tschechei die Teilmobilmachung erklärt. (...)

Eine Teilmobilmachung ist eher ein Versetzen in einen erhöhten Alarmzustand. Ich würde sie auf keinen Fall als Provokation sehen, sondern als verständliche Reaktion Polens auf ein bedrohliches Szenario direkt an seiner Westgrenze. (...)

Formal ist es richtig, dass Polen mit dieser Teilmobilmachung einen ersten Schritt hin zu einer Bereitschaft zu einer möglichen bewaffneten Auseinandersetzung mit Deutschland gegangen ist. Aber es war kein aggressiver Schritt, der angekündigt hätte, Polen werde demnächst Deutschland angreifen. Es war ganz klar ein rein defensives Manöver.
Ich nehme an, daß diese Aussage des Fachmanns für dieses Gebiet Böhler zutrifft und somit nicht das, was ich aus der Monographie von Weinberg zitiert habe.

Daß diese Teilmobilisierung für Hitler nicht der Grund für den Überfall war, den er gemeinsam mit Stalin ein knappes halbes Jahr später veranstaltete, liegt auf der Hand. Aber er könnte sehr gut der Vorwand für die Aufkündigung des Nichtangriffspakts vier Wochen später gewesen sein.

Insofern ist das, was ich über Steinbach und ihren Gewährsmann Saenger geschrieben hatte, im Licht dieser (mir) neuen Informationen nicht mehr aufrechtzuerhalten.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Erika Steinbach im Juni 2007. Vom Autor dontworry unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, freigegeben.