25. September 2010

Die sensationellen Deutschen

Der moderne skeptische Zeitgenosse hat ja schon Mühe, dem lieben Gott noch Wunder zuzutrauen, um wieviel weniger den Deutschen. Und doch scheinen wenigstens diese immer noch dazu fähig zu sein, wenn man Roger Köppel folgen möchte.

Eigentlich, so meint er in der Weltwoche, ist es eine Sensation, was die deutsche Volkswirtschaft leistet, wenn man sich vor Augen führt, mit welchen Einschränkungen, Abgaben, Steuern, Betriebsräten, Gewerkschaften und Regulierungen die Unternehmen belastet werden. (...) Kündigungen sind kaum möglich, der Staat verhindert betriebliche Anpassungen im Krisenfall nach Kräften. (...) Das enorm produktive Bundesland Baden-Württemberg etwa hat mit 5,6 Prozent eine nur knapp über dem Schweizer Durchschnitt liegende Arbeitslosigkeit, obwohl auch die Süddeutschen die Nachteile des deutschen Etatismus voll zu spüren bekommen.

Als Deutscher staunt man da gerne mit und geniesst voll Freude Köppels Erwägung, was wir ohne die Nachteile des Etatismus alles leisten könnten.

Leute, die in diesem wirtschaftsfeindlichen Klima exzellente Leistungen vollbringen, sind, wenn sie in die Schweiz kommen, wie Sprinter, denen man endlich die Bleiweste abnimmt.

Wie sich das konkret auswirkt, zeigt Köppel zuvor schon am Beispiel der deutschen Einwanderer in die Schweiz:

Nehmen wir die Gastronomie: Wurden wir früher von mürrischen Osteuropäern bedient, stossen wir heute auf die zackige Freundlichkeit des überwiegend aus Deutschland rekrutierten Personals. Der Aargauer Nationalrat und Ausländerexperte Philipp Müller hielt fest, dass in der Gastrobranche ein regelrechtes «crowding out» stattgefunden habe zugunsten der Deutschen – mit eindeutig positiven Folgen für die Wertschöpfung.

Donnerwetter!



An dieser Stelle könnte man den Popperschen Gedanken der Falsifikation ins Feld führen. Wird ein Vorgang als sensationell beschrieben, dann sind möglicherweise die Prämissen nicht ganz in Ordnung: die Unerklärlichkeit eines Sachverhalts erklärt sich nämlich oft ganz gut durch die Falschheit irgendeiner Annahme. Beispielsweise kann das überraschende Erlebnis, um 5 Uhr morgens ohne Weckergeläute bereits hellwach zu sein, darin seine Erklärung finden, dass es bereits 10 Uhr und nur der Wecker stehengeblieben ist. Unzählige weitere derartige Beispiele lassen sich aus dem Leben greifen.

Vielleicht also hat der deutsche Etatismus am Ende jene Nachteile im Vergleich zur freien Schweiz gar nicht, die den Erfolg der Deutschen so staunenswert erscheinen lassen. Sind die Deutschen, und vor allem die Schwaben, so enorm produktiv nicht trotz, sondern vielleicht sogar ein stückweit wegen dieses deutschen Etatismus? Dieser im übrigen rein hypothetischen Betrachtung soll jetzt noch ein wenig nachgegangen werden.

Womöglich, so liesse sich weiterspekulieren, laufen die Deutschen ja gerade erst im Ringen mit den zahllosen Einschränkungen und Regulierungen zur Höchstform auf. Wer wird sich schon auf Dauer anstrengen, wenn ihm der Staat die wohlverdienten Fränkli zum Grossteil in der Tasche lässt? Und zu welcher Ingeniosität muss man sich erheben um gegen den deutschen Fiskus zu bestehen? An widrigen Umständen entfaltet sich erst das Genie und aus den rauhesten Gegenden kommen die härtesten Kämpfer.

Ferner folgt aus der sehr grundlegenden Einsicht, wonach ein jedes Ding seine Kehrseite habe, dass es sich bei der Kehrseite der Nachteile eben um die Vorzüge handelt, die den Deutschen aus ihrem Etatismus erwachsen.

Johan Norberg hat einmal argumentiert, es komme gar nicht darauf an, ob der Staat viel oder wenig Steuern einkassiere, sondern ob die Gegenleistung in Form kostenloser öffentlicher Güter in einem günstigen Verhältnis dazu stehe. Ist demnach das Preis/Leistungsverhältnis Baden-Württembergs so gut wie das der Schweiz, brauchte man sich trotz höherer Steuern über die guten Wirtschaftsdaten der Schwaben gar nicht mehr so sehr zu wundern. (Wobei Ähnliches wie für die Steuern auch für die Regulierungen gelten dürfte.)



Es steht nicht gut um die Überzeugungskraft des Köppelschen Wirtschaftsdenkens, wenn er Verhältnisse, die den Etatisten vollkommen normal und kaum erklärungsbedürftig erscheinen, nämlich dass viel Staat viel Wohlstand bringt, als eine Sensation bezeichnet, auf die er sich folgerichtig keinen rechten Reim machen kann.

Letztlich verweist Köppels Staunen über die Deutschen auf eine Schwierigkeit, welche die Verbreitung liberaler Ansichten in den modernen Gesellschaften generell behindert: dass der Augenschein gegen sie spricht.

In den letzten 200 Jahren, am dramatischsten in der Zeitspanne zwischen 1850 und 1970, wandelten sich die europäischen Armuts- in Wohlstandsgesellschaften um. Dieser überaus erfreuliche Vorgang war von zwei weiteren aussergewöhnlichen Umwälzungen begleitet: einer immensen Dynamik der privaten Wirtschaftstätigkeit und einer präzedenzlosen Ausweitung der Staatsbürokratie.

In der ersten Hälfte des 20. Jh. war der Gedanke populär, das Privateigentum an den Produktionsmitteln sei ein Hemmnis der Entwicklung und der Wohlstandsgewinn würde sich durch die Überwindung des Privatkapitalismus beschleunigen lassen. Das wurde versucht und erwies sich als trügerisch. Wie steht es dann aber um den entgegengesetzten Gedanken, wonach die Beseitigung oder wenigstens radikale Verkleinerung der Staatstätigkeit die Produktivität beschleunigen würde wie den Sprinter, der die Bleiweste ablegt? Er trifft natürlich auf Zweifel.

Denn die pure Erfahrung zeigt einfach, dass Privateigentum und Bürokratismus Hand in Hand mit jener Wohlstandsrevolution gegangen sind, deren Früchte wir heute geniessen. Will man jemanden also davon überzeugen, dass nur einer dieser Faktoren für den Erfolg ursächlich sind, während der andere ihn gehemmt hat, braucht man eine erklärende Theorie; die es ja auch gibt, und sogar mehrere! Aber sich von einer Theorie zu überzeugen, die dem Augenschein widerspricht ist nun einmal viel schwieriger als das System insgesamt zu akzeptieren, erfreulich wie es im Ganzen nun einmal ist.

Was die ökonomischen Laien vom Liberalismus überzeugen könnte, ist daher wohl nicht so sehr der Wert liberaler Wirtschaftsideen, sondern eher das Pathos der individuellen Freiheit. Zum Unglück der Freiheitsfreunde lieben die Deutschen heute jedoch das Pathos weniger als die handfesten Resultate, und auch das tut ihnen am Ende alles in allem gut.



© Kallias. Den Hinweis auf Köppels Artikel verdanke ich Calimero. Für Kommentare bitte hier klicken.