17. September 2010

Zettels Meckerecke: "Neunzig Prozent haben kein Bedürfnis, sich zu artikulieren". Das elitäre Politikverständnis des Sozialpsychologen Harald Welzer

Für "Zeit-Online" haben Philip Faigle und David Hugendick den Sozialpsychologen Harald Welzer zur Sarrazin-Debatte interviewt; das Interview ist seit gestern Nachmittag zu lesen.

Dort gibt es eine Textpassage, von der ich mich ein wenig wundere, daß sie bisher kein Aufsehen erregt hat:
Zeit Online: Womöglich war Sarrazin nur der Auslöser für ein Gefühl, dass [sic] viel tiefer liegt. Es gibt viele, die sagen: Das ist auch eine Abrechnung mit dem politischen Betrieb, den so viele verachten.

Welzer: Kann sein. Man merkt das an diesem Tabubruch-Denken, diesem "man wird das doch wohl noch sagen dürfen". Was mich daran stört, ist Folgendes: Die 90 Prozent, die für Sarrazins Thesen sind, haben ja sonst kein Bedürfnis, sich zu artikulieren. Hier spricht nicht das bürgerliche, politische Subjekt oder der demokratische Idealbürger, der für das eintritt, was er denkt.


90 Prozent - es wäre interessant, zu erfahren, wo Welzer diese Zahl her hat. Ich habe recht gründlich nach Umfragen zu diesem Thema gesucht und bisher nur drei gefunden:
  • Eine Forsa-Umfrage für den "Stern", die am Donnerstag vergangener Woche publiziert wurde; ich habe sie in diesem Artikel kommentiert.

  • Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-Politbarometer vom Freitag letzter Woche, die seltsamerweise in den Leitmedien so gut wie nicht gemeldet wurde. Darüber gab es in ZR am vergangenen Diensta diesen und am Mittwoch ergänzend diesen Artikel.

  • Eine Umfrage eines Instituts namens Info, über die ich in dem Artikel vom Dienstag informiert habe
  • Laut der Forsa-Umfrage stimmten 61 Prozent den Äußerungen Sarrazins teilweise zu; weitere 9 Prozent teilten sie ganz. Die Forschungsgruppe Wahlen fand 56 Prozent Zustimmung und 28 Prozent Ablehnung. Das Institut namens Info ermittelte (wie auch immer; die Einzelheiten der Umfrage scheinen nicht auffindbar zu sein) 37 Prozent Zustimmung und 42 Prozent Ablehnung.

    Keine der drei Umfragen erbrachte auch nur annähernd die 90 Prozent Zustimmung zu Sarrazin, die der Sozialpsychologe Welzer zitiert.

    Welzer scheint also über - sensationelle - Umfragedaten zu verfügen, die nicht publiziert wurden. Es sei denn, man würde ihm unterstellen - was ich keinesfalls tun will -, daß er als empirischer Sozialforscher diese Zahl einfach erfunden hat. Kein seriöser Wissenschaftler täte das.



    Aber das ist nicht der Anlaß für diesen Artikel. Sein Anlaß ist die Art, wie Welzer diese 90 Prozent der deutschen Bürger charakterisiert.

    Bitte lesen Sie das jetzt noch einmal genau und überlegen Sie, was dieser Wissenschaftler da eigentlich sagt. Neunzig Prozent der Deutschen, so behauptet er, "haben ja sonst kein Bedürfnis, sich zu artikulieren. Hier spricht nicht das bürgerliche, politische Subjekt oder der demokratische Idealbürger, der für das eintritt, was er denkt".


    Mit anderen Worten: Der Sozialpsychologe Welzer ist der Meinung, daß nur zehn Prozent der Deutschen überhaupt das "Bedürfnis haben", sich "zu artikulieren". Er hält uns, die restlichen neunzig Prozent, augenscheinlich für - um ein in der Sarrazin-Diskussion beliebtes Wort zu verwenden - "dumpfe" Köpfe, die gar nicht ausdrücken wollen, was sie politisch denken.

    Wir neunzig Prozent, wir gehören nicht zu denen, die der Sozialpsychologe anschließend kennzeichnet. Sie - zehn Prozent der Deutschen - sind aus seiner Sicht "das bürgerliche, politische Subjekt oder der demokratische Idealbürger, der für das eintritt, was er denkt."

    Sie allein sind laut Welzer "Subjekt" (Karl Marx sagte "Citoyen"); sie allein bestimmen somit die Politik. Sie allein treten - folgen wir Welzer - für das ein, was sie denken.

    Mit anderen Worten: Eine Elite. Die "Avantgarde", wie sie in einem Teil des politischen Spektrum genannt wird.

    Nicht wahr, das ist ein bemerkenswertes Bild unserer Demokratie, das der Wissenschaftler Welzer da entwirft.

    "Da geht die Demokratiesirene an", ist das Interview betitelt. In der Tat, bei dem elitären Denken Harald Welzers geht bei mir die Demokratiesirene an.



    Einen Kommentar zu weiteren Aspekten dieses aufschlußreichen Interviews hat Rayson gestern in B.L.O.G. geschrieben. Ich empfehle ihn zur Lektüre.



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