19. September 2010

Marginalie: Eine Amokläuferin in Lörrach? Das wäre kriminologisch sehr ungewöhnlich. Mit einem aktuellen Nachtrag

"Amoklauf in Krankenhaus in Lörrach"; so stand es bis vor wenigen Minuten in "Spiegel-Online" in einer Meldung von 19.36 Uhr; so begann auch soeben die Tagesschau ihren Bericht.

Während ich ansetzte, dazu zu kommentieren, daß ein Amoklauf einer Frau etwas kriminologisch sehr Ungewöhnliches wäre, änderten sich die Meldungen.

Jetzt schreibt "Spiegel-Online" nur noch von einer "Schießerei", und auch nicht mehr in, sondern "an" einem Krankenhaus in Lörrach. Und in der "Tagesschau" meldete sich ein Reporter vor Ort, dessen Bericht überhaupt nicht mehr nach Amoklauf klang:

Danach war es in einer Wohnung in der Nähe eines Krankenhauses zu einer Detonation gekommen. Danach lief eine Frau aus dem Haus und schoß, wie es heißt, um sich. Sie soll selbst jetzt tot sein, hat aber anscheinend mit ihren Schüssen niemanden verletzt.

Alles also noch sehr mysteriös, aber kein Amoklauf.



Daß die ersten Meldungen über einen solchen Vorfall sich später als falsch oder jedenfalls unzulänglich erweisen, liegt in der Natur der Sache und sollte nicht kritisiert werden.

Nur - warum wird die Unkenntnis, die anfangs oft zwangsläufig herrscht, durch Klischees aufgefüllt? Warum muß es gleich ein Amoklauf sein?




Nachtrag um 22.00 Uhr: Nach den inzwischen hinzugekommenen Informationen erscheint ein Amoklauf nun doch möglich. Amokläufe von Frauen sind aber, wie schon geschrieben, etwas außerordentlich Seltenes.

Hier finden Sie die Zusammenfassung einer kriminologische Untersuchung von 2006, die das belegt. Sie erfaßt 104 Fälle von Amoklauf in zwei Zeitabschnitten (1980-1989 und 1991-2000). Nur in "seltenen Einzelfällen" handelte es sich um eine Täterin.

Laut der Untersuchung zeigten die männlichen Täter folgende Merkmale:
  • Sie waren beruflich gut qualifiziert, aber oft arbeitslos gewesen.

  • Für die Amokläufe gab es die unterschiedlichsten Ursachen bzw. Anlässe; irgend etwas aus dem Alltagsleben.

  • Die meisten Täter zeigten eine von der Norm abweichende Persönlichkeit - passiv, aggressiv, impulsiv, paranoid. Meist waren sie vorbestraft und im Besitz einer Feuerwaffe.

  • Mehr als die Hälfte wurden als psychotisch, paranoid oder depressiv diganostiziert oder hatten eine schwere Persönlichkeitsstörung. Ein weiteres Fünftel stand unter dem Einfluß von Rauschgift.
  • Die Opfer waren den Tätern meist unbekannt. Fast ein Drittel der Amokläufer beging Selbstmord oder wurde von Ordnungskräften getötet.



    Nach gegenwärtigem Kentnisstand erscheint es mir immer noch sehr ungewiß, ob es sich um einen klassischen Amoklauf (also ein ungehemmtes Töten mit dem Ziel, möglichst viele Menschen umzubringen) handelt. Aktualisiert um 21.44 Uhr meldet "Welt-Online":
    Nach Polizeiangaben hatte eine Frau kurz nach 18 Uhr die Klinik betreten und mit einer automatischen Waffe um sich geschossen. Sie traf dabei einen Pfleger tödlich und verletzte einen Polizisten schwer, der sich privat in dem Gebäude aufhielt. (...) Auch auf die alarmierten Einsatzkräfte eröffnete die Frau das Feuer, ehe sie von den Beamten selbst erschossen wurde.
    Die Frau hat also zunächst nur auf dieses einzelne Opfer geschossen. Der Polizist wurde möglicherweise verletzt, als er gegen die Täterin vorzugehen versuchte. Wenn die Frau auf die Einsatzkräfte schoß, dann sind das nicht die Tatmerkmale eines Amoklaufs.

    Wer mit einer automatischen Waffe so viele Menschen töten will wie möglich, der wird im allgemeinen auch zahlreiche Opfer haben. Auch wenn es sich bestätigt, daß die Frau aus einer brennenden Wohnung lief, in der es zwei Todesopfer gegeben hatte, spricht das eher für eine Beziehungstat oder Kurzschlußhandlung als für einen Amoklauf.



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