14. September 2010

Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These

Knapp ein Jahr nach den Bundestagswahlen vom 27. September 2009 ist in Deutschland eine Debatte in Gang gekommen - fast könnte man sagen: losgebrochen -, wie dieses Land sie seit der Wiedervereinigung nicht mehr erlebt hat. Es wird immer deutlicher, daß die Diskussion über die Thesen von Thilo Sarrazin nicht nur eine Auseinandersetzung mit diesem Autor ist; schon gar nicht nur eine Diskussion über das Problem der Integration von Zuwanderern. Es ist eine Diskussion über die Lage unseres Landes.

Es ist eine Diskussion, die vermuten läßt, daß jetzt die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik zu Ende geht. Das jedenfalls ist die These, die ich im folgenden erläutern und begründen möchte.



Die erste Phase - das waren die "Aufbaujahre", die Zeit des "Wirtschaftswunders". Sie war geprägt von demokratischen Politikern aus der Zeit der Weimarer Republik - Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Fritz Schäffer, Kurt Schumacher, Fritz Erler, Theodor Heuss, Thomas Dehler.

Dieser Abschnitt unserer Geschichte war eine Zeit mit zwei Gesichtern; dynamisch und konservativ zugleich.

Auf der einen Seite schaffte es die "Kriegsgeneration", in diesen beiden Jahrzehnten aus dem zerstörten Deutschland das zu machen, was der Kanzler Kohl später in anderem Zusammenhang "blühende Landschaften" nannte. Man spürte förmlich, wie alles von Jahr zu Jahr besser wurde. "Es wird besser besser besser, immer besser besser besser" lautete ein Schlager aus dieser Zeit.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurden aus den halbverhungerten Elendsgestalten der Nachkriegsjahre die Kinder des Wirtschaftswunders. Im Urlaub fuhr man erst mit dem Motorrad in den Schwarzwald, dann mit dem Goggomobil an den Wörthersee, schließlich mit dem VW oder Opel nach Italien. Mit der Währungsreform setzte die "Freßwelle" ein, gefolgt von der "Edelfreßwelle" und schließlich dem Schwenk zu Diät und Gesundheitsbewußtsein; kulminierend in der "Brigitte-Diät", die 1969 das Licht der Welt erblickte.

Wirtschaftlich also ging es stürmisch voran. Auf der anderen Seite war die Adenauer-Zeit aber auch eine Zeit ungewöhnlicher Stabilität; manche sahen das als Verkrustung. Diese wirtschaftlich so dynamische Bundesrepublik war zugleich ein wertkonservatives Land. Ein Land, in dem die Kirchen, vor allem die katholische, ein Ansehen und eine Meinungsmacht hatten, wie man sich das heute kaum noch vorstellen kann.

Mit dem Slogan "Keine Experimente" gewann Konrad Adenauer bei den Bundestagswahlen von 1957 die absolute Mehrheit für die Union. Über die Moral in den Kinos wachte die "Aktion saubere Leinwand" des erzkonservativen katholischen Juristen Adolf Süsterhenn; über das sittliche Wohl der Familien wachte der nicht weniger katholische Familienminister Franz-Josef Wuermeling.

Und doch war das nur die eine Seite dieser gesellschaftlich und kulturell so wenig dynamischen Bundesrepublik. Es gab so etwas wie eine - allerdings auch eher statische, auch auf ihre Art konservative - Gegenmacht in Gestalt des Kulturbetriebs, der ganz überwiegend von (wie man damals sagte) "Nonkomformisten" beherrscht wurde (siehe Wir Achtundsechziger (1): Wie alles anfing; ZR vom 4. 6. 2007. Siehe zum Weiteren auch die anderen Folgen dieser Serie).

Diese erste Phase der Bundesrepublik dauerte ziemlich genau zwanzig Jahre, also knapp eine Generation. Sie begann schon vor der Gründung der Bundesrepublik, nämlich mit der Währungsreform am 20. Juni 1948. Sie endete mit den Studentenprotesten der Jahre ab 1967.



Die zweite Phase, deren Vorboten die Schwabinger Krawalle und die "Spiegel"-Affäre gewesen waren, beide im Jahr 1962, läßt sich am besten durch zwei Slogans aus dem Wahlkampf des Jahres 1969 kennzeichnen: "Wir schaffen das moderne Deutschland" (SPD) und "Wir schaffen die alten Zöpfe ab" (FDP).

Modernisierung war die Parole der Stunde. Raus aus dem - nun nachträglich so empfundenen - Muff der Aufbaujahre! Alle Werte auf den Prüfstand! Anything goes!

Das Verhältnis von Dynamik und Verkrustung kehrte sich jetzt um: Während das Wirtschaftswunder zu Ende ging und der wirtschaftliche Fortschritt sich verlangsamte, während auf die beiden wirtschaftlich dynamischen Jahrzehnte des Aufbaus zwei Jahrzehnte der Konsolidierung, teils auch der Wirtschaftskrisen folgten, brodelte es in der Gesellschaft.

Die Revoluzzerei, die Machtphantasien von Rudi Dutschke und seinen Mitstreitern (die allen Ernstes in Berlin eine Räterepublik errichten wollten; siehe Dutschke und Genossen als Revolutionäre; ZR vom 28. 2. 2009), selbst der Terror der RAF und der "Bewegung 2.Juni" waren es nicht, was der Gesellschaft in dieser Epoche ihre bisherige Stabilität nahm; was sie durcheinanderwirbelte, was sie nachgerade auf den Kopf stellte.

Das war vielmehr - der Begriff paßt hier viel besser als auf die damaligen Ereignisse in China - die Kulturrevolution, die sich zwischen dem Ende der sechziger Jahre und 1989 vollzog.

Eine Familie war noch 1970 selbstverständlich ein Ehepaar mit mindestens einem Kind. Zwanzig Jahre später definierte man Familie als das, "wo Kinder sind" - sei es bei ledigen Müttern oder geschiedenen Vätern, sei es in einer "Kommune", später WG genannt, sei es schließlich auch bei einem gleichgeschlechtlichen Paar.

Im Jahr 1970 war Pornographie noch verboten. Wer damals aus Skandinavien pornographische Produkte nach Deutschland einführte, mußte mit einer Gefängnisstrafe rechnen. 1973 wurde die Pornographie weitgehend freigegeben. Die Erwartung, sie von Jugendlichen fernhalten zu können, erwies sich als irrig.

Die Geburtenziffer (die Kinderzahl pro Frau) lag im Jahr 1965 bei 2,51. Zwanzig Jahre später hatte sie sich auf 1,28 fast halbiert.

Wir Deutschen wurden in diesen zwei Jahrzehnten zwischen dem Ende der sechziger und dem Ende der achtziger Jahre ein anderes Volk. Das Ausland staunte. Da war nichts mehr von "Verboten!" und "Jawoll!". Da gab es vielmehr (zeitweise) Soldaten, denen die Haarpracht unter ihrem Helm bis fast auf die Schultern fiel.

Da duzten sich Lehrer und Schüler, Professoren und Studenten. Bis Ende der sechziger Jahre war der Student im dunklen Anzug, die Studentin im Kleinen Schwarzen zu den Prüfungen erschienen; jetzt setzten sie sich in Jeans und T-Shirt dem Professor gegenüber, der kaum konservativer gekleidet war.

Alle Lebensbereiche wurden von dieser erstaunlichen Metamorphose der Deutschen erfaßt (der Deutschen [West] sollte ich sagen; ich komme darauf).

Statt ins "Restaurant" ging man zum Italiener oder Griechen. Nationalgerichte wie Schweinebraten und Königsberger Klopse verschwanden von der häuslichen Speisekarte; die Mutter - nein, die Kinder nannten sie jetzt schon einmal Inge oder Claudia - servierte jetzt Penne, Risotto oder im Wok gerührtes Chop Suey. Statt daß die Familie am Sonntag "im Sonntagsstaat" in die Kirche ging, radelte man gemeinsam durch Wald und Feld.

Kurz, aus einer Gesellschaft fleißiger, auf Ordnung bedachter Untertanen wurde in diesen zwanzig Jahren eine Gesellschaft von Hedonisten, denen ihr Vergnügen, denen die "Selbstverwirklichung" über alles ging. Von einem "kollektiven Freizeitpark" sprach Helmut Kohl. Statt ihm für diese nur allzu zutreffende Diagnose dankbar zu sein, wurde diese Formulierung von selbsternannten Sprachkritikern 1993 zum "Unwort des Jahres" gekürt.

Politisch wurde diese Epoche in ihren ersten zwei Dritteln - von 1969 bis 1983 - durch das Bündnis von Sozialdemokraten und Liberalen bestimmt; von 1983 an regierte Helmut Kohl. Freilich ohne die "geistig-moralische Wende", die er angekündigt hatte. Etwas ruhiger mag es gegen Ende des Jahrzehnts indes geworden sein. Eine gewisse protzige Gediegenheit hielt Einzug. In den Geschäften sah man nun überall Spiegel und Messing. Deutschland (West) wurde allmählich wieder bürgerlicher. Aus alternativen Hedonisten wurden in dem Maß, in dem sie in der Gesellschaft aufstiegen, hedonistische Philister.



Das erleichterte sehr die Wiedervereinigung, mit der 1990 - also wieder nach gut zwanzig Jahren, einer knappen Generation - diese zweite Epoche zu Ende ging. Sie war eine Wende nicht nur für die ehemalige DDR, die nun fünf "Neue Länder" gebar. Sie war ebenso eine Wende für die alte Bundesrepublik. Was zusammenwuchs, das war eine in vierzig Jahren verkrustete Gesellschaft Ost mit einer zunehmend verkrustenden Gesellschaft West. Der Westen war sozusagen reif für die Verostung, als die Wiedervereinigung sie ermöglichte; ich komme gleich noch einmal darauf.

Zunächst einmal aber war nun, ab 1990, Schluß mit lustig. Die DDR beschäftigte uns Deutsche; umso mehr, je deutlicher die Verbrechen des SED-Regimes, die Ärmlichkeit des Lebens in der DDR für uns sichtbar wurden. Der Aufbau Ost verlangte größte finanzielle Anstrengungen. Er absorbierte auch viele beruflich besonders Qualifizierte; in der Verwaltung etwa, in den Hochschulen. Wir waren voll mit uns selbst beschäftigt.

Derweil veränderte sich die Welt um uns. Aus China kamen nicht mehr Chinakladden und geflochtene Stühle, sondern High-Tech. In Holland, in Neuseeland, dann in immer mehr Ländern begann man zu verstehen, daß es mit dem Sozialstaat so nicht weitergehen konnte; daß dasjenige erforderlich sein würde, was man in einem zunächst ganz positiven Sinn neoliberale Reformen nannte: Eine Verringerung der Soziallasten, die Verschlankung des Staats, mehr Wettbewerbsfähigkeit im Kampf um die globalen Märkte.

Um uns herum war das so. Nicht in Deutschland. Die erste Epoche, die Adenauerzeit, war wirtschaftlich dynamisch gewesen, hatte gesellschaftlich aber eher stagniert. In der zweiten hatte sich die Gesellschaft revolutioniert, bei deutlich niedrigerem Wachstum des Wohlstands. In der dritten Epoche vereinte sich gesellschaftliche Stagnation mit einer abflachenden wirtschaftlichen Dynamik.

In den acht Jahren zwischen der Wiedervereinigung und ihrer Abwahl schleppte sich die Regierung Kohl immer mühsamer dahin; nicht nur ohne den Mut zu den erforderlichen tiefgreifenden Reformen, sondern auch gebremst durch die Verweigerungstaktik der SPD im Bundesrat, geschmiedet und mit aller Skrupellosigkeit durchgesetzt von Oskar Lafontaine.

1998 hätte eine bürgerlich-liberale Regierung die Regierung Kohl ablösen müssen; aber das war sie ja selbst. Stattdessen begannen sieben gespenstische Jahre. Altkommunisten wie Jürgen Trittin und Ulla Schmidt, der einstige Straßenkämpfer Josef Fischer, frühere Juso-Häuptlinge wie Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul versuchten die Restauration.

Diese Leute - diese Kohorte der um 1945 Geborenen - repräsentierten das Denken der siebziger Jahre. Diese hatten sie geprägt. Über diese waren sie nicht hinausgekommen; außer daß sie in unterschiedlichem Maß zynisch geworden waren.

Als sie endlich - eine ganze Generation zu spät - an die Macht kamen, wollten sie diesen Geist der siebziger Jahe restaurieren, wollten sie die damaligen Idee neu beleben.

Eine Restauration also wie einst die Restauration der Bourbonen, nachdem Bonaparte besiegt worden war. Nur hatten die Bourbonen zuvor schon einmal regiert, während diejenigen, die das Rad auf 1970 zurückdrehen wollten, erst an der Schwelle zum Rentenalter überhaupt an die Macht gekommen waren. Sie waren aus der Gruft gestiegen wie die Untoten im "Tanz der Vampire" und versuchten nun den Tanz; das heißt: Sie wollten die Verhältnisse zum Tanzen bringen, wie ihnen das Karl Marx mit auf den Lebensweg gegeben hatte.

Nur drehten sie sich im Kreise, völlig losgelöst von der Realität dieser Jahre vor und nach der Jahrtausendwende. "Neoliberale Reformen" wurde nun ein Schimpfwort. Deutschland wurde zeitweise von der Wirtschaftslokomotive der EU zu einem der Schlußlichter. Man begann in der Wirtschaft von der "deutschen Krankheit" zu sprechen.

Und wie sah es in Kultur und Gesellschaft aus? Dieselbe Generation derer, die in den siebziger Jahren die bleibenden Eindrücke ihres Lebens empfangen hatten, war, wie in der Politik, so nun auch in diesen Bereichen an der Macht; freilich nicht spät und plötzlich durch eine gewonnene Wahl, sondern am Ende des Langen Marschs durch die Institutionen.

Sie saßen auf den Lehrstühlen, kontrollierten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, stellten viele der Chefredakteure und Ressortleiter der Wochenzeitungen und der überregionalen Tagespresse. Sie selbst oder ihre ehemaligen Studenten unterrichteten die Kinder; sie halfen als Sozialarbeiter den Armen und als Therapeuten den sinnsuchenden Lehrern und sonstigen Angehörigen des im öffentlichen Dienst tätigen Mittelstands.

Sie übernahm die Leitung der Gesellschaft, diese Kohorte der um 1945 herum Geborenen; nicht nur im klassischen linken Bereich. Daß der Mitgründer einer Gruppe wie "Revolutionärer Kampf", die für eine proletarische Revolution in Westeuropa kämpfte, einmal Herausgeber seines Flaggschiffs "Die Welt" werden könnte, hätte sich Axel Springer gewiß nicht träumen lassen.

Wie in der ersten Epoche hatte das Land wieder seine Präzeptoren, die den Menschen sagten, was gut und böse ist, was sie tun und lassen sollen. Nur waren es nicht mehr die christlichen Kirchen. An die Stelle der Priester traten die Hohepriester einer Ideologie, gemixt aus Marxismus, Ökologismus und einem Schuß dessen, was man später Gutmenschentum nannte.

Schon in den Schulen wurden die Kinder mit dieser Ideologie geimpft, so wie ihre Großeltern in der katholischen oder evangelischen Konfessionsschule erzogen worden waren. Intellektuelle, die sich Tabus näherten, wurden einer gnadenlosen öffentlichen Ächtung unterworfen. Dem Tabubrecher Martin Walser erging es in der Restaurationszeit des Jahres 1998 ungleich schlimmer als dem Tabubrecher Günter Grass 1959, zur Zeit des Kanzlers Adenauer und des Tugendwächters Adolf Süsterhenn.

Kurz, wenn die Adenauerzeit von einem Hauch Mehltau überzogen gewesen war, dann lagerte auf dieser dritten Epoche eine armdicke Schicht von Mehltau. Die Offenheit und die gesellschaftliche Dynamik der zweiten Epoche waren verloren. Aus den einstigen Revolutionären waren engstirnige Wächter über politische Korrektheit, über das Einhalten von Tabus geworden. Nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren Nonkonformismus, waren eigenständiges Denken so geächtet wie in dieser Zeit, die mit der Wiedervereinigung begann und die jetzt - so scheint es mir - zu Ende geht.

Die nicht zufällig mit der Wiedervereinigung begann. Denn in diesem Übermaß an gesellschaftlicher Kontrolle, diesem Versuch einer Vereinheitlichung der Normen und Werte traf sich diese westdeutsche Elite der gealterten Achtundsechziger mit der Herrschaftselite der DDR.

Gewiß, in die einstige DDR zogen demokratische Verhältnisse ein. Aber parallel dazu hielt in Westdeutschland ein Konformismus seinen Einzug, wie es ihn in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hatte. Verostung war nicht nur bei nachlässiger werdenden Kellnern und arrogantem Bahnpersonal zu spüren, sondern auch in diesem sich ausbreitenden Wir-Gefühl, aus dem heraus jeder Andersdenkende als ein Feind wahrgenommen wurde, den es zu bekämpfen galt.

Diese Dominanz war ohne Gegengewicht. Denn einen bedeutsamen Unterschied gab es zur Adenauerzeit: Damals standen, wie erwähnt, der herrschenden konservativen Elite die "Nonkonformisten" gegenüber. Sie wurden zwar von oben kritisiert - von "Pinschern" sprach Ludwig Erhard -, aber sie beherrschten den Kulturapparat. In der dritten Epoche fehlte ein solches Gegengewicht. Die Achtundsechziger und ihre Epigonen beherrschten die Institutionen; und keine andersdenkenden Schriftsteller, Künstler, Publizisten von Gewicht stellten sich ihnen entgegen. Alle waren ja irgendwie "linksliberal".

Es gab zu Adenauers Zeit Autoren, die mit den herrschenden Überzeugungen mindestens so hart ins Gericht gingen wie jetzt Thilo Sarrazin. Erich Kuby beispielsweise mit seinem Buch "Das ist des Deutschen Vaterland" (1957); Kurt Pritzkoleit mit "Wem gehört Deutschland?" (ebenfalls 1957); Rudolf Augstein unter seinem Pseudonym Jens Daniel, der vor kaum einem Tabu der damaligen Zeit halt machte.

Niemand hat sie damals öffentlich zu diffamieren, sie bis in ihre bürgerliche Existenz hinein zu bekriegen versucht, so wie das in diesen Tagen mit Thilo Sarrazin geschieht. Jedem Versuch einer solchen Diffamierung wäre sofort die Phalanx der "Gruppe 47" entgegengetreten. Es hätte Aufrufe, Zeitungsartikel, Interviews zugunsten des Diffamierten gegeben. So allein wie jetzt Thilo Sarrazin hätte niemand gestanden, der in den fünfziger oder sechziger Jahren herrschende Auffassungen kritisierte.



Ich habe diese dritte Epoche im Imperfekt beschrieben, weil ich es für wahrscheinlich halte, daß sie jetzt zu Ende geht. In dieser Affäre Sarrazin - man wird sie inzwischen so nennen dürfen - hat sich etwas vollzogen, was durchaus Ähnlichkeit mit den Studentenprotesten hatte, unter denen die Adenauerzeit zu Ende ging.

Heute geht man zum Protestieren nicht mehr unbedingt auf die Straße; so wenig, wie man jemanden noch stets zu Haus aufsucht, wenn man ihm etwas mitzuteilen hat. "Demonstrationen" sind Rituale von gestern.

Heute bricht sich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf eine andere Art Bahn; setzt sie sich auf eine andere Weise durch. Ich habe das vor einer Woche beschrieben (Sarrazin und die Folgen. Haben wir in Deutschland noch eine Demokratie?; ZR vom 6. 9. 2010): Durch Anrufe bei Sendern, durch Eintragungen in Gästebücher, durch Mails und SMS; durch Diskussionsbeiträge in den Blogs und Foren.

Und es funktioniert. Nach zwanzig Jahren seit der Wiedervereinigung, nach wiederum einer knappen Generation also, könnte Deutschland reif sein für ein Ende dieser Epoche, in der das freie Wort zwar nicht verboten, aber mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt war wie nie seit der Gründung der Bundesrepublik.

Ich freue mich, daß Norbert Bolz, von dem man stets Kluges liest, zu einer sehr ähnlichen Beurteilung gekommen ist.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Faksimile der Verkündigungsformel des Grundgesetzes; frei von Urheberrecht gemäß § 5 UhrG. Für eine vergrößerte Ansicht bitte auf das Bild klicken. Mit Dank an Calimero.