28. Februar 2009

"So macht Kommunismus Spaß" (7): Dutschke und Genossen als Revolutionäre. Räteherrschaft in Westberlin. "Dieser revolutionäre Kampf ist furchtbar"

Die meisten Versuche, die Geschichte der RAF aufzuarbeiten, konzentrieren sich, wie in der letzten Folge beschrieben, auf die Angehörigen dieser Gruppe und ihre persönliche Vorgeschichte. Das wäre gerechtfertigt, wenn der Weg zur gewaltsamen Revolution in Deutschland das Ergebnis eines sozusagen einsamen Entschlusses dieser Gruppe gewesen wäre.

Das ist aber nicht der Fall. Was die Angehörigen der RAF von Dutschke, Semler und den anderen Anführern der "Studentenbewegung" unterschied, war nicht die Entschlossenheit zur Revolution, sondern die Bereitschaft, diesen Entschluß auch in die blutige Tat umzusetzen.

Wie sehr aber bereits die nach außen hin alles in allem friedlich auftretenden Anführer vor allem aus dem SDS auf Revolution und Gewalt setzten, kann man erst ermessen, wenn man interne Dokumente heranzieht - Rudi Dutschkes Tagebuch zum Beispiel; Papiere, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren; Protokolle von Besprechungen, auch Spitzelberichte darüber.

Dieses Material aufgearbeitet zu haben ist das Verdienst von Götz Aly mit seinem Buch "Unser Kampf. 1968 - ein irritierender Blick zurück". Auf die Schwächen dieses Buchs habe ich in der vergangenen Folge hingewiesen. Sein Verdienst, dieses Material erschlossen und zusammengestellt zu haben, ist davon unberührt. Wenn nicht anders angegeben, stütze ich mich auf sein Buch.



Die Rede ist im folgenden nicht von "den Studenten" oder "den Achtundsechzigern". Da gab es viele Gruppen und Strömungen, wie in der letzten Folge beschrieben. Es geht um die Pläne, die in der Gruppe der Anführer kursierten - von Leuten wie Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Wolfgang Lefèvre, Christian Semler.

Welches war deren politisches Ziel? Wie wollten sie es erreichen?

Laut Johannes Agnoli, etwas älter als diese Studenten, aber auf ihrer Linie, war das Ziel "die Organisation des Klassenkampfs und die Desintegration der Gesellschaft [als der] erste Schritt zur Verwirklichung der Demokratie".

Wie das politische System der "Demokratie" aussehen sollte und wie man dahin kommen wollte, erläuterten im Jahr 1968 Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler in einem Gespräch mit Hans- Magnus Enzensberger, das im "Kursbuch" abgedruckt wurde.

Aly zitiert kurz daraus. Ich habe jetzt - zum ersten Mal wieder seit vierzig Jahren - die betreffende Nummer des "Kursbuchs" (14/1968) in die Hand genommen. Beim Beginn des Gesprächs auf Seite 146 hatte ich ein Lesezeichen eingelegt; ich muß es also damals für wichtig gehalten haben.

Enzensbergers Gesprächspartner sind sich völlig einig darüber, daß es um nichts weniger als "die Revolution" geht; und sie verstehen darunter einen gewaltsamen Umsturz. Bernd Rabehl (S. 154):
Wir sollten die Frage stellen, welche gesellschaftlichen Schichten bereit sind, bis zur radikalen Gewalt zu gehen; das System zu beseitigen. Wir sollten z.B. die Versuche der amerikanischen Liberalen sehr hoch einschätzen, wir sollten uns darüber nicht erheben, wir sollten aber wissen, daß sie unfähig sind, den letzten Schritt zu tun, die Sprache der Gewalt zu sprechen.
Man war sich in der Runde offenbar einig, daß es bei Studenten, überhaupt allgemein der Intelligenz, an Bereitschaft zur revolutionären Gewalt hapert und diskutierte folglich darüber, was man dagegen tun könne. Dutschke trat (S. 156) für die Schaffung eines "Gegenmilieus" durch den Kampf ein, so daß
aus Gruppen, Individuen, Schichten, daß aus diesem ganzen Brei durchaus - nicht durch Selbstbewegung, sondern durch kämpferische Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutive - eine Basis ... in Gestalt von Gegenmilieu entstehen kann.
Semler dagegen setzte (S. 157) eher auf die Gewaltbereitschaft des Proletariats:
Der Vergleich zwischen Demonstrationsformen von Studenten und Arbeitern in anderen Ländern zeigt uns ganz deutlich, daß für die Arbeiter im Grunde jede Demonstration den Keim des Bürgerkrieges in sich trägt.
Man kam dann (S. 161) auf die Illegalität zu sprechen, die sowohl Dutschke ("den Schritt zu tun zum Widerstand, zur Desertion, zur Unterstützung der Desertion, zur illegalen Arbeit") als auch Rabehl ausdrücklich befürworteten. Rabehls Kommentar dazu liest sich fast wie das Konzept der RAF:
Illegalität, wenn sie nicht dilettantisch bleiben will, bedeutet, daß man gegen den Staatsapparat operiert, daß also gerade das psychische Moment des Friedens zurückgenommen wird und eine streng disziplinierte Organisation entsteht. Eine illegale Organisation bedeutet aber auch die Entwicklung neuer Bedürfnisse: direkte Solidarität, direkte Freundschaft zu den einzelnen Mitgliedern dieser Organisation (...) Insofern glaube ich, daß sich in einer illegalen Organisation Ansätze zu einer neuen Gesellschaft bilden können.



Waren das Spinnereien für den Sankt- Nimmerleinstag? Keineswegs. Beabsichtigt war die Revolution zunächst in Westberlin, und zwar innerhalb der nächsten Jahre (siehe unten). Das Ziel war eine Räteherrschaft in der Art der Pariser Commune, die dann sowohl in die DDR als auch die Bundesrepublik ausstrahlen und auch dort Revolutionen in Gang setzen sollte

Es gab auch schon ganz konkrete Überlegungen für Ausübung der Herrschaft nach der Revolution. Rabehl (S. 166): "Aber nun noch eine andere Frage: Was machen wir mit den Bürokraten? (...) Ein Großteil der Bürokraten wird nach Westdeutschland emigrieren müssen". Dutschke widersprach: "Niemand darf weggeschickt werden, sondern alle sind produktive Kräfte".

Und Semler steuerte (S. 170) die Idee bei: "Zum Beispiel darf es nie mehr Richter geben, darf es nie mehr einen Justizapparat geben". Auch Dutschke ging (S. 171) davon aus, "daß die Juristerei und die Polizei abgeschafft wird".

Das waren, wie gesagt, nicht Utopien für eine ferne Zukunft. Es war das, was man in Westberlin nach der Revolution machen wollte, die man dort unmittelbar vorbereitete.

Unter dem Pseudonym R.S. beschrieb Rudi Dutschke am 12. Juni 1967 in einer Publikation namens "Oberbaumblatt" im Detail, wie er sich die Revolution in Westberlin vorstellte: Die staatlichen Institutionen sollten einer "kontinuierlich gesteigerten Belastung ausgesetzt" und "tief erschüttert" werden.

Mit welchen Mitteln, notierte er in seinem Tagebuch: "Gegengewalt demonstrieren und praktizieren (Schutztruppe - Karateausbildung - bei Knüppeleinsatz - Molotowcocktails)".

Das Ergebnis sollte sein, daß "Parlament, Parteien und Exekutive" abgeschafft sind.

Die Westalliierten würden sich dieser Revolution nach Dutschkes Ansicht nicht in den Weg stellen, weil sie vor einem Blutbad zurückscheuen würden. Allerdings sollten sie für die Revolution sehr wohl eine Rolle spielen, nämlich "einige Sondermaschinen für den Abtransport der funktionslos gewordenen Politiker und Bürokraten" zur Verfügung stellen. Ein Jahr später, in dem Gespräch mit Enzensberger, hatte Dutschke in diesem Punkt seine Meinung offenbar geändert.

Am 24. und 25. Juni 1967 fand im Metaller- Heim Berlin- Pichelsdorf so etwas wie eine Strategie- Tagung der Revolutionäre statt; zu den Teilnehmern gehörten Dutschke, Rabehl, Semler und Lefèvre.

Und es nahm Dietrich Staritz teil, ein Spitzel des Verfassungsschutzes (und auch der Stasi). In seinem Bericht werden die Maßnahmen aufgelistet, die zur Machtergreifung führen sollten.

Man einigte sich auf eine Revolution in fünf Stufen. Sie reichten von einer "Verstärkung der politischen Unruhe durch studentische Demonstrationen und Willenskundgebungen" über den "Versuch, wilde Streiks zu organisieren, in deren Verlauf sich spontan Räte bilden könnten" bis zu einer "Massenbewegung, die in der Lage sein könnte, den Senat, sprich die bisherige politische Obrigkeit aus den Angeln zu heben". Das alles sollte in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren zur Machtergreifung führen.

Ja, zur Machtergreifung. Zwei Tage nach dieser Konferenz notierte Dutschke in seinem Tagebuch: "In der Kneipe 'Machtergreifungsplan' 'ausgepackt". Riesige Überraschung".



Eine "riesige Überraschung" hätte vermutlich auch viele der protestierenden Studenten erfaßt, wenn sie gewußt hätten, daß es ihren Anführern - jedenfalls dieser dominierenden Gruppe - nicht um eine Reform der Universität ging (diese sollte abgeschafft werden) und auch nicht um eine Reform der Gesellschaft. Es ging ihnen um die Revolution.

Gewalt wurde dabei ausdrücklich nicht ausgeschlossen.

In seinem Tagebuch schwärmte Dutschke geradezu von der Gewalt in der Dritten Welt ("Che lebt und arbeitet in Bolivien. (...) Kämpfen schon mit Raketenwaffen!! Vietcong erst vor kurzem erhalten!")

Und in einem Brief, den Dutschke zusammen mit Gaston Salvatore 1967 an das Exekutivsekretariat einer internationalen linken Organisation namens OSPAAL richtete, heißt es:
Der Kampf allein bringt die Herstellung des revolutionären Willens. Dieser revolutionäre Kampf ist furchtbar, aber furchtbarer würden die Leiden der Völker sein, wenn nicht durch den bewaffneten Kampf der Krieg überhaupt von den Menschen abgeschafft wird.


Das bisher Zitierte könnte man wohlwollend noch so interpretieren, daß die Revolutionäre zwar Gewalt in der Dritten Welt befürworteten, daß sie aber meinten, in Westberlin und dann in ganz Deutschland die Machtergreifung auch ohne unmittelbare physische Gewalt hinzubekommen - als eine friedliche Revolution, wie sie zwanzig Jahr später in der DDR Wirklichkeit werden sollte.

Aber die Dokumente besagen etwas anderes. Wie Dutschke, Rabehl und Semler offen über Gewalt diskutierten, habe ich schon zitiert. 1968 forderte ein anonymer Autor im "FU-Spiegel", dem Berliner Studentenblatt, das damals fest in der Hand des SDS war, "Psychoterror gegen Richter und Staatsanwälte".

Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes wurden im selben Jahr auf einer Delegiertenkonferenz des SDS Flugblätter mit Anleitungen zur Herstellung von Sprengmitteln verteilt.

Am 1. November desselben Jahres wurden Brandbomben gegen das Frankfurter Justizgebäude geworfen. Im April 1969 fand eine Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt statt, auf der auch eine "Gruppe Technologie" auftrat. Deren Thesenpapier begann mit einer Anleitung zum Bau von Molotow- Cocktails.



Gewiß gab es bei Dutschke und Genossen keine Pläne zur gezielten Ermordung von Menschen. Sie ließen offen, wie sich die "revolutionäre Gewalt" in Deutschland entwickeln würde. Aber Gewalt hielten sie für erforderlich.

Die beiden Strategie- Papiere der RAF - "Das Konzept Stadtguerilla" und "Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa" - waren radikalere Konkretisierungen dessen, was Dutschke und Genossen wollten. Die Strategie der RAF basierte auf der ja nicht falschen Erkenntnis, daß "die Macht aus den Gewehrläufen kommt", wie ein damals vielzitiertes Mao-Wort lautete.

Dutschke und Genossen hatten das für Asien und für Lateinamerika akzeptiert und das dortige Blutvergießen befürwortet. Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und ihre Genossen zogen die logische Konsequenz, es auf Westeuropa auszudehnen, nachdem sie zu der Einsicht gekommen waren, daß anders die sozialistische Revolution nicht würde gelingen können.

Die Revolution, die sie ebenso wollten wie Dutschke und Genossen. Als dieser am Grab von Holger Meins sein berühmtes "Holger, der Kampf geht weiter!" sprach, haben sich viele gewundert, wieso Dutschke sich derart mit einem Terroristen solidarisieren konnte.

Es war aber ein- und derselbe Kampf, den Dutschke und Meins geführt hatten. Nur mit verschiedenen Mitteln.



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