5. Februar 2009

Sind es Unschuldige, die Steinmeier aus Guantánamo aufnehmen will? Über die Karriere des Abu-Sayyaf al-Shihri

Vor ein paar Tagen hat Frank- Walter Steinmeier noch einmal klargestellt, welche Häftlinge aus Guantánamo er gern in Deutschland aufnehmen möchte: Solche, "die die Amerikaner heute für unschuldig halten und die aus humanitären Gründen nirgendwo anders hin können". Ein bemerkenswerter, ein seltsamer Satz.

Zum einen: Welcher freigelassene Häftling sollte denn "nirgendwo anders hin können" als ausgerechnet nach Deutschland? Wieso kann er beispielsweise nicht in die USA entlassen werden, auf deren (gepachtetem) Terrain er sich ja gegenwärtig befindet?

Und wenn die USA den Betreffenden nicht wollen - warum kann er dann nicht, sagen wir, in Schweden, dem Iran oder der Südafrikanischen Republik Asyl beantragen? Daß irgendwer "nirgendwo anders hin" kann als allein nach Deutschland, ist eine wahrhaft seltsame Behauptung. Es sei denn, es handelte sich um einen deutschen Staatsbürger. Bei ihm aber würde sich ein Aufnahme- Angebot erübrigen; er darf selbstverständlich in sein Land zurückkehren.

Zweitens spricht Steinmeier von Häftlingen, "die die Amerikaner heute für unschuldig halten".

Solche Häftlinge gibt es in Guantánamo nicht. Jedenfalls nicht nach dem, was bisher bekannt ist. Vielleicht hat ja die Außenministerin Clinton ihrem Kollegen bei seinem Antrittsbesuch neue Informationen übergeben.

Nach bisherigem amerikanischen Verständnis sind die in Guantánamo Inhaftierten enemy combatants, feindliche Kämpfer. Sie wurden innerhalb von Kampfhandlungen gefangen genommen; allerdings nicht als Soldaten, sondern als - wie immer man das nennen mag - Freischärler, Partisanen, irreguläre Kämpfer, Guerrilleros, Insurgenten. Im deutsch- französischen Krieg von 1870/71 nannte man sie Franctireurs; das Phänomen ist ja nicht neu.



Diese Leute als "unschuldig" zu bezeichnen, geht an der Sache vorbei. Sie werden, wie jeder Kriegsgefangene, festgesetzt, damit sie den Kampf nicht fortführen können. Niemand kam bisher auf den Gedanken, jedem einzelnen Kriegsgefangenen müsse ein Tötungsdelikt oder eine sonstige Tat nachgewiesen werden, damit er in einem Lager gefangen gehalten werden darf.

Um solche enemy combatants also geht es jetzt; nicht um brave Familienväter, die auf der Suche nach einem verirrten Schaf unglücklich übers Schlachtfeld liefen. Sie umfassen in der Tat verschiedene Gruppen; aber nicht "Schuldige" und "Unschuldige"; sondern die Einteilung erfolgt nach anderen Kriterien.

Welchen, darüber hat im vergangenen November Benjamin Wittes, ein auf dieses Thema spezialisierter Wissenschaftler, in der Washington Post einen informativen Artikel geschrieben; ich habe damals darüber berichtet:
  • Gefangene, die für ein Strafverfahren in Frage kommen, weil man hinreichende Beweise hat, daß sie persönlich an einem Delikt beteiligt waren. Sie werden auch unter der Regierung Obama in Haft bleiben; nur wird man sie nach der Schließung von Guantánamo woanders hin verlegen, bis ihnen der Prozeß gemacht ist. Es sei denn, die Regierung sorgt für eine Änderung der jetzigen Rechtslage.

    Die zweite und dritte Gruppe umfaßt Kämpfer, denen man nicht nachweisen kann, daß sie persönlich, sagen wir, eine Bombe gelegt haben.

  • Diejenigen in der zweiten Gruppe werden als immer noch so gefährlich eingestuft, daß die USA - unter der bisherigen Regierung - es nicht verantworten wollten, sie freizulassen.

  • Und dann gibt es die dritte Gruppe, um die es jetzt geht: Enemy combatants, von denen man - zum Beispiel, weil sie sich glaubhaft vom Dschihad abgewandt haben - annimmt, daß sie nicht wieder in den Kampf zurückkehren werden.
  • Die Unterscheidung zwischen den Gruppen zwei und drei ist zwangsläufig schwierig; es ist eine Frage der Sozialprognose. Wie bei einem auf Bewährung entlassenen Strafgefangenen kann diese sich als falsch erweisen.

    So war und ist es auch hier. Alle Gefangenen, die von den USA bisher freigelassen wurden, waren der dritten Gruppe zugerechnet worden. Aber etliche - ich habe vor drei Wochen auf sechs solche Fälle hingewiesen - kehrten nachweislich in den Dschihad zurück.

    Wie viele darüber hinaus, das ist natürlich unbekannt; erfassen kann man nur diejenigen, die erneut gefangen genommen wurden oder deren Identität auf einem anderen Weg mehr oder weniger zufällig ermittelt werden konnte. Die US- Behörden gehen davon aus, daß Dutzende der Freigelassenen wieder im Dschihad sind; für rund 60 gilt das als bewiesen oder wahrscheinlich.



    Bei denjenigen, deren Fälle ich in dem Artikel beschrieben hatte, handelte es sich um Kämpfer aus den unteren oder mittleren Rängen. Der höchstrangige war Maulvi Abdul Ghaffar, der nach seiner Entlassung nach Afghanistan zurückkehrte und dort zum Provinz- Kommandeur der Taliban aufstieg.

    Jetzt aber ist ein Fall eines anderen Kalibers bekannt geworden: Derjenige von Abu- Sayyaf al-Shihri (eigentlich Ali al-Shihri; Abu- Sayyaf ist sein Kampfname).

    Seine Biographie, wie man sie in der International Herald Tribune und bei msnbc nachlesen kann, ist instruktiv und beklemmend:

    Der jetzt fünfunddreißigjährige Shihri stammt aus der saudi- arabischen Hauptstadt Riyad, wo seine Familie einen Möbelhandel betreibt. Zwei Wochen nach dem Attentat vom 11. September reiste er über Bahrain und Pakistan nach Afghanistan. Wie er später im Verhör in Guantánamo sagte, wollte er dort humanitäre Arbeit (relief work) leisten. Tatsächlich wurde er, wie aus den Dokumenten hervorgeht, in einem Terror- Camp nördlich von Kabul in Stadtguerrilla (urban warfare tactics) ausgebildet.

    Die Dokumente besagen auch, daß er von Afghanistan in den Iran reiste, um von dort Kämpfer nach Afghanistan zu schleusen. Er selbst behauptete, er sei dorthin gefahren, um Stoffe für das Geschäft seiner Eltern einzukaufen.

    Shihri wurde während des Afghanistan- Kriegs bei einem Luftangriff verletzt und bei dem Versuch, daraufhin aus Afghanistan nach Pakistan zu fliehen, an der Grenze festgenommen. Nachdem er eineinhalb Monate in einem Krankenhaus verbracht hatte, wurde er nach Guantánamo verbracht, wo er bis zum November 2007 inhaftiert war.

    Er wurde freigelassen, nachdem er beteuert hatte, daß er nach der Freilassung in den Schoß seiner Familie nach Riyad zurückkehren und im dortigen Geschäft arbeiten wolle. In der Tat nahm er nach der Rückkehr nach Saudi- Arabien an einem Wiedereingliederungs- Programm für ehemalige Terroristen teil.

    Er durchlief brav dieses Programm. Danach - vor ungefähr zehn Monaten - verschwand er.

    Jetzt ist er wieder aufgetaucht, und zwar im Jemen. Die dortige Kaida hat ein Video ins Netz gestellt, in dem sie unter anderem mitteilt, daß er der neue stellvertretende Kommandeur der Kaida- Organisation im Jemen ist. In dem Video läßt er sich so vernehmen:
    By Allah, imprisonment only increased our persistence in our principles for which we went out, did jihad for, and were imprisoned for.

    Bei Allah, die Gefangenschaft hat unsere Treue zu unseren Prinzipien nur verstärkt, für die wir aufbrachen, für die wir den Dschihad führten und für die wir eingesperrt wurden.



    Auf den Fall Abu-Sayyaf al-Shihri bin ich durch einen kürzlichen Artikel von Fred Burton and Scott Stewart bei Stratfor aufmerksam geworden.

    Dort findet man, wie meist bei Stratfor, aufschlußreiche Hintergrund- Informationen. Drei Punkte erscheinen mir besonders interessant:
  • Es gehört zum Ausbildungs- Programm von Dschihadisten, daß sie auf die Gefangenschaft vorbereitet werden. Sie lernen, physisch und psychisch zu widerstehen und werden instruiert, daß das Erleiden der Gefangenschaft Teil ihres Kampfes sei. Daß ein Gefangener scheinbar reuig ist, in Wahrheit aber nur darauf wartet, wieder in den Dschihad zurückzukehren, ist also normal. Er rechnet damit, "umerzogen" zu werden und sieht das als Teil dessen an, worauf man ihn vorbereitet hat.

  • Die zentrale Botschaft des jetzigen Videos ist, daß eine gemeinsame Kaida- Kommando für die gesamte arabische Halbinsel geschaffen wurde; geleitet von dem Jemeniten Nasir al-Wuhayshi und mit Shihri als seinem Stellvertreter aus Saudi- Arabien. Die bisherige eigenständige Kaida- Organisation von Saudi- Arabien wird aufgelöst. Die Autoren von Stratfor sehen darin eine Aufwertung des Kaida- Ablegers im Jemen, nachdem es den saudischen Behörden gelungen ist, die Kaida in Saudi- Arabien weitgehend auszuschalten. Nasir al-Wuhayshi hat unter Bin Laden in Afghanistan gekämpft und es bis zu dessen Stellvertreter gebracht. Er wird als ein ungewöhnlich fähiger Mann eingeschätzt.

  • Im Hintergrund des Videos ist eine Flagge der Islamischen Republik Irak zu sehen. Zwischen den Kaida- Organisationen des Irak und des Jemen bestehen enge Verbindungen. Ein Teil der jemenitischen Dschihadisten hat zeitweilig im Irak gekämpft, ist jetzt in den Jemen zurückgekehrt und hat mit den im Irak erworbenen Erfahrungen die dortige Organisation gestärkt.



  • Um zum Außenminister Steinmeier zurückzukehren: Abu- Sayyaf al-Shihri, der frischgebackene Stellvertreter al-Wuhayshis, gehörte bei seiner Freilassung in diejenige Gruppe von Guantánamo- Häftlingen, die laut Steinmeier "unschuldig" sind.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.