11. Februar 2012

Kleines Klima-Kaleidoskop (26): Ist Vahrenholt "widerlegt"? Über Daten, Theorien und wissenschaftliche Diskussionen (Teil 1)

"Bewegt sich jetzt doch etwas in der Klima-Diskussion?" hieß die vorige Folge dieser Serie (ZR vom 31. 1. 2012). Vielleicht ist es in der Tat so, daß jetzt eine gewisse Bewegung in diese Diskussion kommt; jedenfalls, sofern sie für die Öffentlichkeit sichtbar ist. In der aktuellen "Zeit" (7/2012 vom 9. 2. 2012), publiziert auch auch auf "Zeit-Online", ist zum Beispiel ein Artikel von Toralf Staud zu lesen, der sich u.a. damit befaßt, daß seit den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts sich die Erde nicht mehr erwärmt hat.

Staud akzeptiert das als wissenschaftliches Faktum. Das ist die gute Nachricht; denn noch vor einem Jahr leugnete beispielsweise der in der Öffentlichkeit sehr bekannte Potsdamer Ozeanologe Stefan Rahmstorf vor dem Verkehrsausschuß des Bundestags diesen Sachverhalt. Aus der damaligen Pressemitteilung:
Die durch den Menschen verursachte Erwärmung der Erde macht trotz regional zu beobachtender Schwankungen "keine Pause". Das machte Professor Stefan Rahmstorf vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung in einem öffentlichen Experten­gespräch im Verkehrsausschuss am Mittwochvormittag deutlich. In den letzten Jahrzehnten sei ein "linearer Erwärmungstrend" zu beobachten, sagte Rahmstorf und verwies darauf, dass der dafür verantwortliche Anstieg von Kohlendioxid "komplett vom Menschen verursacht wird".
Ja, der Anstieg der Konzentration von CO2 in der Atmosphäre wird freilich komplett vom Menschen verursacht; niemand bezweifelt das. Die Frage ist nur, ob er ebenso komplett für einen "linearen Erwärmungstrend" verantwortlich ist - für einen linearen Trend, den zu konstatieren es schon eines gewissen, sagen wir, tapferen Blicks auf die Daten bedarf. Ein "linearer Trend" ist bekanntlich ein Anstieg um einen - von Zufallsabweichungen abgesehen - konstanten Betrag, Jahr für Jahr.

Daß es seit mehr als einem Jahrzehnt keinen Anstieg der globalen Temperaturen gibt, habe ich immer wieder einmal erwähnt; zuletzt im Oktober 2011 sowie kürzlich in der vorletzten und der letzten Folge dieser Serie. Wie wenig der Trend in den Temperaturdaten dem - in der Tat trotz allen "Klimaschutzes" unverdrossen linearen - Anstieg der CO2-Konzentration folgt, können Sie anschaulich dem Bild 1 in diesem Artikel des Chemikers Rudolf Kipp im "Science­Skeptical­Blog" entnehmen. Ich empfehle diesen Artikel, dem ich auch den Hinweis auf die Äußerung Rahmstorfs verdanke; wie überhaupt der Blog sehr lesenswert ist.



Die gute Nachricht also ist, daß der "Zeit"-Autor Toralf Staud die Daten nicht leugnet; er ist insofern kein, nennen wir es so, "Klimaleugner". Die schlechte Nachricht betrifft die Art, wie er diese Befunde diskutiert. Das veranlaßt mich, ein paar grundsätzliche Bemerkungen über Daten, Theorien und wissenschaftliche Diskussionen zu machen.

"Skeptiker im Faktencheck" ist der Artikel Stauds überschrieben. Es geht um das kürzlich erschienene Buch von Fritz Vahrenholt und Sebastian Lüning "Die kalte Sonne", das sich kritisch mit der Theorie der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung (anthropogenic climate change = ACC) befaßt. Im Vorspann zu Stauds Artikel heißt es bündig:
Fritz Vahrenholts Buch "Die kalte Sonne" enthält zahlreiche umstrittene wissenschaftliche Behaupt­ungen. Sieben dieser Thesen werden hier widerlegt.
Schon diese Formulierung - ob sie nun von Staud stammt oder von der Redaktion - läßt Schlimmes ahnen. Denn daß in einer Naturwissenschaft, noch dazu mit einem so extrem komplexen Gegenstand wie dem Weltklima, "Thesen widerlegt" werden können wie einst in der mittelalterlichen Scholastik, ist ein außerordentlich seltener Fall.

Es kommt vor. Manchmal kann ein einziges Experiment eine Theorie zusammenbrechen lassen, wie der Versuch von Michelson und Morley 1887 die "Äther"-Theorie (siehe "Schnee wie seit Jahrzehnten nicht mehr". Statt globaler Erwärmung eine neue Eiszeit?; ZR vom 15. 12. 2008). In der Regel aber funktioniert es anders. Wie, das lassen Sie mich ein wenig erläutern, bevor ich mich im zweiten Teil Stauds "Widerlegung" zuwende.

In einer Naturwissenschaft gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen Daten und theoretischen Formulierungen (Theorien, Hypothesen, Modellen; ich nenne sie im folgenden zusammenfassend "theoretische Aussagen"). Daten sind das, was man durch Beobachtungen und Messungen gewinnt. Sie gelten unabhängig davon, welche Theorie jemand vertritt (sind "intersubjektiv gültig"). Theorien hingegen sind Bemühungen, die Daten zu interpretieren, sie in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen; aus ihnen ein Bild des jeweiligen Ausschnitts der Wirklichkeit zu konstruieren.

Theoretische Aussagen können falsch oder richtig sein. Sehr häufig ist eine Theorie mit einigen ihrer Aussagen richtig und erweist sie sich mit anderen als falsch oder unvollständig. Daten hingegen sind nicht "falsch" oder "richtig". Sie sind als Daten einfach vorhanden; allerdings muß stets geprüft werden, ob bei ihrer Erhebung keine Fehler gemacht wurden.

Oft bildet sich im Lauf der Erforschung eines Gegenstands eine herrschende Theorie heraus - in Bezug auf die Erde in der Antike zum Beispiel das geozentrische Weltbild, wonach die Erde eine Kugel ist, die sich in der Mitte des Universums befindet und um die Sonne, Mond und Planeten sich auf Kreisbahnen bewegen. Oder in der Physik die Newton'sche Mechanik, die u.a. annahm, daß Geschwindigkeiten unbegrenzt addiert werden können.

Solche herrschenden Theorien (zusammen mit ihren Forschungsbedingungen wie Methoden und Geräte) werden nach dem Terminus des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn oft "Paradigmen" genannt.

Kuhn hat sich besonders dafür interessiert, wie es im Lauf der Wissenschaftsgeschichte zum Wechsel von einem herrschenden Paradigma zu einem neuen kommt: Es häufen sich Beobachtungen, die mit dem herrschenden Paradigma zwar vereinbar sind, aber Zusatzannahmen verlangen. Entsteht dann ein anderes Paradigma, das dieselben Beobachtungen einfacher und stimmiger erklären kann, dann findet in der Regel ein Wechsel zu diesem statt. Wie beispielsweise vom geozentrischen Weltbild zu einem Bild, in dem die Sonne im Mittelpunkt steht und die Erde sie wie die anderen Planeten umkreist.

Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß kein herrschendes Paradigma dagegen gefeit ist, durch ein anderes ersetzt zu werden. Jede Theorie gilt nur so lange, bis es eine bessere gibt. Es gehört zum Wesen der Wissenschaft, Theorien immer wieder in Frage zu stellen, so gut belegt sie auch sind.

Jüngst ist das - Sie erinnern sich - sogar der Relativitätstheorie widerfahren (siehe Neutrinos, schneller als das Licht. Ist Einstein jetzt überholt? ; ZR vom 25. 11. 2011); wenn auch der Ausgang noch offen ist. Die meisten Physiker rechnen wohl damit, daß sie Bestand haben wird. Aber es wird selbstverständlich frei darüber diskutiert, was wäre, wenn man sie modifizieren müßte. Keine wissenschaftliche Theorie ist eben eine unantastbare Offenbarung. Nicht einmal in der Klimatologie.



Zurück also zur Klimaforschung. ACC ist das dort gegenwärtig herrschende Paradigma. Es setzte sich durch, als in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Daten eine globale Erwärmung zeigten und zugleich eine Theorie verfügbar war, die das plausibel erklären konnte: Durch die Zunahme von CO2 in der Atmosphäre wird der natürliche Treibhauseffekt verstärkt, und die Temperaturen steigen.

Es war seinerzeit vernünftig, diese Erklärung für die wahrscheinlichste zu halten: Sie paßte zu den Daten, die man damals hatte, und sie beinhaltete einen konkreten, auch in mathematische Modelle faßbaren Mechanismus der Erwärmung. Kein konkurrierender Ansatz existierte, der das ebenfalls leisten konnte (siehe Fünf Gründe für die Klima-Hysterie (Teil 1); ZR vom 6. 4. 2010).

Dies mag dazu beigetragen haben, daß oft das Bewußtsein für den Unterschied zwischen Daten und theoretischen Aussagen verlorenging. Mit dem Begriff "globale Erwärmung" können nämlich - und es ist von fundamentaler Bedeutung, sich das klarzumachen - zwei ganz unterschiedliche Dinge gemeint sein: Dieser über einige Jahrzehnte am Ende des 20. Jahrhunderts gemessene Temperaturanstieg (Ebene der Daten) und die Theorie der ACC, die ihn auf die Zunahme von CO2 und einen durch sie verursachten verstärkten Treibhauseffekt zurückführt (Ebene der theoretischen Aussagen).

Lassen Sie es mich an einem simplen Beispiel erläutern: Ein Mord ist geschehen. Im Haus liegt der Erschossene, und es gibt diese und jene Spuren. Das sind die Daten. Kommissar Keller vermutet Hern X als den Täter. Das ist die Theorie. Sie kann unter Umständen durch die Indizien sehr gut belegt sein, aber sie bleibt doch zunächst eine Theorie.

So war und ist es mit ACC, bezogen auf die Daten zur globalen Erwärmung:

Es hat über einige Jahrzehnte eine globale Erwärmung gegeben; kein seriöser Wissenschaftler bestreitet das. Es ist der Fall, unabhängig davon, ob ACC die richtige Erklärung dafür liefert. Der Umstand, daß da ein Ermordeter liegt, belegt als solcher noch nicht, daß X der Täter ist.

Und ACC wiederum ist nicht in einer einfachen, eindeutigen Weise an Daten gebunden: Es kann auch eine Zunahme des Treibhauseffekts geben, ohne daß deshalb notwendig Jahr für Jahr die Temperaturen steigen müssen. Der Effekt könnte auch durch entgegenwirkende Faktoren überlagert werden. So, wie Indizien, die scheinbar gegen die Theorie von Kommissar Keller sprechen, bei genauerer Untersuchung doch mit der Täterschaft von X vereinbar sein können.



Fazit: Seit 1997 gibt es keine globale Erwärmung mehr. Für die Theorie ACC bedeutet das nicht, daß sie "widerlegt" wäre. Es bedeutet jedoch eine Abnahme der Wahrscheinlichkeit, daß sie stimmt. Sie muß, um mit den Daten im Einklang zu bleiben, Zusatzannahmen machen. Es besteht eine Situation, in der ein Paradigmenwechsel zwar nicht sicher, aber möglich ist. Je länger ein Anstieg der globalen Temperaturen ausbleibt, umso wahrscheinlicher wird er.

Wie aber sieht der studierte Philosoph Toralf Staud das? Dazu der zweite Teil.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Drei Bilder, die sich durch das Schütteln eines Kaleidoskops ergeben. Fotografiert und in die Public Domain gestellt von rnbc.