16. Februar 2012

Generation Flatrate. All inclusive, Nulltarif, Frühstücksbuffet. Auf dem Weg in die Schlaraffenland-Gesellschaft


Als die Partei "Die Piraten" mit ihrem sensationellen Wahlergebnis in Berlin am 18. September 2011 unversehens in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit geriet, erfuhr man, daß zu ihren Hauptforderungen auch der Nulltarif im Öffentlichen Nahverkehr gehört; unter dem Etikett "Kostenloser öffentlicher Nahverkehr".

Die Älteren mögen sich da nostalgisch an die Zeit vor nun bald schon einem halben Jahrhundert erinnert haben, als in den sechziger Jahren mit Roter-Punkt-Aktionen für einen solchen Nulltarif geworben wurde. Damals wurde das von den meisten Bürgern als eine absurde Forderung empfunden und folglich erregt diskutiert. Man fand es unverschämt, daß Leistungen in Anspruch genommen werden sollten, ohne daß man bereit war, dafür zu bezahlen.

Jetzt hat die gleiche Forderung kaum einen müden Kommentar hervorgelockt. Denn wir leben inzwischen in einer Gesellschaft, in der es nachgerade das Lebensgefühl bestimmt, daß für Leistungen, die man in Anspruch nimmt, nicht bezahlt werden muß. Jedenfalls nicht individuell für die jeweilige einzelne Leistung.

Wir sind auf dem Weg in die Schlaraffenland-Gesellschaft.



Es ist erst ein paar Jahre her, daß ein Bekannter, der in einiger Entfernung wohnte, mir sagte: "Wenn du mit mir telefonieren willst, rufe mich kurz an; ich rufe dann zurück. Ich habe eine Flatrate". Das war damals noch etwas Mitteilenswertes; ein nettes Angebot. Und indem er es mir machte, setze er voraus, daß wir - wie die meisten damals - selbst noch keine Flatrate hatten.

Heute gibt es kaum noch jemanden, der keine Flatrate für sein Telefon gebucht hat. Man kann also jetzt so lange, wie man mag, an der Strippe hängen (eine freilich auch nicht mehr zeitgemäße Redensart). Das Telefon ist etwas völlig Anderes geworden als noch vor wenigen Generationen. Wenn mein Vater jemanden anrief, dann machte er sich vorher Notizen, um das, was zu sagen war, so kurz und knapp wie möglich "durchzugeben" - jede Sekunde des Gesprächs kostete ja Geld.

In unserer Zeit wäre so etwas grotesk. Man hat ja Flatrate. Auch für das Internet; und damit Zugang zu allem dem, was es kostenlos im Netz gibt - ein riesiges Schlaraffenland. Das meiste umsonst.

Ohne einen Cent zu bezahlen, kann man alle wichtigen Zeitungen der Welt lesen, dazu fast die gesamte Weltliteratur. Man kann Filme ansehen und Musik hören, soviel man mag. Dienste, für die man einst durchweg bezahlen mußte, sind kostenlos zu haben; ob man etwas nachschlagen, etwas buchen oder Kontakte pflegen möchte.

Bücher, die ich einmal für teures Geld erworben habe, stehen jetzt unbenutzt in meiner Bibliothek. In die Encyclopedia Britannica, Jahrzehnte meine zuverlässigste Auskunftsquelle, habe ich seit Monaten nicht mehr geschaut; so wenig, wie in den Larousse, den Webster oder lateinische und griechische Wörterbücher. Alles an Informationen, das ich brauche, ist ja schneller und komfortabler am Rechner zu bekommen; ohne daß ich aufstehen, in die Bibliothek gehen und das betreffende Buch heraussuchen muß.

Selbst die Belletristik ist davon betroffen. Manche Bücher lese ich inzwischen auf dem Kindle, auf den ich sie kostenlos heruntergeladen habe; auch wenn sie im Regal stehen.

Ich habe Jahre gebraucht, um alle alten Jahrgänge des gedruckten "Spiegel" antiquarisch und teils als Reprint zu erwerben; vom ersten Jahrgang 1947 bis zum Jahrgang 1965, den ich nur noch in einzelnen Heften bekommen konnte und binden lassen mußte. Das war meine Hauptquelle zur Geschichte der beiden Nachkriegs-Jahrzehnte. Ich könnte die Bände heute leichten Herzens wieder verkaufen (würde sie denn noch jemand haben wollen), denn ungleich komfortabler bekomme ich alle diese Artikel der ersten "Spiegel"-Jahrgänge - und aller weiteren bis in die Gegenwart - im digitalen Archiv des "Spiegel". Kostenlos natürlich.

Früher gehörte es zu meinen Gewohnheiten als häufiger Bahnfahrer, zweimal im Jahr das jeweils neue Kursbuch zu kaufen. Ein voluminöses Werk, in dem man sich ein wenig auskennen mußte, wenn man es vernünftig nutzen wollte. Ich weiß gar nicht, ob man überhaupt noch ein Kursbuch kaufen kann. Es zu nutzen, wäre jedenfalls heute abwegig, angesichts des Umstands, daß man sich jede beliebige Verbindung in Sekunden auf den PC holen kann. Natürlich kostenlos.

In Schubladen habe ich noch Stapel von CDs und DVDs, die ich einmal für meine ersten PCs erworben habe - Routenplaner, Hotelführer, Telefonverzeichnisse, Lexika; Sammlungen von Literarischem in der Digitalen Bibliothek, von Gemälden, von Kochrezepten, und so fort. Kaum etwas davon nutze ich noch. Denn alles ist ja viel reichlicher, viel vollständiger, viel variantenreicher im Internet zu haben.

Und fast immer kostenlos. Bemühungen, das eine oder andere dieses Angebots kostenpflichtig zu machen, sind selten erfolgreich gewesen. Ein Beispiel sind die Zeitungen und Zeitschriften.

Als der "Spiegel" 1994 online ging, bestand das Angebot aus Artikeln des gedruckten "Spiegel"; kostenlos zu lesen, aber es war nicht das vollständige Heft. Der Nouvel Observateur - das französische Gegenstück zum "Spiegel" - war hingegen bis vor kurzem noch vollständig kostenlos im Internet verfügbar; inzwischen muß man, wie auch beim "Spiegel", für die digitale Ausgabe bezahlen. Zugleich aber ist ein umfangreiches eigenes Internet-Angebot entstanden, wie auch bei "Spiegel-Online". Kostenlos natürlich.

Dasselbe gilt für die Tageszeitungen und Wochenzeitungen wie die "Zeit". Sie bieten meist ein gemischtes Angebot aus eigens für das Internet geschriebenen Beiträgen und ausgewählten Artikeln aus der gedruckten Ausgabe.

Die beiden bedeutendsten amerikanischen Tageszeitungen - die New York Times (NYT) und die Washington Post - stellen hingegen nach wie vor den Inhalt der gedruckten Ausgabe nahezu vollständig ins Netz. Bei der NYT gibt es derzeit den Versuch, den Zugang bedingt kostenpflichtig zu machen: Zwanzig Aufrufe sind frei; danach soll bezahlt werden. Diese Neuerung gilt seit März 2011; aber da sie auf Cookies basiert, kann das Bezahlen leicht umgangen werden.

Es dürfte ohnehin kaum durchsetzbar sein. Das Informationsangebot im Netz ist inzwischen so riesig, daß jeder Versuch, das Bezahlen zu erzwingen, nur dazu führt, daß der Nutzer eben woanders hingeht.

Und es ist ja nicht nur das Internet. Überall breitet es sich aus, daß wir Dinge bekommen, daß wir Leistungen in Anspruch nehmen, ohne individuell dafür zu bezahlen. Entweder sind sie ganz kostenlos, oder man zahlt einmalig, ohne Abrechnung der jeweiligen Leistung. Das hieß früher einmal "Pauschale Bezahlung"; heute hat sich "Flatrate" eingebürgert, oder - sofern es sich um Hotelangebote und dergleichen handelt - "all inclusive".

Früher wurde das Frühstück im Hotel individuell serviert und war auch in guten Hotels nach heutigen Maßstäben bescheiden. Heute hat sich das Frühstücksbuffet durchgesetzt; mit einem oft enormen Angebot. Man bezahlt pauschal und kann soviel essen und trinken, wie man mag. Beim "all inclusive" gebuchten Urlaub erstreckt sich das nicht nur auf das Frühstück, sondern die Speisen und Getränke des gesamten Tags. Schlaraffenland pur.



Natürlich ist nichts davon wirklich "kostenlos". There ain't no such thing as a free lunch (Essen umsonst - das gibt's nicht) lautet eine amerikanische Redensart, die gern von liberalen Ökonomen zitiert wird. Die Frage ist immer nur, wer bezahlt und wie bezahlt wird.

Die Schlaraffenland-Angebote haben ökonomische Ursachen, die vor allem etwas mit Änderungen der Kostenstruktur zu tun haben. In der Gastronomie zum Beispiel sind die Gehälter ein zunehmend kritischer Faktor. Wenn jeder Gast zum Frühstück aussucht, was er bestellt, und das individuell bezahlt, dann kostet das den Gastronomen zwar möglicherweise weniger an Warenwert als das Frühstücksbüffet. Aber die Personalkosten sind bei individueller Bedienung ungleich höher, als wenn der Gast sich selbst am Büffet bedient.

In anderen Bereichen hat die technische Entwicklung die Flatrates möglich gemacht; beispielsweise die Einführung von DSL mit seiner großen Bandbreite. Auch hier spielt die Ersparnis von Kosten eine Rolle, die bei individueller Abrechnung anfallen würden.

Ein weiterer Faktor ist die zunehmende Finanzierung durch Werbung. Internetangebote finanzieren sich aus Werbebannern, Pop-Ups usw.; also durch Geld von Firmen, welche die Kosten für diese Werbung in die Kalkulation der Produkte einbeziehen, die sie verkaufen. Letzlich zahlt auch hier "der Kunde"; aber nicht mehr individuell: Zwischen der Inanspruchnahme der Leistung (sagen wir, von "Spiegel-Online") und der Bezahlung (durch Kunden von Firmen, die dort werben) besteht kein Zusammenhang.

Es gibt also objektive Ursachen für den Trend zum Schlaraffenland. Aber die Sache hat auch ihre subjektive Seite. Die Mentalität ändert sich.

Mir scheint, es wächst eine "Generation Flatrate" heran, die zunehmend weniger Verständnis dafür hat, daß es gerecht ist, wenn jeder genau das bezahlt, was er auch in Anspruch nimmt.

Mit Flatrate und all inclusive geht außerdem der Sinn für Kosten verloren.

Man quasselt am Handy, so lange man mag; es kostet ja nichts. (Natürlich kostet es etwas; aber eben nicht individuell den Quassler). Der kleine Firmenvertreter langt als Hotelgast beim Frühstücksbüffet so kräftig zu, daß er dann das Mittagessen einsparen kann; es kostet ja nicht mehr. (Er tut das auf Kosten derer, die denselben Pauschalbetrag zahlen, aber mit einem Müsli und einem Glas Milch vorliebnehmen).

Aus der Sicht des Gastronomen, überhaupt des Anbieters solcher pauschal zu bezahlender Leistungen macht das nichts; seine Kalkulation geht auf. Aber aus der Sicht des Konsumenten lebt der eine auf Kosten des anderen. Pauschalen sind egalitär; sie bedeuten, daß den einen genommen und den anderen gegeben wird.



Für viele bedeutet dies unter dem Strich eine Verbesserung ihres Lebensstandards. Vieles, für das man einst individuell bezahlen mußte, wird heute von anderen bezahlt.

Ich weiß nicht, ob jemand einmal ermittelt hat, wieviel ein Deutscher im Schnitt an barem Geld spart, wenn er das Internet extensiv nutzt. Es dürfte eine erhebliche Summe sein - vom kostenlosen Zeitunglesen und Lesen von Büchern über das kostenlose Ansehen von Filmen und Hören von Musik bis zur Einsparung der Kosten für das Reisebüro, für Fahrten zu Geschäften, zu Dienststellen usw. Bei gründlichem Überlegen könnte man noch viele andere Beispiele finden.

Die Reallöhne sind in Deutschland in den letzten Jahren kaum gestiegen. Dennoch geben die Deutschen in Umfragen an, daß ihr Lebensstandard sich verbessert (siehe Wie gut geht es den Deutschen wirtschaftlich? ; ZR vom 13. 2. 2012). Ob das nicht vielleicht auch mit der wachsenden Nutzung des Internet zusammenhängt?

Und ob nicht vielleicht auch die Forderungen der Piratenpartei - nicht nur nach kostenlosem Nahverkehr, sondern zum Beispiel auch nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle und einer Änderung des Urheberrechts - Ausdruck dieser All-inclusive-Mentalität sind? Eben das Lebensgefühl der "Generation Flatrate"?­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Das Bild "Schlaraffenland" von Pieter Breughel d.Ä. befindet sich in der Alten Pinakothek München.