27. Februar 2012

Wir Achtundsechziger und unsere Babyboomer. Anmerkungen zu Frank Schirrmachers autoreferentiellem Klagelied

Frank Schirrmacher, der für das Feuilleton zuständige Herausgeber der FAZ, hat die Fähigkeit - man kann auch sagen: die Spezialbegabung -, aus einer Nabelschau einen Blick auf die Welt zu machen. Seine Probleme mit einer von der technischen Welt überforderten Aufmerksamkeit, seine Schwierigkeiten im Umgang mit modernen Medien der Kommunikation hat er in dem Buch "Payback" zur Kulturkritik erhoben. Jetzt blickt er bekümmert auf seine Biographie als ein "Babyboomer" (Jahrgang 1959) zurück und konstatiert daraus das Scheitern dieser Generation.

Er kann das, er beherrscht es souverän, der Frank Schirrmacher - seinen eigenen Kummer zum Leiden der Welt zu erheben; seinen Weltschmerz zu objektiv Schmerzhaftem zu gestalten, das als solches der Realität anhaftet. Projektion nennt das die Psychoanalyse.

Zu dem Buch "Payback" konnte man seinerzeit, als dessen Kondensat, einen Essay Schirrmachers lesen, den ich damals kommentiert habe (Der vergeßliche Frank Schirrmacher. Ein Autor entdeckt die Schrecken der Technik; ZR vom 19. 11. 2009). Jetzt gibt es zum Thema "Generation der Babyboomer" wieder einen Essay "Der Sturz der Babyboomer" mit Zwischenüberschriften wie "Die erschöpfte Generation" und "Rentensicherung als Lebensprojekt". Man sieht, Schirrmacher hat wieder ein Problem. Man wird sich nicht wundern, wenn auch das in Bälde zu einem Buch führt.

Gestern nun erschien in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (F.A.S.) eine Replik auf diesen Essay Schirrmachers, der eine Woche zuvor ebenfalls in der F.A.S. publiziert worden war. Ein wenig überraschend ist der Autor nicht ein feuilletonistischer, ein schriftstellerischer Kollege Schirrmachers, sondern der Ministerpräsident des Landes Hessen, Volker Bouffier.

Das hat zur Folge, daß die Auseinandersetzung jenen Gladiatorenkämpfen ähnelt, als deren Reiz die Römer es ansahen, daß die Kontrahenten unterschiedlich bewaffnet waren; beispielsweise stand dem gepanzerten, plumpen, schwerbewaffneten secutor der nur leicht bewaffnete, aber ungemein bewegliche retiarius gegenüber.

Schirrmacher ist hier der retiarius; ein beschwingter Stilist. Er ziseliert sein Thema, tanzt Pirouetten. Bouffier als der secutor hält wuchtig dagegen mit seiner Lebenserfahrung, mit der politischen Leistung seiner Generation. Das liest sich dann so; zuerst Schirrmacher:
Es ist an der Zeit, wie bei jedem Drama danach zu fragen, ob hier nicht Notwendigkeit waltet. Es ist die Frage nach der politischen und gesellschaftlichen Idee, die diese Generation leitete und leitet. Gerade wenn man, wie der Verfasser dieses Artikels, selber zu diesen Geburtsjahrgängen gehört, wird man sich hüten, den Stab über ganze Kohorten zu brechen. Doch drängt sich einem die Frage auf, wie das passieren konnte, was wir gerade erleben. Denn es ist ja nicht nur so, dass es heutzutage der Alten bedarf, um überhaupt das Wort "Ideen" noch in den Mund zu nehmen, es ist historisch unverkennbar, dass unter der Dominanz der Babyboomer die Ideen zu Bruch gehen.
Worauf Boffier (Jahrgang 1951) lakonisch anwortet:
Wir von der Jungen Union haben für die Wiedervereinigung gekämpft, als andere sich mit Mauer und Stacheldraht abgefunden hatten, haben zum 17. Juni demonstrativ Mauern in Innenstädten nieder­gerissen oder Zonengrenzseminare veranstaltet.



Dem Politiker Bouffier geht es darum, das abzuwehren, was er als eine Attacke Schirrmachers auf seine Generation empfindet. Er sieht das auch von den politischen Auswirkungen her:
Wir brauchen keine Klassifizierungen, keine Generationenkonflikte oder Frust-, oder Jammer­debatten. Mehr Ermutigung und Miteinander sind gefragt. Das sichert die Zukunftsfähigkeit und unsere Demokratie.
Wer wollte da widersprechen? Aber als Replik auf Schirrmacher reicht es vielleicht doch nicht ganz aus.

Nein, eine solche Replik will ich jetzt nicht meinerseits liefern. Schon deswegen nicht, weil ich Schirrmacher durchaus zustimme. Ich hätte das, was er - so Bouffier - als eine "philosophische Streitschrift in sechs Zeitungsspalten" zu Papier gebracht hat, nur gern etwas einfacher formuliert gelesen. Denn es sind ja recht simple Gedanken, die Schirrmacher ausbreitet; die er, wie es seine Art ist, gewissermaßen umtänzelt:
  • Die Generation der Babyboomer wirkt erschöpft.

  • Das liegt erstens daran, daß es ihr an Ideen fehlt. Sie hat sie durch Konsum und Marktgläubigkeit ersetzt.

  • Zweitens sind die Babyboomer - der Name sagt es - eine kopfstarke Generation. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit über die jüngere Generation erspart ihr den "Zwang zur Regeneration".

  • Wenn diese Generation demnächst abtritt, dann wird eine Leere entstehen. Darin liegt aber auch eine Chance, nämlich das "Ende einer totenähnlichen Erschöpfung".
  • Nun ja. Ich wünsche jedenfalls Frank Schirrmacher noch viel Vitalität und Schaffenskraft.

    An seinem Essay ist mir zweierlei aufgefallen. Erstens bemerkt er, bei allem Selbstbezug, nicht den offensichtlichsten autoreferentiellen Aspekt seines Textes. Zweitens widmet er sich dieser seiner eigenen Generation, ohne ihr Verhältnis zur vorausgehenden Generation - derjenigen der Achtund­sechziger - in den Blick zu nehmen.

    Der erste Punkt läßt sich schnell erledigen: Schirrmachers Text ist ein einziges Klagelied; von derselben Larmoyanz getragen wie schon "Payback". Und just dies ist ein Charakteristikum seiner Generation. Indem er sie so jammernd beschreibt, liefert Schirrmacher selbst ein Bild der Babyboomer - eines, das aber eben in seiner Beschreibung nicht vorkommt. Er zeigt diese Larmoyanz; aber er versäumt es, sie zu benennen, sie in seine Analyse einzubeziehen.

    Die Babyboomer sind, ja gewiß doch, eine unideologische und eine marktorientierte Generation. Sie sind vor allem aber eine anspruchsvolle Generation, die zum Klagen und auch zum Anklagen neigt, sobald ihre Ansprüche nicht erfüllt werden. Die Maxime "Schuld sind immer die anderen", die Harald Martenstein kürzlich kommentiert hat, ist ein Charakteristikum dieser Generation (siehe "Schuld sind immer die anderen". Harald Martenstein über den Trend, keine Verantwortung mehr zu übernehmen; ZR vom 24. 2. 2012).



    Aber warum sind sie denn so geworden, die Babyboomer? Dazu sagt Schirrmacher erstaunlich wenig. Aus meiner Sicht ist das aber der wirklich interessante Punkt.

    Schirrmacher ordnet den Babyboomern die Jahrgänge der zwischen 1955 und 1970 Geborenen zu. Nehmen wir als repräsentativ jemanden, der in der Mitte dieses Zeitraums geboren ist, im Jahr 1963. Nennen wir ihn Thomas; das war in diesem Jahr der beliebteste Vorname.

    Als Thomas vier war, im Jahr 1967, begann es in Deutschland zu gären (die Vorboten liegen schon etwas früher; siehe die Serie in ZR "Wir Achtundsechziger"; besonders die erste Folge Wie alles anfing; ZR vom 4. 6. 2007). Er bekam davon wenig mit.

    Als er 1970 in die Schule kam, hatte der Umbruch bereits stattgefunden. Es war vorbei mit der "Adenauerzeit", den "Aufbaujahren", den "Jahren des Wirtschaftswunders"; wie immer man das genannt hat. Es war eine Kulturrevolution im Gange, die in wenigen Jahren aus Deutschland ein anderes Land machte (siehe Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).

    Thomas wurde nicht mehr autoritär erzogen, sondern zur "Selbstbestimmung" ermuntert. Seine Eltern wollten nicht mehr seine Erziehungspersonen sein, sondern gute Freunde. Jeder Wunsch wurde ihm, wenn es irgend ging, erfüllt.

    Er hatte Zugang zu Lusterlebnissen, von denen die Generation zuvor nur hatte träumen können. Cannabis zu konsumieren wurde schick und war weitgehend problemlos möglich. Als er mit zwölf in die Pubertät kam, im Jahr 1975, wurde die Pornografie in Deutschland freigegeben; nicht für ihn eigentlich, aber an sie heranzukommen war nicht schwerer, als Haschisch zu besorgen.

    Da die Eltern sich weigerten, die Rolle des Vorbilds zu spielen, orientierte sich Thomas in seinen Werten, seinen Verhaltensmustern, an seinen Kumpeln, der peer group. Dort war es wichtig, gegenüber den anderen gut dazustehen - durch schicke Klamotten (das Wort aus der Unterschicht- und Gaunersprache bürgerte sich damals ein, wie "Knast" und "Bullen" aus demselben Slang); durch große Sprüche, durch Auftreten.

    Thomas lernte die zentrale Rolle des Besitzes kennen, den man vorzeigen kann. Er merkte, wie wichtig das soziale standing ist. Er wurde zum Konsumfan; lernte, sich an Äußerlichkeiten zu orientieren.

    Seine Eltern duldeten, ja förderten das. Gewiß, sie vermißten bei Thomas ihre eigenen Ideale. Sie hätten ihn sich gern links gewünscht; an der Veränderung der Gesellschaft arbeitend. Aber andererseits waren sie selbst inzwischen aufgestiegen; hatten es beispielsweise vom rebellierenden Studenten zum gutbezahlten Studienrat oder Redakteur gebracht. Konnte man da als ein frei denkender Vater dem Filius verwehren, das zu befriedigen, was dieser nun einmal, in freier Selbstbestimmung, als seine Bedürfnisse betrachtete?

    So wurde sie so, wie Schirrmacher sie schildert, diese Generation der Babyboomer: Konsumorientiert, auf Äußerliches gerichtet. Ohne das, was ihre Eltern als ihre "Ideale" angesehen hatten. Und, wie alle verzogenen Kinder, voller Wehleidigkeit. Wie es uns Schirrmacher mit seinem Klagelied über diese seine Generation vorführt.

    Die Generation der Achtundsechziger hatte eine interessante Mischung aus Hedonismus und Idealismus zur Schau getragen: Man wollte "alles, und zwar sofort"; man schätzte alle Arten körperlicher Genüsse ("Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment"). Zugleich sah man sich aber berufen, die Welt umzukrempeln; aus der "schlechten Wirklichkeit" eine gute zu machen. Man war sozusagen Epikur und Spartakus in Personalunion.

    Die verstiegenen politischen Ideen verflogen bald. Aber der Hedonismus blieb und wurde an die nächste Generation, eben die Babyboomer, weitergegeben. Die Träume vom sozialistischen Paradies erfüllten sich als die Träume vom Konsumparadies.



    Übrigens meint Schirrmacher dieser Generation doch etwas auf der Ebene der Ideen attribuieren zu können: "Die einzige relevante politische Idee, die sie hervorgebracht hat, ist der Neoliberalismus".

    Den nun freilich hat nicht die Generation der Babyboomer hervorgebracht. Zu den Begründern des Neoliberalismus gehören Walter Eucken (*1891), August Friedrich von Hayek (*1899) und Milton Friedman (*1912). Da stand man also unter dem Einfluß noch nicht einmal der Väter, sondern gar der Großväter.
    Zettel



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