23. Februar 2012

Marginalie: Eine würdige Gedenkfeier, eine gute Rede der Kanzlerin. Aber "Verzeihung" war das falsche Wort

"Es ist der Versuch einer Wiedergutmachung. Stellvertretend für das ganze Land bat die Bundeskanzlerin die Angehörigen der Neonazi-Opfer um Verzeihung und rief bei dem bewegenden Staatsakt zu mehr Wachsamkeit auf gegenüber Rechtsextremismus". So begann die Moderation der "heute"-Sendung des ZDF heute um 19 Uhr.

Auch in vielen Artikeln zu der Gedenkfeier wird "Verzeihung" in den Mittelpunkt gestellt. "Zeit-Online" beispielsweise titelt "Gedenkfeier in Berlin - Merkel bittet Angehörige um Verzeihung"; die "Financial Times Deutschland" überschreibt ihren Artikel mit "Merkel entschuldigt sich bei Neonazi-Opfern".



Diese Gedenkfeier war richtig, ja sie war notwendig; so, wie das seinerzeit die Gedenk- und Trauerfeiern für die Opfer der RAF gewesen waren, oder jüngst in Norwegen die Feiern für die Opfer des rechtsextremen Mörders Breivik.

Solche Feiern für die Opfer des politischen Terrorismus sind ein Akt der Solidarität des Staats und der Gesellschaft. Des Staats, für den solche Taten bedeuten, daß er mit seinem Sicherheitsapparat alles tun muß, damit es nicht zu weiteren Opfern kommt. Der Gesellschaft, die durch Mittrauern mit den Hinterbliebenen zum Ausdruck bringt, daß Terroristen in ihr isoliert sind und keine Chance auf Sympathie haben; auch nicht auf eine "klammheimliche".

Terroristen wollen die Gesellschaft spalten - sie wollen den Haß auf Reiche und Mächtige schüren, wie einst die RAF-Terroristen; oder auf Einwanderer, wie Breivik und die deutschen Neonazi-Terroristen des sogenannten NSU. Durch Trauerfeiern, durch Gedenkfeiern bringt die Gesellschaft zum Ausdruck, daß sie diesen Haß verabscheut und im Gegenteil solidarisch mit den Angehörigen der Opfer ist; sei es die Familie von Hanns-Martin Schleyer im Herbst 1977, sei es jetzt die Familie beispielsweise von Enver Şimşek, der als erster von den Neonazis der "Zwickauer Zelle" ermordet wurde.



Die Kanzlerin hat heute eine bewegende, eine den richtigen Ton treffende Rede gehalten. Sie sagte beispielsweise:
Die Menschenverachtung der rechtsextremistischen Mörder ist letztlich unbegreiflich. Und doch müssen wir versuchen zu ergründen, wie und durch wen sie so geworden sind, wie sie geworden sind. Und wir müssen alles tun, damit nicht auch andere junge Männer und Frauen zu solcher Menschenverachtung heranwachsen. Das sind wir den Opfern, das sind wir ihren Angehörigen, das sind wir uns allen schuldig.
So ist es. Das ist es, was den Sinn einer solchen Gedenkfeier ausmacht. Die Kanzlerin ging dann auf die lange Zeit vergebliche Suche nach den Mördern ein, die in falsche Richtungen geführt hatte, und sagte:
Einige Angehörige standen jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich sie um Verzeihung.
Sie sagte damit das falsche Wort. Sie hätte sagen können: "Dafür gilt Ihnen mein besonderes Mitgefühl" oder "Das bedaure ich ganz besonders". Denn es ist ja schlimm für die Hinterbliebenen eines Mordopfers, wenn die Polizei einem Verdacht nachgeht, der sich später als falsch erweist; wenn dabei sogar diese Angehörigen selbst in das Visier der Fahnder geraten.

Es ist schlimm, aber es ist leider nicht immer zu vermeiden. Die Kanzlerin sprach es in der heutigen Rede an - nichts deutete zunächst auf einen rechtsextremen Hintergrund hin; es gab ja noch nicht einmal die Bekennerschreiben, die in aller Regel politisch motivierte Straftaten begleiten (siehe Rechter Terrorismus und linker Terrorismus in Deutschland. Anmerkungen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden; ZR vom 21. 11. 2011).

Die Ermittlungsbehörden taten ihre Pflicht, als sie nach allen Seiten ermittelten. Daß bei den Ermittlungen nach einem Mord auch das familiäre Umfeld nicht ausgeklammert wird und nicht ausgeklammert werden kann, ist für die Trauernden bitter, aber nun einmal erforderlich. So geschah es routinemäßig auch bei der Mordserie, die nach dem Einzigen, das neben der Mordwaffe die Taten zu verbinden schien - die Opfer waren Einwanderer, die ein kleines Gewerbe betrieben - "Döner-Morde" genannt wurden; mit einer Bezeichnung, wie sie bei solchen Mordserien üblich ist (siehe "Döner-Morde". Der Unfug des Unworts; ZR vom 18. 1. 2012).



Wofür also konnte die Kanzlerin um "Verzeihung" bitten?

Verzeihung setzt eine Schuld voraus; oft auch Reue. Aber daß bei diesen Morden auch Angehörige bei den Ermittlungen überprüft wurden, geschah ja nicht schuldhaft. Keinem der beteiligten Staatsanwälte, niemandem von den ermittelnden Kriminalbeamten kann daraus ein Vorwurf gemacht werden. Vorwerfbar wäre es gewesen, wenn sie nicht in alle Richtungen ermittelt hätten.

Das Wort "Verzeihung" in der Rede der Kanzlerin war also falsch. Es war objektiv falsch, weil es keine Schuld gibt, für welche sie im eigenen Namen oder im Namen ihrer Regierung um Verzeihung hätte bitten können oder gar sollen.

Es war aber auch das falsche Wort, was die zu erwartende politische Rezeption angeht. Denn auch wenn die Kanzlerin das so nicht gemeint und auch nicht gesagt hatte - das Wort kann leicht so verstanden werden, als habe Merkel namens der eingesessenen Deutschen die von den Mordtaten betroffenen Einwanderer um Verzeihung für das ihnen angetane Leid gebeten.

Das nun wäre eine nicht nur gänzlich falsche, sondern auch eine politisch verhängnisvolle Interpretation; und zwar aus zwei Gründen.

Zum einen würde sie genau das implizieren, was die Mörder erreichen wollten: Daß eine Verbindung zwischen ihnen und dem deutschen Volk hergestellt wird; so, als hätten sie gewissermaßen im Namen der Deutschen gemordet. Nur dann würde es einen Sinn ergeben, daß eine deutsche Kanzlerin bei den Angehörigen der Opfer für die Taten um Verzeihung bittet; etwa so, wie das deutsche Kanzler bei den Angehörigen der in der Tat von einer deutschen Regierung im Namen Deutschlands ermordeten Holocaust-Opfer getan haben.

Wie absurd das bei Morden von Terroristen wäre, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, daß Helmut Schmidt die Familien der von der RAF ermordeten Polizisten um Verzeihung für diese Taten gebeten hätte.

Und zweitens würde eine solche Interpretation einen Graben aufreißen, den doch gerade niemand wollen kann - den zwischen eingesessenen Deutschen auf der einen Seite und auf der anderen Seite solchen Deutschen, die eingewandert sind oder die Nachkommen von Einwanderern sind. Die Kanzlerin hat es zwar vermieden, sich bei Einwanderern allgemein zu entschuldigen, und sich nur an die Angehörigen der Opfer gewandt. Aber eine solche Fehldeutung ihrer Formulierung ist naheliegend.



Noch einmal: Diese Feier war richtig; sie war notwendig. Die Kanzlerin hat eine gute und fast durchweg wohlerwogene Rede gehalten. Nur der Satz "Dafür bitte ich sie um Verzeihung" war falsch. Wie falsch, das zeigt die Berichterstattung, in der aus den 23 Minuten dieser Rede vor allem diese sechs Wörter genannt und kommentiert werden; so, als seien sie die Essenz dessen, was die Kanzlerin gesagt hat. ­
Zettel



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