15. Februar 2012

Jörg Kachelmann, Persönlichkeitsrechte, Pressefreiheit. Der Fall Kachelmann ist noch nicht zu Ende

Der Fall Kachelmann ist noch nicht zu Ende. Nicht, weil Jörg Kachelmann noch in Gefahr wäre, verurteilt zu werden. Das ist vorbei. Sein Freispruch ist seit vier Monaten rechtskräftig. Aber noch einmal könnte dieser Fall Rechtsgeschichte schreiben.

Er hat es aus meiner Sicht bereits durch das Urteil getan. Denn dieses Urteil war ein bemerkenswerter Sieg der Gerechtigkeit (siehe Freispruch für Kachelmann. Eine Sternstunde der Justiz; ZR vom 31. 5. 2011, und Warum ist der Freispruch Kachelmanns eine Sternstunde der Justiz? Eine Erläuterung; ZR vom 31. 5. 2011).

Das Urteil war ein Sieg der Gerechtigkeit nicht deshalb, weil wir wüßten, daß Kachelmann die ihm vorgeworfene Tat nicht begangen hat; ob das so ist, wissen mit letzter Sicherheit allein er und die Frau, die ihn beschuldigt hat. Sondern dies war eine Sternstunde der Justiz, weil ein Gericht unter den widrigsten Umständen - ich habe sie seinerzeit in den beiden verlinkten Artikeln dargelegt - streng nach dem Recht geurteilt hat.

Jörg Kachelmann ist also unschuldig. Ist, und nicht "hat zu gelten". Der Zwischenzustand, in dem jemand einer Tat verdächtig ist, aber ihrer nicht überführt, ist mit dem rechtskräftigen Urteil beendet. Kachelmann ist unschuldig im juristischen Sinn. Punkt. Wie es mit einer eventuellen Schuld im moralischen Sinn aussieht, das sei dahingestellt; angesichts der Wirren und Unklarheiten dieses Falls sollte man auch da allerdings mit einem Urteil vorsichtig sein.



Um alles das geht es jetzt aber nicht mehr. Es geht um ein Thema, das nur mittelbar mit dem Fall Kachelmann zu tun hat, das aber unabhängig von ihm von größter Bedeutung ist: Was dürfen die Medien über einen Strafprozeß berichten?

Dazu hat gestern der 15. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Köln ein Urteil gesprochen (formal drei Urteile in parallelen Verfahren; Az: 15 U 123/11, 15 U 125/11 und 15 U 126/11). Es ist allerdings noch nicht rechtskräftig, weil das OLG Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen hat. Den Hintergrund kann man heute beispielsweise im "Handelsblatt" und in der "Süddeutschen Zeitung" lesen:

Kachelmann hatte in Vernehmungen intime Details über seine Beziehung zu jener Frau dargelegt, die ihn beschuldigt. Dieses Vernehmungsprotokoll war in öffentlicher Sitzung verlesen worden, und sein Inhalt gelangte so in die Presse, beispielsweise in "Bild". Dagegen hatte Kachelmann wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geklagt. Das OLG Köln hat ihm nun Recht gegeben. Aus der Pressemitteilung des Gerichts:
Das Oberlandesgericht Köln hat mit drei am 14. Februar 2012 verkündeten Urteilen entschieden, dass die Medien Umstände aus dem privaten Lebensbereich eines Angeklagten auch dann nicht ohne weiteres verbreiten dürfen, wenn diese in öffentlicher Hauptverhandlung erörtert worden sind. (...) Das Berichterstattungsinteresse der Beklagten habe hinter dem Recht des Klägers auf Schutz seiner Intimsphäre zurückzustehen. (...)

Die Öffentlichkeit eines Gerichtssaales sei nicht mit der Wirkung zu vergleichen, die von einer Veröffentlichung in den Medien, erst recht bei einer Veröffentlichung im Internet ausgehe. Die veröffentlichten Details hätten in keinem Zusammenhang mit dem konkreten Tatvorwurf gestanden und seien von den Beklagten auch in der Berichterstattung nicht in einen solchen Zusammenhang gerückt worden. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht strafrechtlich verurteilt worden sei. Während des laufenden Ermittlungsverfahrens und bis zu einer gerichtlichen Verurteilung gelte zu Gunsten des Beschuldigten die Unschuldsvermutung. Dementsprechend zurückhaltend und ausgewogen müsse über den Tatvorwurf und den auf dem Angeklagten lastenden Verdacht berichtet werden.
Ein Urteil, für das man einerseits Verständnis haben kann, wenn man sich in die Situation eines Angklagten versetzt, dessen Privatleben bis in die intimsten Details hinein Gegenstand öffentlicher Diskussion wird.

Andererseits kann man sich fragen, ob dieses Urteil Rechtssicherheit schafft, oder ob es nicht vielmehr zu einer großen Unsicherheit führt.

Da ist zum einen die Passage "Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht strafrechtlich verurteilt worden sei". Das gilt natürlich fast immer bei Gerichtsberichterstattung - die Reporter informieren die Öffentlichkeit ja nicht erst, wenn der Prozeß zu Ende gegangen ist, unter Umständen nach dem Gang durch mehrere Instanzen.

Will das Gericht sagen, daß nach einer rechtskräftigen Verurteilung intime Details berichtet werden dürfen, die bis zu ihr für die Medien tabu sind? Das sähe freilich nach einer zusätzlichen Bestrafung aus. Oder will das Gericht einen Unterschied machen zwischen vorbestraften und nicht vorbestraften Angeklagten? Mir ist diese Passage ganz unklar; Juristen mögen sie deuten können.

Aber das ist nicht die entscheidende Unsicherheit, die in diesem Urteil (soweit es aus der Pressemitteilung bekannt ist) liegen dürfte. Kritischer ist, was denn "entsprechend zurückhaltend und ausgewogen" im Einzelfall bedeutet.

Wo beginnt die vom Gericht verlangte "Zurückhaltung"? Welche Details einer Tat fallen darunter, welche nicht? Welche Sachverhalte, die sonst noch in einer Verhandlung zur Sprache kommen? Ist nur die Sexualsphäre künftig geschützt, oder sind es beispielsweise auch die religiöse Überzeugung eines Angeklagten, seine Vermögensverhält­nisse, seine Erlebnisse in der Kindheit? Alles das gehört ja zweifellos zu dem "privaten Lebensbereich", von dem das Gericht sagt, daß die Medien "Umstände" aus ihm "nicht ohne weiteres verbreiten dürfen".

Erst recht ist mir unklar, was das Gericht in diesem Zusammenhang mit einer "ausgewogenen" Berichterstattung meint. Alice Schwarzers Berichterstattung über den Kachelmann-Prozeß beispielsweise war nicht ausgewogen, sondern parteilich; und sie hat das auch gar nicht zu verschweigen versucht (siehe Zitat des Tages: Alice Schwarzer über das Kachelmann-Urteil. Und Cora Stephan über Alice Schwarzer; ZR vom 1. 6. 2011). Soll eine solche einseitige Berichterstattung künftig nicht mehr erlaubt sein?

Mir scheint, hier wird eine Büchse der Pandora geöffnet. Über wen die Medien im Zusammenhang mit einem Strafprozeß berichten, der wird künftig - falls die Urteile des OLG Köln rechtskräftig werden - die Chance haben, mit einer Klage wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte durchzu­dringen. Und wenn die Kriterien so schwammig bleiben, wie sie das OLG Köln offenbar formuliert hat, dann wird sich jede Zeitung, dann wird sich jeder Sender künftig überlegen, ob man im Zweifelsfall Informationen nicht lieber unterdrückt. Man könnte sonst einen Prozeß am Hals haben.

Ein Urteil also von fundamentaler Bedeutung. Das Gericht selbst scheint das ähnlich zu sehen, denn die Pressemitteilung endet so:
Das Gericht hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen. Die Frage, in welchem Umfang auch über private, das Persönlichkeitsrecht berührende Umstände berichtet werden dürfe, die in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung erörtert worden seien, sei bisher nicht höchstrichterlich entschieden.
Ich hoffe, daß die beklagten Presseorgane in Revision gehen. Wie auch immer der Bundesgerichtshof dann entscheidet - es wäre wünschenswert, daß er Kriterien entwickelt, die den Gerichtsreportern mit der erforderlichen Klarheit sagen, was sie künftig schreiben dürfen, was nicht. Denn sonst ist deren Selbstzensur zu fürchten; eine neue Schere im Kopf.
Zettel



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