1. Februar 2012

Hatte Bismarck wirklich keine Fistelstimme? Ein Tonträgerfund. Über unser Interesse an Authentischem. Sinnliche Historie


Syrien, Brüsseler Gipfel, Extremismus der Partei "Die Linke", Entführung eines Deutschen im Jemen - das sind derzeit die Aufmacher-Themen bei "Zeit-Online". Meistgelesen aber ist ein Artikel, den die Redaktion weit unten plaziert hat, erst an elfter Stelle: "Historische Tonaufnahme - Bismarcks Stimme aus der Vergangenheit". Darin berichtet Amory Burchard über die Entdeckung einer - sehr wahrscheinlich der einzigen - Aufnahme von Bismarcks Stimme; der Deutschamerikaner Theo Wangemann hat auf einer Europareise im Oktober 1889 dazu Edisons "Phonographen" mit den gerade erfundenen Wachswalzen benutzt.

Auch mir ging es so wie offenbar vielen Lesern von "Zeit-Online": Mich hat dieses Thema sofort fasziniert. Warum eigentlich?

Aufregend ist diese Aufnahme wahrlich nicht. Sie können Sie sich bei "Zeit-Online" in einer Bearbeitung anhören, in der man das Rauschen, so gut es ging, zu unterdrücken versucht hat. Brutaler verrauscht klingt die dem Original nähere Version, die man in einem Artikel von Stephan Puille im Internet-Angebot des Thomas-Edison-Nationalparks in Glenmont, New Jersey findet. Dort sind auch alle Details der Reise Wangemanns und seiner zahlreichen Tonaufnahmen in verschiedenen Ländern Europas dokumentiert.

Was macht das Interessante an einem solchen Fund aus? Warum sind wir so begehrlich, das anzuhören? Es als Transkript zu lesen, wäre der Mühe nicht wert - Bismarck rezitiert einige Verse aus dem amerikanischen Gassenhauer "In good old colony times"; sodann den Anfang einer Ballade, die damals jedes Schulkind lernen mußte, der "Schwäbischen Kunde" von Uhland ("Als Kaiser Rotbart, lobesam ..."). Es folgen jeweils die Anfangszeilen des Studentenlieds "Gaudeamus igitur" und der Marseillaise. Den Abschluß der gut einminütigen Aufzeichnung bilden diese Sätze:
Treibe alles in Maßen und Sittlichkeit, namentlich das Arbeiten, dann aber auch das Essen, und im übrigen gerade auch das Trinken. Rat eines Vaters an seinen Sohn.
Dies Letztere scheinen Bismarcks eigene Worte zu sein, gerichtet offensichtlich an seinen Sohn Herbert; es sollte damit - so wird vermutet - getestet werden, ob dieser die Stimme des Vaters erkennen würde. Ansonsten hat der damals 74jährige Bismarck in den Schatz dessen gegriffen, was er auswendig konnte, und dabei wohl auch ein wenig seine Sprachkenntnisse demonstrieren wollen. Sein Französisch ist, soweit man das dieser verrauschten Aufnahme entnehmen kann, nahezu akzentfrei; das Englisch auch passabel.



Also, das ist wahrlich nicht aufregend. Und doch fand ich es höchst spannend, es zu hören. Denn es hat den Reiz des Authentischen. So also redete er, der Bismarck, den man bisher nur als Staatsmann und vielleicht als Autor kannte; von Bildern und den vielen Denkmälern, die ihm schon zu Lebzeiten errichtet wurden. Aber eben nicht als einen "lebendigen Menschen".

Jemanden zu hören, ihn auf einer Filmaufnahme zu sehen - das ist etwas anderes, als von ihm oder über ihn zu lesen oder ihn abgebildet zu sehen. Es vermittelt eine Nähe, es erzeugt eine Präsenz, die diesen anderen Informationsträgern fehlt.

Was wir Menschen des 21. Jahrhunderts über die Welt wissen, entstammt zum wenigsten eigener sinnlicher Erfahrung; es ist vielmehr Wissen aus zweiter, dritter, vierter Hand - uns mitgeteilt, uns gelehrt; nicht von uns selbst erfahren (siehe die Serie Realität in acht Päckchen, in der ich das einmal zu entwickeln versucht habe). Aber wir bleiben doch, als Primaten, Sinneswesen. Das, was wir "mit unseren eigenen Augen gesehen", was wir "selbst gehört" haben, ist eben etwas Anderes, Nachdrücklicheres, auch emotional Anregenderes als das uns nur "Vermittelte".

Was die Geschichte angeht, so bedeutet dies, daß sie, aus subjektiver Perspektive gesehen, in zwei Epochen zerfällt: In diejenige Zeit, aus der es Film- und Tondokumente gibt, und in die Jahrhunderte und Jahrtausende zuvor.

Von Adenauer, von Hitler, auch noch von Kaiser Wilhelm II haben wir ein sinnliches Bild; wir wissen, wie sie sich bewegten, wie sie sprachen. Auch das Ambiente ihrer Zeit ist uns mit Details aus Filmen und Tonaufnahmen präsent. Wir können uns in diese Zeit einfühlen, weil wir sie sinnlich erfassen können. Aus den Epochen davor aber gibt es nur vergleichsweise Dröges; kognitiv, aber kaum sensuell repräsentiert. Am ehesten werden diese Zeiten noch aus ihrer Literatur heraus faßbar; aber um diese "lebendig werden" zu lassen, bedarf es der Phantasie. Und das endet auch in den Zeiten von, sagen wir, Cervantes, Shakespeare und Grimmelshausen.

Für jede neue Generation reicht die Spanne der, sagen wir, sinnlichen Historie ein Stück weiter zurück.

Die ersten Tondokumente datieren - wie das Bismarcks - vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts; ebenso die ersten "Aktualitätenfilme". Für jemanden, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurde, umfaßte die sinnliche Historie also nur die Generationen seiner Eltern und Großeltern. Für den heutigen Schüler und Studenten ist die Geschichte hingegen schon über vier, fünf zurückliegende Generationen sinnliche Historie. Es wäre interessant, zu untersuchen, was das für das Verständnis von Geschichte bedeutet.



An dem Bild von Bismarck wird das jetzt aufgefundene Dokument allerdings wohl
nichts ändern; allenfalls bestätigen, daß er er der humorvolle und weltläufige Mann war, bei einer solchen Gelegenheit einen amerikanischen Gassenhauer und die Marseillaise zum Besten zu geben. Und auch die Ermahnung an seinen Sohn entbehrte ja nicht des Humors; bedenkt man, daß Bismarck selbst ein großer Liebhaber guten Essens und ausgiebigen, oft exzessiven Trinkens war.

Also gar nichts Neues? In seinem - im übrigen kundigen und faktenreichen - Artikel in "Welt-Online" meint Felix Kellerhoff, eine Neuigkeit entdeckt zu haben: Bismarck habe gar keine "Fistelstimme" gehabt. Der Artikel beginnt so:
Den Stenografen des Reichstages war es spürbar peinlich – musste er sich doch despektierlich über den größten Deutschen seiner Zeit äußern: "Aus diesen kolossalen Mann spricht eine fast frauenhaft schwache Stimme, die, namentlich wenn er von seinen nervösen Affektionen heimgesucht wird, in jedem Satz von ein bis zwei donnernden Räuspern unterbrochen wird."

Was? Ausgerechnet der "Eiserne Kanzler" geschlagen mit einer Fistelstimme?
In der Tat ist die "Fistelstimme" jedem geläufig, der sich einmal ein wenig mit Bismarck beschäftigt hat. Und jetzt, nach der Entdeckung und Restaurierung von Wangemanns Aufnahme? Kellerhoff sieht nachgerade einen historischen Revisionismus als unausweichlich an:
Jetzt allerdings, 114 Jahre nach Bismarcks Tod, wird die Annahme, dass der mit 28 Jahren am längsten amtierende Ministerpräsident und Kanzler der deutschen Geschichte aus seinem mächtigen Brustkorb nur fistelige Worte hervorpressen konnte, in Frage gestellt.
Denn jetzt könne man ja einen Eindruck von Bismarcks Stimme gewinnen. Zwar
... entsprach sein Organ nicht der Erwartung an den massigen Körperbau des Kanzlers, und besonders laut sprach er wohl auch nicht – eine andere jetzt entdeckte Aufnahme vom noch einmal 15 Jahre älteren Feldmarschall Helmuth von Moltke ist wesentlich besser zu verstehen.

Aber eine "Fistelstimme" hatte der Eiserne Kanzler eben auch nicht, und jedenfalls spontan konnte er flüssig rezitieren. Viele Biografen werden nun ihre Bücher für die nächsten Auflagen umschreiben müssen.
Müssen sie das wirklich? Kellerhoff hat eine technische Kleinigkeit übersehen, die man in einer Mitteilung des Edison-Nationalparks finden kann: Als Wangemann seine Aufnahmen machte, hatte Edison die Drehzahl der Wachswalze, die zur Aufzeichnung diente, noch nicht standardisiert. Die Drehzahl, die Wangemann benutzte, ist auch nicht von ihm dokumentiert.

Bei der Restauration und Digitalisierung der Tonspur mußte die Drehzahl also geschätzt werden. Und bekanntlich hängt die Stimmlage, die man bei einer Sprachaufzeichnung hört, ganz von der Geschwindigkeit ab, mit der sie abgespielt wird. Man hätte nur eine etwas höhere Drehzahl wählen müssen - und schon hätte Bismarck die historisch verbürgte Fistelstimme gehabt. Auch in dieser Tonaufnahme.­
Zettel



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