8. Februar 2012

Zitat des Tages: Ist Nationalismus in Europa anachronistisch? Die Schotten stimmen wahrscheinlich über ihre Unabhängigkeit ab

Seit 2007 regiert in Schottland eine Partei, deren offizielles Ziel die Unabhängigkeit ist. Seit 2011 regiert sie allein, bei den Wahlen im Mai hat sie einen Erdrutschsieg errungen. Jetzt will sie die Unabhängigkeit mit einem Referendum besiegeln. Die Vorstellung, dass in Europas Norden tatsächlich ein neuer Staat entsteht, ist real geworden.

Woher kommt diese scheinbar so anachronistische Blüte des Nationalismus?
Aus einem Artikel, in dem sich heute Maximilian Steinbeis in "Welt-Online" mit den Bestrebungen befaßt, Schottland von Großbritannien zu lösen.

Kommentar: Steinbeis hat sich in Edinburgh umgehört. Seine Reportage ist kundig und gut geschrieben. Ich empfehle, sie zu lesen. Sie erfahren dann Fundiertes über die wirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen, ein bißchen auch die psychologischen Hintergründe der Bestrebungen, Schottland in die Unabhängigkeit zu führen.

Ich möchte jetzt nur die Formulierung von Steinbeis "scheinbar so anachronistische Blüte des Nationalismus" kommentieren:

Zum einen geht aus dem weiteren Text selbst hervor, daß es weniger um Nationalismus als eine Ideologie geht als vielmehr um die Wahrung von regionalen schottischen Interessen, die von der Regierung in London und dem Parlament in Westminister vernachlässigt wurden und werden.

Diese haben die Möglichkeit zu einer solchen Haltung; denn mit der Selbstbestimmung Schottlands ist es nicht weit her.

Auch wenn im Sport die FIFA und die UEFA beispielsweise Schottland eine eigene Nationalmannschaft gestatten - das Parlament in Edinburgh hat weniger Rechte als beispielsweise der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. Die Außenwahrnehmung täuscht da. Was die Schotten an Rechten haben, besitzen sie nicht kraft eigenen Anspruchs; es wird ihnen von London lediglich großzügig gewährt.

Und zum anderen und vor allem: Stimmt es denn, daß Nationalismus in Europa anachronistisch ist? Mir scheint, das Gegenteil ist der Fall. Er ist en vogue; so sehr, wie nicht mehr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Um 1960 herum hätte man vielleicht sagen können, daß der europäische Nationalismus anachronistisch sei - in dem Sinn, daß er nun immer weiter zurückgehen und von einer gemeinsamen europäischen Identität abgelöst werden würde.

Aber das ist ja nicht eingetreten. Es gibt auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Unterzeichnung der römischen Verträge keine europäische Identität, die geeignet wäre und sich dafür anbieten würde, die nationalen Identitäten abzulösen (siehe "Es gibt keine Europäer"; ZR vom 7. 1. 2012).

Nicht nur gibt es nach wie vor nur die nationalen Identitäten und keine europäische Identität; sondern nach 1990 hat es ja außerdem so etwas wie eine Renaissance des Nationalstaats in Osteuropa gegeben. Es fand nicht einfach nur ein "Zerfall" des Sowjetreichs und seiner Vasallen statt, sondern es entstand auch etwas Neues; oder vielmehr Altes:

Nationalstaaten, wie sie früher teils bestanden hatten, teils immer nur angestrebt worden waren, erblickten nun das Licht der Welt: Die baltischen Staaten, die zwischen ihrer Unfreiheit unter den Zaren und ihrer Zwangseingliederung in die UdSSR nur rund zwanzig Jahre selbständig gewesen waren; Staaten wie Mazedonien und die Slowenien, wie Tschechien und die Slowakei, die überhaupt erstmals Nationalstaaten wurden.

Es läßt sich durchaus behaupten, daß das Nationalstaats­prinzip, das im 19. Jahrhundert entstanden war und das nach 1919 eigentlich hatte realisiert werden sollen, erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten in Europa Wirklichkeit geworden ist.

Man hat diese Renaissance des europäischen Nationalismus oft übersehen, weil sie erstens auf Ost- Südost- und Teile Mitteleuropas beschränkt war; und vor allem, weil sie zweitens mit dem Streben dieser neuen Staaten einherging, in die EU aufgenommen zu werden.

Wie paßt das zusammen? Es paßt sehr gut zusammen. Solange man das europäische Projekt nicht als ein Unternehmen versteht, an dessen Ende eine einzige europäische Nation stehen soll, ist das Bestreben nach Nationalstaatlichkeit durchaus mit der Integration in Europa vereinbar.

In seinem Artikel weist Maximilian Steinbeis darauf hin, daß gerade die schottischen Nationalisten Europa positiver gegenüberstehen als viele englische Euroskeptiker:
"Die Unabhängigkeitsperspektive hängt davon ab, dass Schottland Teil der EU wird", sagt der Politikwissenschaftler Michael Keating von der Universität Aberdeen.

Bisher sei die Aussicht, in Europa isoliert zu sein, ein Argument gegen die Unabhängigkeit gewesen – jetzt sei es eins für sie. Außerdem, so Keating weiter, werde es im Ausland durchaus bemerkt, dass Euro-Skeptizismus ein primär englisches Phänomen sei und nicht ein schottisches.
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Zettel



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