25. Februar 2012

Zitat des Tages: "Erinnerung an die osteuropäische Geschichte". Anmerkung zu einer Formulierung von Joachim Gauck gestern in Fürth

"Ich kann nicht glauben, dass manche die Stasi nicht kennen." Die Veranstaltung in der ausverkauften Comödie war der erste öffentliche Auftritt Gaucks nach seiner Nominierung zum Kandidaten für das Amt des Staatsoberhauptes. Generell fehle es im heutigen Europa an einer Auseinandersetzung mit dem Osteuropa des Kalten Krieges. "In Europa wird gerade so getan, als ob es nur eine Erinnerung an eine westdeutsche Geschichte gibt, nicht aber auch eine osteuropäische."
Aus einem Artikel in der FAZ über die Lesung Joachim Gaucks am Freitag Abend in der Fürther "Comödie".

Kommentar: Ich zitiere das wegen einer Formulierung Gaucks: "Osteuropäische Geschichte". Nicht "DDR-Geschichte".

Joachim Gauck, der seinen Worte zu wählen weiß, macht damit auf etwas Wichtiges aufmerksam: Ein Kolonialgebiet hat keine eigenständige Geschichte. Eine "Geschichte der DDR" in dem Sinn, in dem es eine Geschichte der Bundesrepublik gibt, konnte nicht stattfinden, weil die DDR ja nur formal ein Staat war. Sie war faktisch Teil des sowjetischen Kolonialreichs; von Moskau mit einer gewissen Autonomie ausgestattet, die jederzeit revozierbar war.

Das galt für alle osteuropäischen Staaten. 1968 hatte der Kolonialherr in Prag gezeigt, wie es einer Kolonie ergeht, die sich auf einen Kurs der Entkolonialisierung begibt. Damals wurde die Breschnew-Doktrin von der "begrenzten Souveränität" der Kolonialgebiete explizit formuliert. Angewandt worden war sie schon bei der Niederschlagung vorausgehender Unabhängigkeits­bestrebungen; beispielsweise 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn.

Die Sowjetunion hatte den Kolonialismus des Zarenreichs von diesem übernommen und ausgebaut. Daß das oft nicht gesehen wird, mag unter anderem an dem trivialen Umstand liegen, daß die russischen und dann sowjetischen Kolonien nicht in Übersee lagen, sondern geographisch an das Mutterland anschließend; dieses wie ein Kranz umgebend.

Das ist indes eine Nebensächlichkeit; ansonsten waren alle Merkmale eines Kolonialreichs erfüllt: Die gewaltsame Eroberung der betreffenden Gebiete; sodann ihre wirtschaftliche Ausbeutung. Die Einsetzung von lokalen Verwaltungen, die dem Interesse der Kolonialmacht verpflichtet waren, auch wenn sie über "begrenzte Souveränität" verfügten. Die Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Kolonien nach dem Modell des Mutterlandes.

Die Jahre um 1990 waren deshalb nicht nur das Ende des Sozialismus in Osteuropa; sie waren zugleich eine Zeit der Entkolonialisierung. Rußland holte damals das nach, was Engländer, Franzosen und Portugiesen in ihren einstigen Kolonialreichen bereits seit den sechziger Jahren hinter sich hatten.

Allerdings versucht Putins Rußland inzwischen, das alte Kolonialreich in Form von Einflußzonen wiederherzustellen, was zu typischen postkolonialen Konflikten wie dem Krieg in Georgien/Ossetien führte (siehe zum Beispiel Entkolonialisierung oder "Selbstverstümmelung"? Rußlands auf dem Weg zurück zu einer imperialen Politik; ZR vom 16. 11. 2008, sowie Der 15. Juni 2011 - ein "ereignisreicher Tag für Rußlands Strategie". BMD, die Nato und der russische Imperialismus; ZR vom 17. 6. 2011).

Die Ereignisse in Osteuropa werden uns aufgrund dieses russischen Expansionismus künftig verstärkt beschäftigen. Auch dies ist ein Grund, sich mit der osteuropäischen Geschichte zu befassen.



Es wird in diesen Tagen oft hervorgehoben, daß zu der Kanzlerin Merkel demnächst ein Präsident treten wird, welcher deren biographische Erfahrungen teilt; bis hin zur geographischen Nähe zwischen den beiden Städten Templin und Rostock, in denen sie aufwuchsen (siehe Gauck und Merkel - ein Traumpaar?; ZR vom 20. 2. 2012).

Es wird aber - und aus dem Zitat über die Lesung Gaucks wird das deutlich - einen wesentlichen Unterschied geben:

Angela Merkel hat die DDR hinter sich gelassen, sie gewissermaßen für sich abgehakt; man könnte auch sagen: abgeschüttelt. Wenn sie einmal von ihr spricht, dann fast stets im Zusammenhang mit der damals fehlenden Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie in der Bundesrepublik haben. Als Hintergrund also, um eigentlich über unser heutiges Land zu reden. Angela Merkel ist ein handlungsorientierter, nach vorn schauender Mensch; nicht jemand, der zur rückschauenden Reflexion neigt.

Ganz anders Gauck. Mit ihm als Bundespräsident wird die Zeit, in der ein Teil Deutschlands zum sowjetischen Kolonialreich gehörte, sehr viel deutlicher ins allgemeine Bewußtsein treten. Beider Wertschätzung für unser heutiges Deutschland ist von ihrer Erfahrung der Unfreiheit und eines Unrechtsstaats geprägt. Merkel drückt das in ihrem Handeln aus, in ihren Entscheidungen. Gauck wird es zur Sprache bringen; mit der Wortgewalt, über die er verfügt.­
Zettel



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