Die großen Imperien des 19. Jahrhunderts sind im 20. Jahrhundert alle zerbrochen. Die Umstände waren freilich sehr verschieden.
Die Franzosen haben verbissen um einige ihrer Kolonien gekämpft; in Indochina und in Nordafrika. Später haben sie es den Engländern nachgemacht, die mit britischer Gelassenheit erst Indien und dann (nach dem Desaster des Kampfs gegen die Mau- Mau in Kenya) fast den ganzen Rest des Empire in die Unabhängigkeit entlassen haben; freilich in dem Bemühen, aus den einstigen Untertanen gute Freunde zu machen. Das gelang ganz passabel; den Briten mit dem Commonwealth of Nations, den Franzosen mit der Communauté Française.
In gewisser Weise leichter hatten es ein knappes halbes Jahrhundert zuvor die Deutschen und die Türken gehabt, denen man ihr Reich einfach wegnahm, nachdem sie den Krieg verloren hatten. Den Türken nahm man ein sehr großes, den Deutschen ein eher bescheidenes Kolonialreich. Viel "Platz an der Sonne" war ja nicht mehr frei gewesen, als - verspätet, wie es als Nation war - auch Deutschland gern noch Kolonialmacht hatte werden wollen. Diese Kolonien gingen kurz und schmerzlos 1919 verloren; wie auch den Türken ihr ohnehin krankes Kolonialreich.
Rußland ist ein Sonderfall. Es ist die einzige der Kolonialmächte, die fast alle ihre Kolonien schon verloren hatte und sie noch einmal zurückgewann.
Verloren hatte es das gesamte Kolonialreich im Westen im März 1918 mit dem Frieden von Brest- Litowsk; wiedergewonnen hat es diese Kolonien in Etappen zwischen 1919 und den Jahren ab 1945 - von der Ukraine, die trotz Brest- Litowsk nie so recht selbständig geworden und schon bald wieder ein Teil Rußlands war, über Georgien, das 1921 wieder von Rußland annektiert wurde, bis zu beispielsweise Estland, das erst 1940, und zu Ostpolen, das erst durch das Potsdamer Abkommen wieder heim ins Russische Reich geholt wurde.
Als - wie es die russische Diplomatie gern nannte - "Ergebnis des Zweiten Weltkriegs" gewann Rußland nicht nur fast (mit Ausnahme hauptsächlich Finnlands) das ganze Zarenreich zurück, sondern dazu noch Gebiete, die es nie besessen oder kontrolliert hatte, sondern die bis 1919 überwiegend zum Habsburger Reich oder zum Osmanischen Reich gehört hatten; wie Ungarn, die Tschechoslowakei und Bulgarien.
Natürlich waren diese Länder formal souverän, aber faktisch waren sie Teile des russischen Reichs; weder politisch selbständig noch mit der Erlaubnis, im eigenen Interesse zu wirtschaften oder ihr Gesellschaftssystem selbst zu bestimmen. Diese Restaurierung der russischen Kolonialmacht war, wie in der dritten Folge dieser Serie dargelegt, neben dem Weltkommunismus und der Fähigkeit einer Diktatur, ihre Ressourcen auf das Militär zu konzentrieren, einer der drei Gründe dafür, daß das rückständige Rußland zur zweiten Weltmacht hatte aufsteigen können.
Anders als Frankreich und England verlor Rußland seine Kolonien nicht, weil Unabhängigkeitsbewegungen erfolgreich gewesen waren; sondern das Reich zerfiel, weil es längst morsch geworden war.
Ab Beginn der neunziger Jahre stand das Land vor der Aufgabe, mit dem Verlust dieses Reichs fertig zu werden und den Platz in der Völkergemeinschaft einzunehmen, der ihm - einem wirtschaftlich rückständigen, allerdings bevölkerungs- und rohstoffreichen Land - zustand; einem europäischen Entwicklungsland wie Portugal, das aber das Potential hat, zu einem reichen, entwickelten Land wie Frankreich oder Deutschland zu werden.
Rußland hat - das wird immer deutlicher - vor dieser historischen Aufgabe versagt.
Die USA und Westeuropa setzten auf eine positive Entwicklung, als sie Rußland nach dem Ende seines Kolonialreichs und des Kommunismus eine Kooperation mit der Nato, vielleicht sogar die Aufnahme in die Nato in Aussicht stellten. In eine Nato, die nicht mehr dem Containment, der Eindämmung, dienen sollte wie zur Zeit der UdSSR, sondern der Aufrechterhaltung des Friedens in den Konfliktzonen des neuen Europa.
Rußland hätte diese ausgestreckte Hand annehmen können. Es hätte sich zum Ziel setzen können, wie andere unterentwickelte Länder an der Peripherie Europas mit Hilfe der EU zu Wohlstand zu kommen; einem Wohlstand, den es eigener Leistung verdankt. Zu einem Land zu werden, das folglich auf ein Kolonialreich verzichten kann. Vielleicht mit der Perspektive einer privilegierten Partnerschaft mit der EU.
Freilich hätte das eine tiefgreifende Umgestaltung verlangt. Es hätte verlangt, daß Rußland ernst macht mit Demokratie und Rechtsstaat, mit wirtschaftlicher und bürgerlicher Freiheit. Kurz, daß es ab 1989 den Prozeß wieder aufgenommen hätte, der 1917 durch die Oktoberrevolution abgebrochen worden war.
Das ist nicht geschehen. Warum, das wäre getrennt zu erörtern. Jedenfalls fielen Ende der neunziger Jahre mit dem Aufstieg Putins die Würfel für einen anderen Weg. Für einen Weg der inneren Restauration eines autoritären Staats, der zunehmend wieder Züge der Sowjetunion annimmt, und außenpolitisch der Wiederherstellung einer russischen "Einflußsphäre" dort, wo es einmal die Sowjetunion und ihre Satelliten gegeben hatte.
Erste deutliche Anzeichen für diesen Schwenk zur Politik eines neuen russischen Imperialismus gab es auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007, als Putin Töne anschlug, wie man sie seit Sowjetzeiten von keinem russischen Verantwortlichen mehr gehört hatte. Es folgten Drohungen und inszenierte Krisen, die schließlich in der Invasion Georgiens gipfelten. Der jüngste Schritt auf diesem Weg zurück zur "Einflußsphäre" ist die angekündigte Aufstellung von Iskander- Raketen in der Exklave Kaliningrad.
So, wie die Politik Gorbatschows von Theoretikern wie Alexander Jakowlew vorbereitet und durch sie begleitet wurde, so hat auch diese neoimperiale Politik Putins ihre Theoretiker. Zu ihnen gehört der in der zweiten Folge dieser Serie gewürdigte Igor Maximytschew. Es lohnt sich, den Text seines Vortrags in Berlin im Februar dieses Jahres zu studieren. Er liest sich wie die historische Rechtfertigung des jetzigen Vorgehens von Putin.
Der Ausgangspunkt von Maximytschew - und der Anlaß für seine Rede - ist der Friede von Brest- Litowsk, der Ende 1917 verhandelt und am 8. März 1918 unterzeichnet wurde. Die Verhandlungspartner der deutschen Generäle und Diplomaten, die über einen Frieden im Osten verhandelten, waren Bolschewiken, bei denen der anfängliche Verhandlungsführer Joffe bald von keinem Geringeren als Leo Trotzki abgelöst wurde.
Nachdem man nicht vorangekommen war, brach Trotzki die Verhandlungen ab, worauf die Deutschen ankündigten, die Kriegshandlungen wieder aufzunehmen. Da Rußland praktisch keine Armee mehr hatte, blieb Trotzki und Lenin keine Wahl, als den Frieden zu unterzeichnen, der den Verlust nahezu des gesamten russischen Kolonialreichs im Westen bedeutete: Finnland, die baltischen Staaten, die Ukraine, Polen, die Kaukasusstaaten sollten selbständig werden.
Das kommt Ihnen bekannt vor? Ja, es war in der Tat ein erstes Mal das, was sich sehr ähnlich wieder nach 1989 abspielte. Mit dem Unterschied allerdings, daß die damaligen deutschen Pläne vorsahen, diese von Rußland abgetrennten "Randgebiete" (so nennt sie Maximytschew) deutscher Hegemonie zu unterstellen. 1918 sollten diese Gebiete gewissermaßen nur den Besitzer wechseln; nach 1989 fand hingegen eine Entkolonialisierung statt.
Maximytschew aber sieht die Entkolonialisierung als ein zweites Brest- Litowsk. So, als lebten wir noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, betrachtet er sie nicht als das Nachholen eines historischen Prozesses, den die anderen kolonialen Imperien längst hinter sich hatten, sondern als eine Bedrohung für Rußland:
Maximytschew hat Recht - Rußland wurde auf sein eigenes Territorium "zurückgeworfen". So, wie die Türkei und Deutschland 1919, wie das Vereinigte Königreich und Frankreich in den Jahren der Entkolonialisierung. Es liegt im Wesen des Verlusts von Kolonien, daß man auf das Mutterland "zurückgeworfen" wird.
Maximytschew nennt das "Selbstverstümmelung" und "Teilung des Landes". Er trauert offenkundig den verlorenen Kolonien nach, so wie französische Nationalisten nach dem Verlust Algeriens diesem Teil Frankreichs nachtrauerten und sie den General de Gaulle dafür, daß er Frankreich "verstümmelt" hatte, gern zu Tode befördert hätten.
Fast immer sind solche nationalistischen Klagelieder mit Verschwörungstheorien verbunden. Die französischen Nationalisten machten vor allem die USA für den Verlust ihrer Kolonien verantwortlich; und für Maximytschew ist der Schuldige die Nato:
Jener USA, die natürlich, so sieht es Maximytschew, neben Deutschland der zweite "Initiator" sind:
Maximytschew kommt zu dem Fazit, das ich schon am Ende der zweiten Folge zitiert habe: Der Vertrag von Brest sei "leider keine graue Vergangenheit. Sein Gespenst geht in Europa um und nicht nur in Europa". Rußland und die übrige Welt müßten "sich diese Realität vor Augen halten, denn diese Situation stellt an uns alle die Frage von Leben oder Tod. Es ist nicht zu spät, den Rückgang [sic] einzuschalten".
Den Rückwärtsgang freilich hat Maximytschew eingeschaltet.
Er sieht die Entkolonialisierung als den Verlust von "Randgebieten Rußlands", als eine "Selbstverstümmelung" und "Teilung" Rußlands. Mit anderen Worten, er rechnet die verlorenen Kolonien nach wie vor zu Rußland. Man wird ihn einen Revisionisten nennen dürfen; jedenfalls spricht er wie ein Revisionist. Denn was er den "Rückwärtsgang" nennt, ist - so darf man ihn wohl interpretieren - die Wiederherstellung der Hegemonie Rußlands über seine "Randgebiete". Vorerst der Hegemonie.
Er denkt in den Kategorien der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, der Professor Igor Maximytschew. Auf den Gedanken, daß die selbständig gewordenen Staaten zwischen der Ostsee und dem Kaukasus aus eigenem Interesse heraus, nämlich um vor solchen revisionistischen Tendenzen Rußlands, solchen Ideen über den "Rückwärtsgang", Schutz zu finden, sich nach Westen orientieren, kommt er gar nicht. Er sieht nur Drahtzieher, von Deutschland bis zu den USA. Jedenfalls sagt er es so.
Und er denkt nicht als ein einsamer Wissenschaftler vor sich hin, der Igor Maximytschew. Er gehörte einst als Gesandter an der russischen Botschaft in der DDR zu den wichtigsten Deutschlandpolitikern Rußlands. Heute ist er Leiter des Bereichs "Europäische Sicherheit" am Europa- Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Zu befürchten ist, daß Putin und seine anderen Ratgeber so denken wie Maximytschew. Daß auch sie das heutige Rußland als ein verstümmeltes, geteiltes, seiner Randgebiete beraubtes Land sehen. Wenn das so ist, dann macht Putins Georgien- Politik Sinn. Dann darf man gespannt darauf sein, wo er als nächstes die Verstümmelung zu heilen versucht. Im Baltikum? Auf der Krim?
Die Franzosen haben verbissen um einige ihrer Kolonien gekämpft; in Indochina und in Nordafrika. Später haben sie es den Engländern nachgemacht, die mit britischer Gelassenheit erst Indien und dann (nach dem Desaster des Kampfs gegen die Mau- Mau in Kenya) fast den ganzen Rest des Empire in die Unabhängigkeit entlassen haben; freilich in dem Bemühen, aus den einstigen Untertanen gute Freunde zu machen. Das gelang ganz passabel; den Briten mit dem Commonwealth of Nations, den Franzosen mit der Communauté Française.
In gewisser Weise leichter hatten es ein knappes halbes Jahrhundert zuvor die Deutschen und die Türken gehabt, denen man ihr Reich einfach wegnahm, nachdem sie den Krieg verloren hatten. Den Türken nahm man ein sehr großes, den Deutschen ein eher bescheidenes Kolonialreich. Viel "Platz an der Sonne" war ja nicht mehr frei gewesen, als - verspätet, wie es als Nation war - auch Deutschland gern noch Kolonialmacht hatte werden wollen. Diese Kolonien gingen kurz und schmerzlos 1919 verloren; wie auch den Türken ihr ohnehin krankes Kolonialreich.
Rußland ist ein Sonderfall. Es ist die einzige der Kolonialmächte, die fast alle ihre Kolonien schon verloren hatte und sie noch einmal zurückgewann.
Verloren hatte es das gesamte Kolonialreich im Westen im März 1918 mit dem Frieden von Brest- Litowsk; wiedergewonnen hat es diese Kolonien in Etappen zwischen 1919 und den Jahren ab 1945 - von der Ukraine, die trotz Brest- Litowsk nie so recht selbständig geworden und schon bald wieder ein Teil Rußlands war, über Georgien, das 1921 wieder von Rußland annektiert wurde, bis zu beispielsweise Estland, das erst 1940, und zu Ostpolen, das erst durch das Potsdamer Abkommen wieder heim ins Russische Reich geholt wurde.
Als - wie es die russische Diplomatie gern nannte - "Ergebnis des Zweiten Weltkriegs" gewann Rußland nicht nur fast (mit Ausnahme hauptsächlich Finnlands) das ganze Zarenreich zurück, sondern dazu noch Gebiete, die es nie besessen oder kontrolliert hatte, sondern die bis 1919 überwiegend zum Habsburger Reich oder zum Osmanischen Reich gehört hatten; wie Ungarn, die Tschechoslowakei und Bulgarien.
Natürlich waren diese Länder formal souverän, aber faktisch waren sie Teile des russischen Reichs; weder politisch selbständig noch mit der Erlaubnis, im eigenen Interesse zu wirtschaften oder ihr Gesellschaftssystem selbst zu bestimmen. Diese Restaurierung der russischen Kolonialmacht war, wie in der dritten Folge dieser Serie dargelegt, neben dem Weltkommunismus und der Fähigkeit einer Diktatur, ihre Ressourcen auf das Militär zu konzentrieren, einer der drei Gründe dafür, daß das rückständige Rußland zur zweiten Weltmacht hatte aufsteigen können.
Anders als Frankreich und England verlor Rußland seine Kolonien nicht, weil Unabhängigkeitsbewegungen erfolgreich gewesen waren; sondern das Reich zerfiel, weil es längst morsch geworden war.
Ab Beginn der neunziger Jahre stand das Land vor der Aufgabe, mit dem Verlust dieses Reichs fertig zu werden und den Platz in der Völkergemeinschaft einzunehmen, der ihm - einem wirtschaftlich rückständigen, allerdings bevölkerungs- und rohstoffreichen Land - zustand; einem europäischen Entwicklungsland wie Portugal, das aber das Potential hat, zu einem reichen, entwickelten Land wie Frankreich oder Deutschland zu werden.
Rußland hat - das wird immer deutlicher - vor dieser historischen Aufgabe versagt.
Die USA und Westeuropa setzten auf eine positive Entwicklung, als sie Rußland nach dem Ende seines Kolonialreichs und des Kommunismus eine Kooperation mit der Nato, vielleicht sogar die Aufnahme in die Nato in Aussicht stellten. In eine Nato, die nicht mehr dem Containment, der Eindämmung, dienen sollte wie zur Zeit der UdSSR, sondern der Aufrechterhaltung des Friedens in den Konfliktzonen des neuen Europa.
Rußland hätte diese ausgestreckte Hand annehmen können. Es hätte sich zum Ziel setzen können, wie andere unterentwickelte Länder an der Peripherie Europas mit Hilfe der EU zu Wohlstand zu kommen; einem Wohlstand, den es eigener Leistung verdankt. Zu einem Land zu werden, das folglich auf ein Kolonialreich verzichten kann. Vielleicht mit der Perspektive einer privilegierten Partnerschaft mit der EU.
Freilich hätte das eine tiefgreifende Umgestaltung verlangt. Es hätte verlangt, daß Rußland ernst macht mit Demokratie und Rechtsstaat, mit wirtschaftlicher und bürgerlicher Freiheit. Kurz, daß es ab 1989 den Prozeß wieder aufgenommen hätte, der 1917 durch die Oktoberrevolution abgebrochen worden war.
Das ist nicht geschehen. Warum, das wäre getrennt zu erörtern. Jedenfalls fielen Ende der neunziger Jahre mit dem Aufstieg Putins die Würfel für einen anderen Weg. Für einen Weg der inneren Restauration eines autoritären Staats, der zunehmend wieder Züge der Sowjetunion annimmt, und außenpolitisch der Wiederherstellung einer russischen "Einflußsphäre" dort, wo es einmal die Sowjetunion und ihre Satelliten gegeben hatte.
Erste deutliche Anzeichen für diesen Schwenk zur Politik eines neuen russischen Imperialismus gab es auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007, als Putin Töne anschlug, wie man sie seit Sowjetzeiten von keinem russischen Verantwortlichen mehr gehört hatte. Es folgten Drohungen und inszenierte Krisen, die schließlich in der Invasion Georgiens gipfelten. Der jüngste Schritt auf diesem Weg zurück zur "Einflußsphäre" ist die angekündigte Aufstellung von Iskander- Raketen in der Exklave Kaliningrad.
So, wie die Politik Gorbatschows von Theoretikern wie Alexander Jakowlew vorbereitet und durch sie begleitet wurde, so hat auch diese neoimperiale Politik Putins ihre Theoretiker. Zu ihnen gehört der in der zweiten Folge dieser Serie gewürdigte Igor Maximytschew. Es lohnt sich, den Text seines Vortrags in Berlin im Februar dieses Jahres zu studieren. Er liest sich wie die historische Rechtfertigung des jetzigen Vorgehens von Putin.
Der Ausgangspunkt von Maximytschew - und der Anlaß für seine Rede - ist der Friede von Brest- Litowsk, der Ende 1917 verhandelt und am 8. März 1918 unterzeichnet wurde. Die Verhandlungspartner der deutschen Generäle und Diplomaten, die über einen Frieden im Osten verhandelten, waren Bolschewiken, bei denen der anfängliche Verhandlungsführer Joffe bald von keinem Geringeren als Leo Trotzki abgelöst wurde.
Nachdem man nicht vorangekommen war, brach Trotzki die Verhandlungen ab, worauf die Deutschen ankündigten, die Kriegshandlungen wieder aufzunehmen. Da Rußland praktisch keine Armee mehr hatte, blieb Trotzki und Lenin keine Wahl, als den Frieden zu unterzeichnen, der den Verlust nahezu des gesamten russischen Kolonialreichs im Westen bedeutete: Finnland, die baltischen Staaten, die Ukraine, Polen, die Kaukasusstaaten sollten selbständig werden.
Das kommt Ihnen bekannt vor? Ja, es war in der Tat ein erstes Mal das, was sich sehr ähnlich wieder nach 1989 abspielte. Mit dem Unterschied allerdings, daß die damaligen deutschen Pläne vorsahen, diese von Rußland abgetrennten "Randgebiete" (so nennt sie Maximytschew) deutscher Hegemonie zu unterstellen. 1918 sollten diese Gebiete gewissermaßen nur den Besitzer wechseln; nach 1989 fand hingegen eine Entkolonialisierung statt.
Maximytschew aber sieht die Entkolonialisierung als ein zweites Brest- Litowsk. So, als lebten wir noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, betrachtet er sie nicht als das Nachholen eines historischen Prozesses, den die anderen kolonialen Imperien längst hinter sich hatten, sondern als eine Bedrohung für Rußland:
Seit 1918, das heißt seit Brest, ist das Problem der Sicherheit des Landes zur alles beherrschenden Sorge der russischen Außen- wie Innenpolitik geworden, ganz gleich welche politische Strömung Oberhand in seiner Führung gewann. (...)Der zweite Teil dieses Zitats bezieht sich auf den zweiten Verlust des russischen Kolonialreichs, also die Zeit nach 1989.
In welchem Umfang genau die ausländischen Geheimdienste den Prozeß der Selbstverstümmelung Rußlands vorantrieben, läßt sich heute kaum feststellen, aber die Tatsache ihrer äußerst aktiven Einflußnahme auf die Ereignisse selbst steht außer Zweifel. Im Endeffekt war das Resultat der Teilung des Landes mit den Ergebnissen von Brest durchaus vergleichbar. Die westlichen und südlichen Grenzen Rußlands wurden fast haargenau auf den Zustand des 17. Jahrhunderts zurückgeworfen.
Maximytschew hat Recht - Rußland wurde auf sein eigenes Territorium "zurückgeworfen". So, wie die Türkei und Deutschland 1919, wie das Vereinigte Königreich und Frankreich in den Jahren der Entkolonialisierung. Es liegt im Wesen des Verlusts von Kolonien, daß man auf das Mutterland "zurückgeworfen" wird.
Maximytschew nennt das "Selbstverstümmelung" und "Teilung des Landes". Er trauert offenkundig den verlorenen Kolonien nach, so wie französische Nationalisten nach dem Verlust Algeriens diesem Teil Frankreichs nachtrauerten und sie den General de Gaulle dafür, daß er Frankreich "verstümmelt" hatte, gern zu Tode befördert hätten.
Fast immer sind solche nationalistischen Klagelieder mit Verschwörungstheorien verbunden. Die französischen Nationalisten machten vor allem die USA für den Verlust ihrer Kolonien verantwortlich; und für Maximytschew ist der Schuldige die Nato:
Ohne jegliche Provokation russischerseits begann die NATO ihren Marsch gen Osten, zur Grenze Rußlands, wobei als Initiator dieses Marsches das vereinte Deutschland auftrat – das Land, um dessen Freundschaft willen die Gorbatschowsche Sowjetunion die meisten geostrategischen Opfer gebracht hat. In den Nachbarstaaten Rußlands fanden nacheinander "farbige Revolutionen" statt, die mit einer offenen Hilfe des Westens Gruppierungen an die Macht brachten, die sich durch eine ausgesprochen rußlandfeindliche Einstellungauszeichneten.Daß die "Rußlandfeindlichkeit" der Ukrainer, der Georgier, der Balten nichts als Angst vor einer Restauration der russischen Hegemonie ist, sieht Maximytschew nicht. Keines dieser Länder plant ja Böses gegen die Russen; man will nur von ihnen in Ruhe gelassen werden. Und "Initiator" ihres "Marsches" in Freiheit und Selbstbestimmung sind sie selbst; dazu bedurfte und bedarf es weder Deutschlands noch der USA.
Jener USA, die natürlich, so sieht es Maximytschew, neben Deutschland der zweite "Initiator" sind:
Washington begann an einem System des Raketenschutzes zu basteln, das Amerika von jeder Gefahr des Vergeltungsschlages befreien sollte. (...) Jetzt ist bereits die Rede davon, daß die Basen der Killerraketen in unmittelbarer Nähe zu den Grenzen Rußlands entstehen sollten. Das sollte in Perspektive praktische Entwaffnung Rußlands zur Folge haben.Daß diese Raketen nicht gegen Rußland gerichtet sind, sondern gegen den Iran und Nordkorea, ignoriert Maximytschew. Mit "Entwaffnung" hat er freilich so ganz unrecht nicht. Denn wenn diese Raketen und ihr Leitsystem erst einmal in Polen und Tschechien stehen, dann bekommen diese beiden Länder für die USA ein so großes strategisches Gewicht, daß sie deren besonderen Schutz genießen. Das russische Potential, sie zu berohen und zu erpressen, wäre damit in der Tat massiv reduziert.
Maximytschew kommt zu dem Fazit, das ich schon am Ende der zweiten Folge zitiert habe: Der Vertrag von Brest sei "leider keine graue Vergangenheit. Sein Gespenst geht in Europa um und nicht nur in Europa". Rußland und die übrige Welt müßten "sich diese Realität vor Augen halten, denn diese Situation stellt an uns alle die Frage von Leben oder Tod. Es ist nicht zu spät, den Rückgang [sic] einzuschalten".
Den Rückwärtsgang freilich hat Maximytschew eingeschaltet.
Er sieht die Entkolonialisierung als den Verlust von "Randgebieten Rußlands", als eine "Selbstverstümmelung" und "Teilung" Rußlands. Mit anderen Worten, er rechnet die verlorenen Kolonien nach wie vor zu Rußland. Man wird ihn einen Revisionisten nennen dürfen; jedenfalls spricht er wie ein Revisionist. Denn was er den "Rückwärtsgang" nennt, ist - so darf man ihn wohl interpretieren - die Wiederherstellung der Hegemonie Rußlands über seine "Randgebiete". Vorerst der Hegemonie.
Er denkt in den Kategorien der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, der Professor Igor Maximytschew. Auf den Gedanken, daß die selbständig gewordenen Staaten zwischen der Ostsee und dem Kaukasus aus eigenem Interesse heraus, nämlich um vor solchen revisionistischen Tendenzen Rußlands, solchen Ideen über den "Rückwärtsgang", Schutz zu finden, sich nach Westen orientieren, kommt er gar nicht. Er sieht nur Drahtzieher, von Deutschland bis zu den USA. Jedenfalls sagt er es so.
Und er denkt nicht als ein einsamer Wissenschaftler vor sich hin, der Igor Maximytschew. Er gehörte einst als Gesandter an der russischen Botschaft in der DDR zu den wichtigsten Deutschlandpolitikern Rußlands. Heute ist er Leiter des Bereichs "Europäische Sicherheit" am Europa- Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Zu befürchten ist, daß Putin und seine anderen Ratgeber so denken wie Maximytschew. Daß auch sie das heutige Rußland als ein verstümmeltes, geteiltes, seiner Randgebiete beraubtes Land sehen. Wenn das so ist, dann macht Putins Georgien- Politik Sinn. Dann darf man gespannt darauf sein, wo er als nächstes die Verstümmelung zu heilen versucht. Im Baltikum? Auf der Krim?
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