21. November 2008

Zettels Meckerecke: Felix Krull als Bildungsideal. Ein Aspekt der deutschen Misere, und nicht der geringste

Wann ist jemand gebildet? Wer darauf etwa mit "Gute Frage" antwortet, hat sich schon als ungebildet zu erkennen gegeben.

Denn er hat sich schlecht ausgedrückt. In einer Umfrage von Allensbach, über die jetzt Thomas Petersen in der FAZ berichtete, bejahten 66 Prozent der Befragten die Aussage, es gehöre "zu einem gebildeten Menschen", daß er "sich gut ausdrücken" kann. Das ist die zweithäufigste Zahl von Nennungen, nur übertroffen von "Hat ein breites Wissen" (87 Prozent).

An dritter Stelle folgt mit 58 Prozent Zustimmung die Aussage: "Hat gute Manieren, weiß sich zu benehmen".

Woraus zu entnehmen ist, daß das Bildungsideal der Deutschen ziemlich gut durch Felix Krull repräsentiert wird.



Aber nicht darüber will ich meckern. Es hat ja gewiß etwas für sich, wenn jemand ein breites statt ein tiefes Wissen hat, wenn er dieses flüssig in eine charmante Unterhaltung einbringen kann und wenn ihm das auch noch gelingt, ohne zu rülpsen und sich den Mund mittels der Tischdecke abzuwischen.

Da ist schon das Wichtigste zusammen von dem, was Norbert Elias in "Über den Prozeß der Zivilisation" als Merkmale zivilisierten Verhaltens untersucht hat.

Meckern will ich darüber, wie in dieser Umfrage mit den Wissenschaften umgegangen wurde, und zwar von den Befragern und/oder den Befragten.

Es wurden nämlich auch Interessen abgefragt im Hinblick darauf, ob sie zu besitzen als Merkmal von Bildung anzusehen sei; und es wurde die Bildung nach Wissensgebieten differenziert. Hier sind die Zahlen derjenigen, die das Betreffende als Teil der Bildung ansahen:
  • Liest viel: 56
  • Beherrscht Fremdsprachen: 46
  • Kennt sich in der Geschichte gut aus: 38
  • Interessiert sich für Politik: 35
  • Versteht viel von Wirtschaft: 26
  • Kann gut mit Computern umgeben: 21
  • Interessiert sich für Umweltfragen: 20
  • Interessiert sich für Philosophie, die Großen Denker: 18
  • Interessiert sich für Technik: 11
  • Interessiert sich für Kunst, Malerei: 10
  • Versteht viel von Musik: 7
  • Mit anderen Worten: Gebildet wird man auf einem neusprachlichen Gymnasium, wenn man in Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, Musik, Kunst und Philosophie gut aufpaßt. Auch ein wenig Computerei und Interesse an Technik kann nicht schaden.

    Keine Chance, als gebildet zu gelten, hat dagegen derjenige, der ein mathematisch- naturwissenschaftliches Gymnasium hinter sich gebracht hat. Nach Mathematik, nach Physik, Chemie, Biologie, nach Astronomie und Geowissenschaften wurde entweder gar nicht erst gefragt, oder diese wurden so selten genannt, daß sie nicht in der Tabelle auftauchen.



    Mir scheint, besser kann man die Misere Deutschlands kaum illustrieren.

    Ein Land, das wie kaum ein anderes von seinen Leistungen in den Naturwissenschaften und deren technischer Anwendung abhängt, hat eine Bevölkerung, die Kenntnisse in diesen Bereichen überhaupt nicht, oder allenfalls in verschwindender Häufigkeit, zur Bildung rechnet.

    Ich vermute, lieber Leser, daß das auch Ihrer Alltagserfahrung entspricht.

    Ich jedenfalls treffe immer wieder Menschen, die mir fröhlich versichern, sie hätten in Mathematik eine fünf gehabt; oder sie hätten keine Ahnung davon, wie weit die Erde von der Sonne entfernt ist oder warum ein Flugzeug eigentlich nicht runterfällt, wo es doch schwerer als Luft ist. Nicht nur geben sie in diesen Bereichen ihre krasse Unbildung ohne Scham zu, sondern manche brüsten sich dieser Bildungsmängel geradezu, kokettieren jedenfalls damit.

    Daß jemand damit kokettiert, keinen richtigen deutschen Satz schreiben zu können oder nicht zu wissen, wer Beethoven oder wer Goethe war, ist mir dagegen noch nie begegnet.



    Auf eine deprimierende Weise bestätigt auch der Artikel von Thomas Petersen diese Erfahrungen. Petersen äußert sich hier und da vorsichtig kritisch zu den Ergebnissen der Umfrage; vor allem, was den Niedergang der klassischen Bildung angeht (auch Griechisch und Latein, einst die Grundlagen jeder Bildung, kommen ja in der Liste gar nicht mehr vor). Aber über die eklatante Vernachlässigung von Mathematik und Naturwissenschaften bei dem, was man in Deutschland unter Bildung versteht, verliert er kein einziges Wort.



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