27. November 2008

Die Anschläge in Mumbai - Fakten und Spekulationen

Die Anschläge in Mumbai sind, was die psychologische Wirkung angeht, die schlimmsten seit 9/11. Zwar liegt die Zahl der Opfer weitaus niedriger als damals. (Die Bezirksregierung von Maharascha, deren Sprecher Bhushan Gagrani gegen vier Uhr MEZ eine Erklärung abgab, nannte 84 Tote und ungefähr 200 Verletzte; andere Schätzungen liegen höher). Aber wie 2001 in New York trafen die Anschläge eine Nation in ihr Zentrum. Mumbai, das früher Bombay (ungefähr 19 Millionen Einwohner) ist das New York Indiens.

Die Fakten, so wie sie sich am frühen Morgen darstellen:
  • Anders als z.B. "Spiegel- Online" im Augenblick behauptet, gab es nicht "Angriffe auf Luxushotels, Krankenhäuser, Cafes und einen Bahnhof". Attackiert wurden zwei Hotels (das Taj Mahal Palace und das Oberoi Trident), ein Bahnhof (die Chhatrapati Shivaji Railway Station), ein Restaurant (Leopold's Café), wahrscheinlich eine Polizeistation, möglicherweise ein Kino und ein Krankenhaus (das Cama Hospital für Kinder und Frauen).

    Außerdem wurden Menschen an verschiedenen Stellen auf offener Straße angegriffen. Der größte derartige Vorfall bestand darin, daß Terroristen ein Polizeifahrzeug eroberten und aus ihm heraus auf eine Gruppe von Journalisten feuerten, die sich zur Berichterstattung über ein vorausgegangenes Attentat versammelt hatten.

  • Alle Angriffsziele liegen im selben Stadtteil, auf einer Landzunge östlich der Back Bay ganz in Süden der Stadt (siehe Karte). Es gibt die Vermutung, daß ein Teil der (insgesamt vermutlich mehreren hundert) Terroristen über See eingedrungen sein könnten.

  • Die Angriffe richteten sich zumindest teilweise gegen Amerikaner und Briten. Nach ihnen suchten die Terroristen offenbar gezielt bei der Geiselnahme in den beiden Hotels. In CNN berichtete ein junger Mann, daß seine Eltern verschont geblieben waren, nachdem sich herausstellte, daß sie Moslems waren. Israel ist besorgt über das Schicksal von Juden, darunter der Familie eines Rabbiners.

  • In den Hotels spielten sich nach Augenzeugen- Berichten dramatische Szenen ab. Gäste versuchten sich in ihren Zimmern zu verbarrikadieren. Mit einem von ihnen führte CNN ein Telefon- Interview. Er schilderte als sein schrecklichstes Erlebnis, wie ein Gast sich über das Fenster zu retten versuchte und nun hilflos am Geländer hing. Was aus ihm wurde, konnte er nicht sagen. Eine Angestellte von CNN, die sich zufällig in dem Hotel aufgehalten hatte, bestätigte den Vorfall.

    Darüber, wieviele Geiseln noch in der Hand von Terroristen sind, ist bis zum frühen Morgen nichts bekannt. In der zitierten Stellungnahme behauptete der Sprecher Bhushan Gagrani, die Sicherheitskräfte hätten "die Lage völlig unter Kontrolle". Aber danach meldete CNN noch Schießereien.

  • Die Stadt Mumbai scheint in einer Art Schockzustand zu sein. Die Schulen bleiben heute geschlossen. Die Börse wird ebenfalls nicht öffnen.
  • Soweit die wichtigsten Fakten. Das meiste andere ist gegenwärtig Spekulation. Die Motive sind ebenso unklar, wie die Organisation unbekannt ist, die hinter den Anschlägen steckt.

    Islamistische Attentate hat es in letzter Zeit in Indien gehäuft gegeben (erst vor sechs Wochen starben dabei in New Delhi zwanzig Menschen), aber nichts von auch nur annähernd diesem Umfang. Die Täter könnten lokale Islamisten sein (eine solche Organisation, die Deccan Mudschaheddin, hat sich als Täter bekannt; was wenig zu sagen hat). Es könnte auch die Kaida sein. Für deren Täterschaft spricht der ausgezeichnet koordinierte Ablauf und die gezielte Auswahl westlicher Opfer.

    Mögliche Motive und Anlässe sind:
  • Es hat kürzlich wieder Cross Border Attacks (grenzüberschreitende Angriffe) pakistanischer und amerikanischer Kräfte auf Taliban- und Kaida- Truppen gegeben.

  • Indien nähert sich im Augenblick den USA an und hat kürzlich mit ihnen ein Nuklear- Abkommen geschlossen.

  • In Kaschmir haben im vergangenen Halbjahr die Spannungen wieder zugenommen.

  • In verschiedenen indischen Staaten finden derzeit Wahlen statt.

  • Als längerfristige Ursache für den erstarkenden Islamismus in Teilen Indiens dürfte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine Rolle spielen. Die aufstrebende Mittelklasse besteht überwiegend aus Hindus; die Moslems gehören meist den Unterschichten an, die vom gegenwärtigen Aufstieg Indiens noch wenig profitieren. Dieser Hintergrund ist vor allem dann in Betracht zu ziehen, wenn die Drahtzieher lokale Islamisten sind.

  • Das wohl nächstliegende Motiv, falls die Kaida der Urheber ist, dürfte der bevorstehende Wechsel der Regierung in Washington sein. Mit Präsident Bush geht der Kaida ein optimales Feindbild verloren. Sie hat ein Interesse daran, schon jetzt den künftigen Präsidenten Obama zu testen, um zu entscheiden, ob sie ihre bisherige Strategie beibehalten oder ändern soll. Das gilt nicht nur für den Irak, sondern für alle Operationsgebiete der Terroristen.
  • Reagiert Obama in den nächsten Tagen - vorerst noch verbal - ebenso entschlossen wie bisher Bush, dann dürfte das für die Kaida ein erstes Signal sein, ihre bisherige Strategie fortsetzen, die USA als den großen Satan darzustellen.

    Sollte Obama Schwäche zeigen, dann könnte Osama bin Laden wieder eine Strategie aus der Versenkung holen, mit der er es schon einmal in den Jahren nach dem Anschlag auf das World Trade Center versucht hat; vor allem in einer Botschaft 2004: Den USA anzubieten, man werde sie in Ruhe lassen, sofern sie sich nur aus dem Irak, aus Afghanistan usw. zurückziehen.



    Die Informationen in diesem Artikel verdanke ich den Nachrichtensendern, die die vergangene Nacht über berichteten: Al Jazeera English, der BBC und vor allem CNN, das dank seines indischen Filialsenders CNN-IBN am umfangreichsten informiert hat.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.