14. November 2008

Georgien und der russische Imperialismus (3): Hat Rußland Anspruch auf den Status einer Großmacht?

Diese Serie begann mit einer kurzen Bemerkung Helmut Schmidts: Georgien, so hatte er es im Interview mit Giovanni di Lorenzo gesagt, solle nicht in die Nato aufgenommen werden, denn es sei kein europäisches Land, sondern "ein Teil Asiens".

In der ersten Folge bin ich der Frage nachgegangen, ob Georgien wirklich nicht in Europa liegt. Das Ergebnis war, daß das umstritten ist, daß aber mehr dafür als dagegen spricht, Georgien zu Europa zu zählen.

Nun ging es dem Altkanzler natürlich nicht um die Geografie als solche. Seine Behauptung, Georgien liege in Asien, diente ihm dazu, das formal zu begründen, was er für politisch richtig hält und was er in dem Interview auch deutlich gesagt hat: Er rät davon ab, sich "über die Einflußsphären [von] Großmächte[n] hinweg[zu]setzen".

Schmidt setzt also voraus, daß Rußland eine Einflußsphäre hat; daß sie ihm jedenfalls zusteht, weil es nun einmal eine Großmacht ist. Eine Sicht der Dinge, die Schmidt vermutlich mit vielen heutigen Verantwortlichen in Moskau teilt; ganz sicher aber mit Igor Maximytschew, der dazu kürzlich - am 2. Februar dieses Jahres - eine bemerkenswerte Rede gehalten hat.

Mit der Person von Maximytschew und dieser Rede befaßte sich die zweite Folge, und ich werde in de vierten Folge noch einmal darauf zurückkommen. Im folgenden untersuche ich etwas genauer, was es mit dem Großmachts- Anspruch Moskaus auf sich hat.



Rußland liegt mit einem nominellen Bruttosozialprodukt (BSP)von 1,3 Billionen Dollar zwischen Brasilien und Indien. Vor Brasilien liegen Italien, Spanien und Kanada. Im Bruttoeinkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt es weltweit an 56. Stelle, zwischen Botswana und dem Libanon. Es hat dazu die Wirtschaftsstruktur eines Entwicklungslands, mit dem Export von Rohstoffen und einer unterentwickelten Konsumgüterindustrie; erst recht einem unterentwickelten Dienstleistungsbereich.

Nun gut, Reichtum ist nicht das einzige Kriterium für den Status einer Großmacht. Wie sieht es mit der Bevölkerungszahl aus? Mit rund 141 Millionen Einwohnern liegt Rußland auf Platz neun in der Welt; die unmittelbar vor ihm liegenden Länder sind Indonesien, Brasilien, Pakistan, Bangla Desch und Nigeria. Keines dieser Länder hat bisher den Anspruch erhoben, als Großmacht anerkannt zu werden.

Rußland ist ein nach Bevölkerung nicht besonders großes Land, das nicht mehr an Gütern und Dienstleistungen produziert als Brasilien, und dessen Einwohner im Durchschnitt ärmer sind als die von Botswana.

Aber auf seiner Militärmacht basiert doch der Geltungsanspruch Rußlands als Großmacht? In gewisser Hinsicht ja; aber auch hier ist das Bild anders, als das manchen Vorstellungen entsprich. In den Militärausgaben liegt Rußland auf Platz 5 - hinter Frankreich und Großbritannien; etwa gleichauf mit Deutschland (Rußland 50 Milliarden Dollar/Jahr; Deutschland 46 Milliarden Dollar; jeweils letzte verfügbare Zahl).

Nun spiegeln die laufenden Ausgaben für das Militär nicht dessen Schlagkraft wider; ein anderer Indikator ist die Truppenstärke. Rußland hat rund eine Million Mann unter Waffen und liegt damit in der Tat weltweit in der Spitzengruppe - zwischen Nordkorea und Pakistan. Bezieht man Reservisten und Paramilitärische Truppen ein, dann liegt es auf Platz 6, hinter Nordkorea und Südkorea und vor Indien. Weder Nordkorea noch Pakistan werden im allgemeinen wegen ihres aufgeblasenen Militärs als Großmächte betrachtet.

Was bleibt, ist die Qualität des Militärs. Rüstungstechnisch mag Rußland aus Sowjet- Zeiten noch diesen anderen Staaten überlegen sein. Und es bleibt natürlich vor allem die Atomrüstung.



Aber rechtfertigt allein diese immer noch vorhandene militärische Stärke, daß ein Land, das in keiner anderen Hinsicht auch nur in der Nähe der Weltspitze liegt, den Status einer Großmacht beansprucht? Wohl kaum.

Die Selbstverständlichkeit, mit der viele in Deutschland, sogar Helmut Schmidt, es den Russen zubilligen, einen anderen Status als Frankreich, Deutschland oder das Vereinigte Königreich oder auch nur als Spanien, Indonesien oder Brasilien für sich zu reklamieren, hat historische Gründe.

Das im Jahr 1917 untergegangene Zarenreich war wirklich eine Großmacht gewesen - so, wie die anderen Kolonialreiche Großbritannien, Frankreich, Österreich- Ungarn, das Osmanische Reich und Deutschland.

Deutschland, Österreich- Ungarn und das Osmanische Reich verschwanden 1919 aus der Liste der Großmächte; Frankreich und das Vereinigte Königreich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie ihre Kolonien verloren. Rußland blieb das letzte der großen Kolonialreiche und dehnte sein Machtgebiet nach 1945 sogar noch über das des Zarenreichs hinaus nach Westen aus.

Das war der eine Grund dafür, daß dieses rückständige und arme Land zu einer der beiden Weltmächte aufstieg. Es war die letzte Kolonialmacht; und seine Kolonien vor allem im Westen waren entwickelte, industrialisierte Länder. Das Rußland, dessen Machtgebiet bis an die Oder und an die Donau reichte, war in der Tat eine Großmacht, ja eine Weltmacht.

Der zweite Grund war, daß Rußland zugleich die lange Zeit unumstrittene Führungsmacht des Weltkommunismus war. Sein Einfluß reichte dadurch bis hinein in Weltgegenden, die der Großmacht- Politik des zaristischen Rußland verschlossen gewesen waren; von Cuba bis Angola, von Kambodscha bis Nordkorea.

Drittens konnte die kommunistische Dikatur in einem Maß, das in einer Demokratie unvorstellbar ist, die Konsumgüter- Industrie zugunsten der Schwer- und vor allem der Rüstungs- Industrie vernachlässigen. Das Rußland der Sowjet- Zeit war ein modernes Sparta; ein militaristischer Staat, gegen den das Preußen des 18. Jahrhunderts verblaßt.

Das einzige Gebiet, auf dem dieser Staat neben dem militärischen Spitzenleistungen vollbrachte, war die Raumfahrt. Und diese stand nicht nur im Dienst der Propaganda, sondern ganz wesentlich auch in dem des Militärs.



Die Sowjetunion war also eine Weltmacht nicht aufgrund ihrer inneren Stärke, sondern aufgrund von Faktoren, die alle nur vorübergehend existierten.

Als es 1989 vorbei war mit dem russischen Kolonialismus, mit der Diktatur und mit dem Weltkommunismus, da hätte Rußland allen Grund gehabt, sozusagen ins Glied zurückzutreten - sich als ein Entwicklungsland zu sehen, dessen Machtstatus mit dem Italiens oder Spaniens, allenfalls Deutschlands oder Frankreichs vergleichbar gewesen wäre. Es hätte das nachholen müssen, was die anderen Kolonialmächte zwischen 1919 und den sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts hatten akzeptieren müssen.

Heute sehen wir, daß die Entwicklung anders verlaufen ist. Statt sich zu einem normalen europäischen Land zu entwickeln, ist Rußland auf dem Weg zurück zur Großmachts- Politik. Einer Politik, die Wissenschaftler wie Igor Maximytschew historisch rechtfertigen. Auf dessen Rede komme ich in der letzten Folge noch einmal zurück.



Links zu allen vier Folgen dieser Serie findet man hier. Für Kommentare bitte hier klicken.