10. Oktober 2008

Georgien und der russische Imperialismus (2): "Mit dem Rückzug ist es vorbei". Igor Maximytschew stellt die Frage von Leben und Tod

Der Ausgangspunkt des ersten Teils war eine Bemerkung von Helmut Schmidt zur geographischen Lage Georgiens: Es sei "kein Teil Europas, sondern ein Teil Asiens"; so hatte er es gegenüber Giovanni die Lorenzo gesagt, und so war es letzte Woche im "Zeit- Magazin" zu lesen gewesen. Der Kontext des Interviews zeigte, daß Schmidts Interesse allerdings nicht der Geographie galt, auch nicht der Kulturgeschichte, sondern - wie auch anders - der Außenpolitik.

Seine Überlegungen liefen darauf hinaus, daß wir uns nicht "über die Einflußsphären [von] Großmächte[n] hinwegsetzen" sollten. Und Georgien, so implizierte es Schmidt, gehört nun einmal zur russischen Einflußsphäre. Schon weil es ein asiatisches Land sei, habe es nichts in der Nato zu suchen.

Als ich das las, habe ich mich gefragt, welche Länder wohl zur deutschen Einflußsphäre gehören. Polen? Österreich? Dänemark, Holland und Belgien? Oder vielleicht nur Luxemburg?

Oder meint Schmidt, daß zwar Rußland (Brutto- Inlandprodukt 2007: 1.290 Milliarden Dollar) Anrecht auf eine "Einflußsphäre" hat, aber nicht Deutschland (Brutto- Inlandprodukt 2007: 3.322 Milliarden Dollar)?



Von Einflußsphären sprach man im 19. und im 20. Jahrhundert. Im Zeitalter der Globalisierung ist dieser Begriff ebenso obsolet, wie es der Kolonialismus ist, den das Vereinigte Königreich und Frankreich Mitte des 20. Jahrhunderts aufgaben, Rußland aber erst Anfang der neunziger Jahre.

Die Sowjetunion war der Erbe des zaristischen Kolonialreichs gewesen, das sich in nichts von dem der Briten und Franzosen unterschieden hatte - außer, daß die Kolonialgebiete, geographisch bedingt, nicht in Übersee lagen, sondern um das Mutterland herum. Und daß sie dann später von der Sowjetunion zu "Sowjetrepubliken" erhoben wurden.

Hinzu kam die Beute des Zweiten Weltkriegs - die Satellitenstaaten, die überwiegend nie zu Rußland gehört hatten, die nun aber innerhalb des Warschauer Pakts so etwas wie Vasallen- Völker der Sowjetunion wurden.

Sie konnten sich, ebenso wie ein Teil der russischen Kolonialvölker, in den neunziger Jahren befreien. Und sind seither wie diese verständlicherweise in Sorge, daß ihr alter Kolonialherr sich erneut zu ihrem Herren aufschwingen könnte, daß die vorerst nicht mehr so mächtige Vormacht wieder erstarken und ihre "Einflußsphäre" wieder herstellen könnte.

Dies scheint aber nicht die Sicht Helmut Schmidts zu sein. Er sieht - jedenfalls in diesem Interview - die Dinge aus russischer Perspektive.

Aus einer ähnlichen Perspektive vielleicht, wie sie Igor Maximytschew entworfen hat.



In Berlin gibt es seit 1992 einen Verein namens "Berliner Freunde Rußlands", der im "Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur" residiert und laut Satzung "die humanistischen und völkerverbindenden Traditionen deutsch- russischer und deutsch- sowjetischer Freundschaft weiter[führt]".

In diesem Verein fand am 2. Februar dieses Jahres eine bemerkenswerte Veranstaltung statt. Ein Vortrag, den die Freunde Rußlands gemeinsam mit u.a. der Rosa- Luxemburg- Stiftung veranstalteten, der parteinahen Stiftung vormals der PDS und jetzt von "Die Linke", vergleichbar der Konrad- Adenauer- Stiftung der CDU und der Friedrich- Naumann- Stiftung der FDP.

Daß ein Verein, der sich laut Satzung der Freundschaft mit dem heutigen, also mit einem vom Kommunismus befreiten Rußland widmet, zu einem Vortrag zusammen mit einer kommunistischen Organisation einlädt, ist für sich genommen interessant. Noch bemerkenswerter wird es durch die Person des Vortragenden, laut Ankündigung "Prof. Dr. Igor Maximytschew, Gesandter a.D.".

Gesandter war Maximytschew in Ostberlin, in jener Botschaft, die in der DDR als Statthalterei der UdSSR fungierte. Hier das Wichtigste über ihn:
Prof. Dr., geb. 1932, von 1956 bis 1993 im diplomatischen Dienst der UdSSR bzw. Russlands, u.a. 1987-1992 Gesandter an der Botschaft Unter den Linden in Berlin. Seit 1993 Leiter des Bereichs "Europäische Sicherheit" am Europa- Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau.
Also ein ehemals sowjetischer, jetzt russischer Deutschland- Experte. Wie es nicht selten ist, nach Ende seiner diplomatischen Karriere in eine hochrangige Berater- Position gewechselt.

Während der Tage der Wende erreichte Maximytschew eine gewisse Berühmtheit; in der TV-Produktion "Deutschlandspiel" von Hans C. Blumenberg, die im Jahr 2000 die damaligen Ereignisse rekonstruierte, wurde er von Peter Ustinov verkörpert.

In Deutschland geriet er danach ein wenig in Vergessenheit, bis er - mit seiner Erfahrung, seiner hochrangigen Stellung, seinem blendenden Deutsch die ideale Besetzung - am 28. August dieses Jahres bei Maybrit Illner die russische Position zur Invasion Georgiens vertrat.

Und zwar wie! Die "Netzeitung" berichtete am 29. August:
Der sowjetische und russische Gesandte in Ost- Berlin, Igor Maximytschew vertrat bei Maybritt Illner eine harte Position. Russland werde keine Konzessionen mehr an den Westen machen. "Mit dem Rückzug ist es vorbei", sagte Maximytschew bei und fügte hinzu: "Russland steht mit dem Rücken zur Wand. Seit der Zeit Gorbatschows war das Land auf dem Rückzug. Wir gaben alles, was von uns gefordert wurde in der Hoffnung, dass das belohnt wird, dass wir als Partner betrachtet werden." Am Ende habe aber gestanden, "dass Russland aussätzig ist und dass alles, was da geschieht, verdammungswürdig ist", sagte der frühere Diplomat, der heute am Europa-Institut in Moskau tätig ist.
Im Anschluß an die Sendung stand Maximytschew für Fragen im Internet zur Verfügung. Seine Antworten sollte man aufmerksam lesen; zum Beispiel diese beiden:
Frage: Was meinen Sie zu den Befürchtungen, die Estland nun hegt, dass es dort zu einer gleichen Situation, wie in Georgien kommen könnte, angesichts der russischen Minderheiten und den anhaltenden Spannungen zwischen Russland und Estland?

Maximytschew: Solange uns Estland nicht angreift, fürchte ich keine größere Auseinandersetzung.

(...)

Frage: Herr Maximytschew, was meinen Sie mit Genozid im Zusammenhang Georgen / Südossetien, und würde Sie das Vorgehen Russlands in Tschetschenien auch als Genozid bezeichnen?

Maximytschew: Schlagen Sie das im Wörterbuch nach.
So diplomatisch anwortete er, der alte Diplomat Maximytschew. In dem Vortrag, den er am 2. Februar bei den Freunden Rußlands hielt, redete er hingegen Tacheles.

Und machte sichtbar, wie er als Deutschland- Experte, als Sicherheits- Experte des Kreml die strategische Lage Rußlands sieht. Er entwarf ein Bild, in dem Georgien nur ein Mosaikstein ist.

Der Vortrag hieß "Der Vertrag von Brest 1918 und das Problem der europäischen Sicherheit heute". Am Ende zog Maximytschew dieses düstere Fazit:
Der Vertrag von Brest ist leider keine graue Vergangenheit. Sein Gespenst geht in Europa um und nicht nur in Europa. Der Geist von Brest und seine möchte- gern- Vollstrecker sind gefährlich nah an die Machthebel der Welt plaziert. Nicht nur Rußland, sondern auch die ganze übrige Welt muß sich diese Realität vor Augen halten, denn diese Situation stellt an uns alle die Frage von Leben oder Tod.
Die Frage von Leben oder Tod. So sieht Maximytschew die Situation Rußlands. Und viel spricht dafür, daß Wladimir Putin sie genauso sieht und daß sein Vorgehen in Georgien dieser Sicht entstammt.



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