6. Oktober 2008

Zitat des Tages: "Gemeinsam das 'Kapital' lesen". Erlebt der Marxismus jetzt eine Renaissance?

... sind Linke aus ganz Deutschland vom 1. bis zum 5. Oktober nach Hörste bei Bielefeld gekommen, um unter dem Motto "Marx neu entdecken" gemeinsam mit Wissenschaftlern über die Analyse und Kritik des Kapitalismus zu diskutieren. Sie bereiten die Kapital- Lesebewegung des Studierendenverbandes Die Linke.SDS vor. An 30 Hochschulen werden sich ab Oktober Studierende treffen, um gemeinsam "Das Kapital" zu lesen. (...) Eine derartige Kapital- Lesebewegung gab es seit Jahrzehnten nicht mehr.

Die kommunistische "Junge Welt" in ihrer heutigen Ausgabe.

Kommentar: Seit Jahrzehnten nicht mehr? Vermutlich seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. 1989 schien es vorbei zu sein mit dem Marxismus. Jetzt steht ihm möglicherweise eine Renaissance bevor.

Bestätigt nicht die gegenwärtige Finanzkrise Marx? Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Das Kreditwesen als Mitverursacher von Krisen:

"Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise" - dieser Satz aus dem Dritten Band des "Kapital" mag dem Marxisten in diesen Tagen als hellsichtige Prophezeiung erscheinen.

Nur ist der erste Teil des Satzes ja eine Binsenweisheit. Und das im zweiten Teil Behauptete, die prognostizierte "Auflösung der alten Produktionsweise", ist heute so wenig in Sicht, wie das zur Zeit von Marx der Fall war.

Der Kapitalismus erzeugt Krisen, das ist wahr. Der Sozialismus ist eine einzige Krise.

Fehlentwicklungen führen im Kapitalismus zu Krisen, die manchmal einen sanften, manchmal, wie jetzt, einen eruptiven Charakter haben. Ihre Folge sind Korrekturen, Anpassungen, Differenzierungen, wie das griechische "Krisis" (Unterscheidung, Entscheidung, Trennung, Wende) das ja auch ausdrückt.

In einem Wirtschaftssystem, das weitgehend ohne Rückmeldungen funktioniert, wie dem des real existierenden Sozialismus, können solche offenen Krisen lange ausbleiben. Die Fehlentwicklungen laufen unkorrigiert weiter, bis sie gar nicht mehr korrigierbar sind und das ganze System kollabiert oder, wie man es 1989/90 gern nannte, "implodiert".

Daß ein planwirtschaftliches System weniger anfällig für Fehlentwicklungen wäre als das kapitalistische, ist eine Mär. Aber Sagen sind ja langlebig.

Jetzt lesen sie also wieder ihren Marx, die linken Studenten. Und manche werden sich wieder, wie einst vor vierzig Jahren, vom Blitzen und Donnern seiner Sprache verführen lassen.



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