11. November 2008

Die vier hessischen SPD-Dissidenten bei Reinhold Beckmann. Wie glaubwürdig sind sie? Über Gewissensentscheidungen

Nach der Pressekonferenz, die die vier hessischen SPD- Dissidenten gestern vor einer Woche im Wiesbadener Dorint- Hotel hielten, haben sich viele gefragt, was sie zu ihrem Verhalten motiviert haben mochte.

Warum haben drei von ihnen sich nicht früher erklärt? Warum haben sie sogar bei Probe- Abstimmungen ihre Bereitschaft zu Protokoll gegeben, nach erfolgreichen Verhandlungen mit den Grünen für eine von "Die Linke" tolerierte Ministerpräsidentin Ypsilanti zu stimmen?

Sofort tauchte das Gerücht auf, die drei seien von der Energie- Industrie gekauft worden. Eine der Quellen für diese Gerüchte war die Bundestags- Abgeordnete Helga Lopez, die gerade wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt wurde. Die Vermutung liegt nahe, daß da jemand sein eigenes Verhältnis zu "Silberlingen" (so Lopez) auf andere projiziert hat.

Dieses Gerücht war schlechterdings infam; so, wie Maßnahmen der Führung der SPD- Fraktion wie der Ausschluß der vier aus Fraktionssitzungen und der kolportierte Plan, sie gar im Landtag getrennt von der Fraktion zu setzen, nur als schäbig bezeichnet werden können.



Aber die Frage nach dem Motiv bleibt. Hätte jemand, der aus Gewissensgründen eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten ablehnt, das nicht sofort sagen können und müssen? Hätte nicht spätestens der Schritt von Dagmar Metzger für die drei anderen der Anlaß sein müssen, sich ihr anzuschließen?

Es gibt da einen Erklärungsbedarf; ein Bedürfnis, besser zu verstehen, was in den Dissidenten vorgegangen ist.

In den letzten Tagen sind zwei Artikel erschienen, die sich im Detail, offenbar gestützt auf eingehende Gespräche mit den Dissidenten, mit dieser Frage befassen: Ein Artikel von Matthias Bartsch, Konstantin von Hammerstein und Kerstin Kullmann im gedruckten "Spiegel" dieser Woche ("Spiegel" 46/2008, S. 26 - 30) und ein Bericht von Thorsten Holl in der FAZ.

Gestern Abend dann sind die Vier in der Sendung "Beckmann" aufgetreten und haben sich den wie immer direkten, bohrenden, aber fairen Fragen von Reinhold Beckmann gestellt.

Es beginnt sich ein Bild abzuzeichnen. Nicht für alle vier. Die Motive und das Verhalten von Dagmar Metzger lagen von Anfang an offen zutage. Bei Jürgen Walter andererseits ist auch jetzt noch vieles im Dunklen. Er hat ja den Koalitionsvertrag mitverhandelt und danach nicht etwa kritisiert, daß man überhaupt mit den Kommunisten paktieren wolle, sondern er hat sich über den Zuschnitt des für ihn vorgesehenen Ministeriums beschwert.

Aber die Motivation der beiden Abgeordneten Carmen Everts und Silke Tesch, die Motive nicht nur für ihre Entscheidung, sondern auch für ihr Entscheidungsverhalten, beginnen sich doch abzuzeichnen.



Warum haben die beiden Abgeordneten sich nicht gleich erklärt?

Gewissensentscheidungen sind ihrem Wesen nach keine einfachen Entscheidungen. Das, was wir "Gewissen" nennen, zeigt sich ja überhaupt erst im Konflikt. Ohne Konflikt handelt man eben, wie man es für richtig hält. Erst wenn dem etwas entgegensteht, kommt das Gewissen ins Spiel.

Das kann zu quälenden, langwierigen Konflikten führen. Da drückt man nicht auf den Knopf, und heraus purzelt die Gewissensentscheidung wie das Horoskop aus dem Automaten. Da quält man sich.

Die Offiziere des 20. Juni standen in einem solchen Konflikt, in dem ihr Gewissen von ihnen verlangte, ihren Hitler geleisteten Eid zu brechen. Kommunisten, die am Ende mit ihrer Partei brachen, haben diesen langen Konflikt regelmäßig erlebt. Wolfgang Leonhard hat das zum Beispiel in "Die Revolution entläßt ihre Kinder" geschildert.

Diese Beispiele sind sicher zu hoch gegriffen, um das zu beschreiben, was Silke Tesch und Carmen Everts an Konflikt zu bewältigen hatten. Aber in gewisser Weise war ihre Situation doch vergleichbar: Sie standen vor der Wahl, entweder ihre Überzeugung zu verraten oder ihrer Partei zu schaden.

In einer solchen Situation findet man es häufig, daß die im Konflikt Stehenden vor einer Entscheidung zurückweichen, solange diese nicht zwingend erforderlich ist. Es könnte ja immer noch eine Situation eintreten, die ihnen die im einen wie im anderen Fall bittere Entscheidung erspart. So schilderte es gestern Carmen Everts bei Beckmann:
Meine Hoffnung war, daß wir einen Ausstieg finden aus dieser Linksbeteiligung. Und daß wir - wir haben ja harte Kriterien formuliert, es gab bei der Linkspartei sehr harte Ansagen auf ihrem Parteitag ... und ich hatte schon die Hoffnung am Ende, daß auch in den Koalitionsverhandlungen und zum Abschluß dieses Prozesses man den Ausstieg noch findet.
Reinhold Beckmann hat dem entgegengehalten, daß doch die "Linken" sich "fast kooperativ verhalten" hätten; daß es "auf den letzten Metern doch gar keine Chance mehr" gegeben hätte, daß sich noch etwas ändert. Darauf Everts:
Aber man stellt sich, glaube ich, die Frage "Wie stimmst du ab?" dann erst wirklich ganz am Ende. (...) Es ist eine existenzielle Frage gewesen ... die habe ich mir am Ende sehr, sehr nachdrücklich gestellt.
Ich finde das überzeugend. So überzeugend wie die schnelle Entscheidung der Abgeordneten Metzger, die - aus "altem SPD-Adel" stammend - mit Selbstbewußtsein ihrem inneren Kompaß folgte. Bei Carmen Everts und Silke Tesch war das anders. Es verdient deshalb nicht weniger Respekt.



Respekt verdienen die beiden Abgeordneten auch, weil sie mit ihrer Entscheidung schwere persönliche Konsequenzen auf sich genommen haben; nicht nur die jetzige schmähliche Behandlung durch ihre Partei, sondern auch eine ungewisse wirtschaftliche Zukunft. Dazu der "Spiegel" über die Lage vor der Entscheidung der beiden Abgeordneten:
Everts, Tesch und Walter ist klar, was sie mit ihrem Schritt riskieren. Eine Welle des Hasses wird über sie niedergehen, sie werden Teile ihres sozialen Umfelds abschneiden, vor allem aber werden sie vor dem wirtschaftlichen Nichts stehen. Walter wird wohl als Anwalt wieder Arbeit finden, Everts verfügt über eine gute wirtschaftliche Ausbildung, aber was wird aus Tesch, deren Familie hauptsächlich von ihren Abgeordneten- Diäten lebt?
Silke Tesch hat in dem Gespräch angedeutet, daß ihr Mann schwer erkrankt ist und daß sie selbst (wie auch Carmen Everts) mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat. Auch solche persönlichen Gesichtspunkte spielen bei derartigen Entscheidungen eine Rolle.

Die Ökonomie kennt das Konstrukt des Homo Ökonomicus, der sich in seinen Entscheidungen allein von seinem wirtschaftlichen Vorteil leiten läßt. In der Politik tendieren wir oft dazu, die Akteure ähnlich als lauter kleine Ausgaben eines Homo Politicus zu sehen, dessen Entscheidungen allein vom Machtmotiv bestimmt sind.

In dem Gespräch bei Beckmann klang immer wieder an, daß Andrea Ypsilanti nachgerade blind gewesen sei für die Signale, die von den späteren Dissidenten kamen. Ähnlich hat sie offenbar die Folgen falsch eingeschätzt, als sie Jürgen Walter mit einem Mini- Ministerium abspeisen wollte, in dem er von Ypsilantis Intimus, dem für das Wirtschafts- Ministerium vorgesehenen Hermann Scheer, abhängig gewesen wäre.

Sie hat wohl damit gerechnet, daß ein Homo Politicus auch das schluckt, wenn er nur Minister werden darf. Er wird es als Rückschlag verbuchen und weitermachen.

Sie hat offenbar ebenso damit gerechnet, daß Silke Tesch und Carmen Everts am Ende doch lieber ihr Mandat behalten als dieses opfern und ihre wirtschaftliche Existenz zur Disposition stellen würden, nur um ihrem Gewissen zu folgen.

Bei Silke Tesch hat sie sicherheitshalber noch etwas nachhelfen wollen, indem sie ihr für den Fall von Wohlverhalten das Amt einer Vizepräsidentin des Landtags in Aussicht stellte; mit höheren Diäten und einem Dienstwagen.

Andrea Ypsilanti wollte - so wurde es ihr laut "Spiegel" aus der Fraktion vorgehalten - den ganzen rechten Flügel "abschneiden". Sie wollte "durchregieren", wie es im Gespräch bei Beckmann gesagt wurde.

Sie fühlte sich offenbar stark genug dafür, weil sie vom Egoismus der anderen ausging. Sie setzte darauf, daß am Ende Jürgen Walter seinen Vorteil darin sehen würde, Minister zu werden; daß Silke Tesch den Vorteil ergreifen würde, Vizepräsidentin zu werden; daß Carmen Everts lieber weiter in der SPD Karriere machen würde, als ins Nichts zu fallen.

Und als diese sich nicht wie erwartet verhielten, hatte sie laut "Spiegel" nur eine Erklärung: "Wer hat euch gekauft?"

So denken sie, Leute wie Andrea Ypsilanti.



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