Aus Schaden wird man klug. Horst Köhler war kein erfahrener Politiker gewesen, als er Präsident wurde; und er erwies sich mit seinem Rücktritt aus verletzter Ehre als jemand, der nicht abgebrüht genug war für den Berliner Politikbetrieb. Also wollte die Kanzlerin als seinen Nachfolger einen Mann haben, der das politische Geschäft von der Pike auf gelernt hat. Sie entschied sich für Christian Wulff; er hatte seine Karriere einst als Vorsitzender der Schülerunion des Landes Niedersachsen begonnen.
Politischer konnte man es nicht besetzen, das Amt des Bundespräsidenten. Nun war das wieder ein Flop.
Soll man jetzt schon wieder aus Schaden klug werden und das Pendel erneut kräftig in Bewegung setzen, nur jetzt retour? Also einen Nichtpolitiker zum Präsidenten küren, zum Beispiel den Theologen Wolfgang Huber, zu dessen Ansichten es - so die "Zeit" im April 2009 - gehört, daß durch die Globalisierung das "Dogma der Eigenverantwortung die Solidarität verdrängt" hätte? Unter "maßvoll linke Ansichten" subsumierte das damals der "Zeit"-Autor Christoph Dieckmann.
Zu Hubers theologischen Schwerpunkten gehört die Ethik. Der Bundespräsident Horst Köhler hat ihn bei seiner Verabschiedung aus dem Amt des EKD-Ratsvorsitzenden eine "intellektuelle und moralische Instanz" genannt und von ihm gesagt, er verkörpere die "ganz besonders protestantische Art und Weise, die Verantwortung des gläubigen Christen in dieser Welt und in dieser Gesellschaft zu leben".
Es ist dies nun allerdings die besondere Art und Weise eines linken Protestanten; eines früheren SPD-Mitglieds, dem 1993 angetragen worden war, für seine Partei in den Bundestag zu gehen. Damals entschied er sich stattdessen für das Amt des Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und beendete aus diesem Grund seine Mitgliedschaft in der SPD.
Es ist die Art und Weise eines Linksprotestanten, der beispielsweise einen flächendeckenden Mindestlohn und eine höhere Erbschaftssteuer fordert, der die Vermögensteuer wieder einführen und die Gehälter von Managern begrenzen will.
Diesen Mann der Linken auf den eigenen Schild zu heben, käme für die Koalition aus Christdemokraten und Freien Demokraten einer Selbstaufgabe gleich. Man fragt sich, wie der einstige Bischof Huber überhaupt als deren Kandidat ins Spiel gebracht werden konnte; und von wem. Kannte man denn nicht seine Biographie, nicht seine Ansichten?
Wenn es denn schon jemand sein soll, der bisher kein politisches Amt hatte, wenn man also das Pendel schon derart weit zurückschwingen lassen will, dann ist der logische, der sich aufdrängende Kandidat der Koalition, zumal nach der Absage Voßkuhls, selbstredend Joachim Gauck.
Er ist evangelischer Theologe wie Huber. Wie dieser meldet er sich auch zu gesellschaftlichen, zu politischen Themen zu Wort. Nur mit einer ganz anderen Position, aus einem durchaus anderen Verständnis des Politischen heraus als Huber.
Tritt einem aus Hubers Äußerungen der Geist eines Linksprotestantismus entgegen, der dazu tendiert, den Auftrag Jesu als die Schaffung des Himmels auf Erden zu verstehen, so durchzieht die Stellungnahmen Gaucks der Geist der Freiheit und der Selbstverantwortung. Lesen Sie dazu bitte beispielsweise "Sich aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse erlösen". Zu Joachim Gaucks gestriger Rede in Berlin; ZR vom 23. 6. 2011, sowie Gaucks goldene Worte. Lesen!; ZR vom 17. 10. 2011.
Nichts spricht, was die politischen Gemeinsamkeiten angeht, aus der Sicht von Union und FDP gegen Joachim Gauck. Alles spricht dagegen, daß die beiden bürgerlichen Parteien Wolfgang Huber, einen Mann der Linken, als ihren Kandidaten vorschlagen.
Es wird immer wieder geschrieben, die Union könne sich nicht für Gauck entscheiden, denn dies wäre doch das Eingeständnis speziell der Kanzlerin, mit Wulff einen Mißgriff getan zu haben. Ja, was ist denn da noch einzugestehen? Natürlich war, aus heutiger Sicht, die Entscheidung der Kanzlerin für Wulff ein Fehler. Das ist so offensichtlich, daß es ihr nur positiv angerechnet werden kann, wenn sie das auch zugibt. Aus Schaden wird man klug, siehe oben. Unklug ist es, einen Fehler zu leugnen, der mit Händen zu greifen ist.
Das Präsidium der FDP hat sich, so wurde vor knapp vier Stunden gemeldet, einstimmig für Joachim Gauck ausgesprochen. Auch einzelne FDP-Politiker haben sich bereits hinter eine Kandidatur Gaucks gestellt; darunter die Vorsitzenden der FDP in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Kubicki und Gesundheitsminister Daniel Bahr.
Die FDP-Führung hat damit strategisches Geschick und Mut bewiesen; einen Mut freilich, der auch Züge des Riskanten trägt.
Als ich kürzlich die Ursachen für den Niedergang der FDP in den Umfragen und bei Wahlen analysiert habe, war ein zentraler Punkt, daß es sich nicht um ein strukturelles Problem handelt, sondern um das Ergebnis von Rückkopplungen, die eine Abwärtsspirale bewirkten (Gingrichs Aufstieg, Wulffs Affäre, der Niedergang der FDP - drei Beispiele für rückgekoppelte Prozesse. Was folgt für das Los der FDP? Gutes! (Teil 2); ZR vom 30. 1. 2012).
Solche schnellen, temporären Prozesse sind umkehrbar. Es ist ja nicht so, daß plötzlich diejenigen Menschen aus der deutschen Gesellschaft verschwunden wären, die liberal denken und die bereit sind, eine liberale Partei zu wählen. Sie müssen nur Motive haben, das nicht zur zu erwägen, sondern es auch zu tun.
Dazu muß die FDP, so hatte ich am Ende des Artikels argumentiert, endlich wieder Flagge zeigen; und zwar bei Themen, welche die Menschen beschäftigen.
Mit dem Rücktritt Wulffs ist der FDP ein solches Thema jetzt in den Schoß gefallen. Joachim Gauck hat, wie die aktuelle Umfrage von Emnid zeigt, nach wie vor einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Wenn sie ihn konsequent unterstützt, dann hat die FDP endlich ein Thema, das sie wieder nach vorn bringen, welches ihr das bescheren kann, was in der amerikanischen Politik momentum heißt - Erfolg, der allein dadurch, daß er eintritt, weiteren Erfolg nach sich zieht. Wer da hat, dem wird gegeben; das ist eine Grundregel im Zeitalter der Mediendemokratie.
Jetzt hat die FDP also, wie man im Hessischen sagt, gegackert, und nun muß sie allerdings auch legen. Ein einstimmiger Beschluß des Präsidiums in einer Situation, in der alle anderen Parteien sich noch bedeckt halten - das war mutig. Aber es ist auch mit einem Risiko verbunden.
Genauer gesagt: Es gibt für die FDP jetzt zwei Risiken.
Das eine ist potentiell tödlich: Wenn sie jetzt wieder umfällt. Das Präsidium hat sich festgelegt. Läßt sich die FDP jetzt von der Kanzlerin, oder wem immer, dazu bringen, das, was sie heute beschlossen hat, morgen als ihr Geschwätz von gestern anzusehen, dann bedient sie nicht nur das alte schlimme Image von der Umfallerpartei, von der (so Herbert Wehner 1969) "alten Pendlerpartei". Sondern dann hat sie auch ihre vermutlich auf absehbare Zeit letzte Chance vergeigt, wieder Aufwind zu bekommen.
Das zweite Risiko ist anders geartet. Die FDP muß es eingehen, und es erscheint beherrschbar: Daß der Vorstoß zugunsten von Gauck scheitert. Das kann dann geschehen, wenn Gauck unter den Umständen, wie sie sich in den kommenden Tagen entwickeln werden, nicht mehr als Kandidat zu Verfügung steht. Dann hat die FDP immerhin einen ehrbaren Versuch gemacht und ist damit nicht durchgedrungen. Kein momentum, aber auch kein Rückschlag.
Und was, wenn die FDP standhaft bleibt, wenn Gauck zur Kandidatur bereit ist - wenn aber die Union nicht mitzieht? Dann allerdings wird es spannend; und es wird eine Situation entstehen, die der FDP, wenn sie sich geschickt verhält, erst recht nutzen kann.
Es gibt kein - auch kein ungeschriebenes - Gesetz, daß Koalitionsparteien bei der Wahl des Präsidenten einen gemeinsamen Kandidaten aufstellen müssen. 1959 zum Beispiel kandidierten aus Adenauers Koalitionsregierung heraus Heinrich Lübke für die Union und Max Becker für die FDP. Auch bei Lübkes Wiederwahl 1964 stellte die FDP - jetzt unter Ludwig Erhard weiter in der Koalition mit der Union befindlich - mit Ewald Bucher einen eigenen Kandidaten auf.
Bleibt die FDP - was man nur inständig hoffen kann - bei der heutigen Entscheidung ihres Präsidiums, dann ist die aus meiner Sicht wahrscheinlichste Entwicklung, daß die Union zähneknirschend mitzieht. Denn gegen einen Kandidaten Gauck, getragen von der FDP, der SPD und den Grünen, hätte ein Unionskandidat kaum eine Chance - selbst wenn er von den Kommunisten mitgewählt werden würde, was nicht allzu wahrscheinlich ist.
Käme es aber tatsächlich zu einer solchen Konfrontation - Gauck, gestützt auch von der FDP, gegen einen eigenen Kandidaten der Union -, dann kann das nur gut sein für die FDP. Sie wird es dann in den Augen der Bevölkerung gewesen sein, die durch ihre Standhaftigkeit die Wahl Gaucks ermöglicht hat. Ihr Gewicht in der Regierung würde das erhöhen; es könnte die so dringend benötigte Aufwärtsspirale in Gang setzen.
Und wenn die Kanzlerin einer derart aufmüpfigen FDP den Stuhl vor die Tür setzt? Sie wird es kaum tun; denn wie wollte sie eine Große Koalition mit der SPD rechtfertigen, die ja dann ebenfalls Gauck gewählt hätte?
Und wenn doch - nun, dann ist die FDP eben in der Opposition. Mit der Chance, den Erfolg bei der Wahl des Bundespräsidenten im Rücken, endgültig aus ihrem Tief herauszukommen.
Politischer konnte man es nicht besetzen, das Amt des Bundespräsidenten. Nun war das wieder ein Flop.
Soll man jetzt schon wieder aus Schaden klug werden und das Pendel erneut kräftig in Bewegung setzen, nur jetzt retour? Also einen Nichtpolitiker zum Präsidenten küren, zum Beispiel den Theologen Wolfgang Huber, zu dessen Ansichten es - so die "Zeit" im April 2009 - gehört, daß durch die Globalisierung das "Dogma der Eigenverantwortung die Solidarität verdrängt" hätte? Unter "maßvoll linke Ansichten" subsumierte das damals der "Zeit"-Autor Christoph Dieckmann.
Zu Hubers theologischen Schwerpunkten gehört die Ethik. Der Bundespräsident Horst Köhler hat ihn bei seiner Verabschiedung aus dem Amt des EKD-Ratsvorsitzenden eine "intellektuelle und moralische Instanz" genannt und von ihm gesagt, er verkörpere die "ganz besonders protestantische Art und Weise, die Verantwortung des gläubigen Christen in dieser Welt und in dieser Gesellschaft zu leben".
Es ist dies nun allerdings die besondere Art und Weise eines linken Protestanten; eines früheren SPD-Mitglieds, dem 1993 angetragen worden war, für seine Partei in den Bundestag zu gehen. Damals entschied er sich stattdessen für das Amt des Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und beendete aus diesem Grund seine Mitgliedschaft in der SPD.
Es ist die Art und Weise eines Linksprotestanten, der beispielsweise einen flächendeckenden Mindestlohn und eine höhere Erbschaftssteuer fordert, der die Vermögensteuer wieder einführen und die Gehälter von Managern begrenzen will.
Diesen Mann der Linken auf den eigenen Schild zu heben, käme für die Koalition aus Christdemokraten und Freien Demokraten einer Selbstaufgabe gleich. Man fragt sich, wie der einstige Bischof Huber überhaupt als deren Kandidat ins Spiel gebracht werden konnte; und von wem. Kannte man denn nicht seine Biographie, nicht seine Ansichten?
Wenn es denn schon jemand sein soll, der bisher kein politisches Amt hatte, wenn man also das Pendel schon derart weit zurückschwingen lassen will, dann ist der logische, der sich aufdrängende Kandidat der Koalition, zumal nach der Absage Voßkuhls, selbstredend Joachim Gauck.
Er ist evangelischer Theologe wie Huber. Wie dieser meldet er sich auch zu gesellschaftlichen, zu politischen Themen zu Wort. Nur mit einer ganz anderen Position, aus einem durchaus anderen Verständnis des Politischen heraus als Huber.
Tritt einem aus Hubers Äußerungen der Geist eines Linksprotestantismus entgegen, der dazu tendiert, den Auftrag Jesu als die Schaffung des Himmels auf Erden zu verstehen, so durchzieht die Stellungnahmen Gaucks der Geist der Freiheit und der Selbstverantwortung. Lesen Sie dazu bitte beispielsweise "Sich aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse erlösen". Zu Joachim Gaucks gestriger Rede in Berlin; ZR vom 23. 6. 2011, sowie Gaucks goldene Worte. Lesen!; ZR vom 17. 10. 2011.
Nichts spricht, was die politischen Gemeinsamkeiten angeht, aus der Sicht von Union und FDP gegen Joachim Gauck. Alles spricht dagegen, daß die beiden bürgerlichen Parteien Wolfgang Huber, einen Mann der Linken, als ihren Kandidaten vorschlagen.
Es wird immer wieder geschrieben, die Union könne sich nicht für Gauck entscheiden, denn dies wäre doch das Eingeständnis speziell der Kanzlerin, mit Wulff einen Mißgriff getan zu haben. Ja, was ist denn da noch einzugestehen? Natürlich war, aus heutiger Sicht, die Entscheidung der Kanzlerin für Wulff ein Fehler. Das ist so offensichtlich, daß es ihr nur positiv angerechnet werden kann, wenn sie das auch zugibt. Aus Schaden wird man klug, siehe oben. Unklug ist es, einen Fehler zu leugnen, der mit Händen zu greifen ist.
Das Präsidium der FDP hat sich, so wurde vor knapp vier Stunden gemeldet, einstimmig für Joachim Gauck ausgesprochen. Auch einzelne FDP-Politiker haben sich bereits hinter eine Kandidatur Gaucks gestellt; darunter die Vorsitzenden der FDP in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Kubicki und Gesundheitsminister Daniel Bahr.
Die FDP-Führung hat damit strategisches Geschick und Mut bewiesen; einen Mut freilich, der auch Züge des Riskanten trägt.
Als ich kürzlich die Ursachen für den Niedergang der FDP in den Umfragen und bei Wahlen analysiert habe, war ein zentraler Punkt, daß es sich nicht um ein strukturelles Problem handelt, sondern um das Ergebnis von Rückkopplungen, die eine Abwärtsspirale bewirkten (Gingrichs Aufstieg, Wulffs Affäre, der Niedergang der FDP - drei Beispiele für rückgekoppelte Prozesse. Was folgt für das Los der FDP? Gutes! (Teil 2); ZR vom 30. 1. 2012).
Solche schnellen, temporären Prozesse sind umkehrbar. Es ist ja nicht so, daß plötzlich diejenigen Menschen aus der deutschen Gesellschaft verschwunden wären, die liberal denken und die bereit sind, eine liberale Partei zu wählen. Sie müssen nur Motive haben, das nicht zur zu erwägen, sondern es auch zu tun.
Dazu muß die FDP, so hatte ich am Ende des Artikels argumentiert, endlich wieder Flagge zeigen; und zwar bei Themen, welche die Menschen beschäftigen.
Mit dem Rücktritt Wulffs ist der FDP ein solches Thema jetzt in den Schoß gefallen. Joachim Gauck hat, wie die aktuelle Umfrage von Emnid zeigt, nach wie vor einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Wenn sie ihn konsequent unterstützt, dann hat die FDP endlich ein Thema, das sie wieder nach vorn bringen, welches ihr das bescheren kann, was in der amerikanischen Politik momentum heißt - Erfolg, der allein dadurch, daß er eintritt, weiteren Erfolg nach sich zieht. Wer da hat, dem wird gegeben; das ist eine Grundregel im Zeitalter der Mediendemokratie.
Jetzt hat die FDP also, wie man im Hessischen sagt, gegackert, und nun muß sie allerdings auch legen. Ein einstimmiger Beschluß des Präsidiums in einer Situation, in der alle anderen Parteien sich noch bedeckt halten - das war mutig. Aber es ist auch mit einem Risiko verbunden.
Genauer gesagt: Es gibt für die FDP jetzt zwei Risiken.
Das eine ist potentiell tödlich: Wenn sie jetzt wieder umfällt. Das Präsidium hat sich festgelegt. Läßt sich die FDP jetzt von der Kanzlerin, oder wem immer, dazu bringen, das, was sie heute beschlossen hat, morgen als ihr Geschwätz von gestern anzusehen, dann bedient sie nicht nur das alte schlimme Image von der Umfallerpartei, von der (so Herbert Wehner 1969) "alten Pendlerpartei". Sondern dann hat sie auch ihre vermutlich auf absehbare Zeit letzte Chance vergeigt, wieder Aufwind zu bekommen.
Das zweite Risiko ist anders geartet. Die FDP muß es eingehen, und es erscheint beherrschbar: Daß der Vorstoß zugunsten von Gauck scheitert. Das kann dann geschehen, wenn Gauck unter den Umständen, wie sie sich in den kommenden Tagen entwickeln werden, nicht mehr als Kandidat zu Verfügung steht. Dann hat die FDP immerhin einen ehrbaren Versuch gemacht und ist damit nicht durchgedrungen. Kein momentum, aber auch kein Rückschlag.
Und was, wenn die FDP standhaft bleibt, wenn Gauck zur Kandidatur bereit ist - wenn aber die Union nicht mitzieht? Dann allerdings wird es spannend; und es wird eine Situation entstehen, die der FDP, wenn sie sich geschickt verhält, erst recht nutzen kann.
Es gibt kein - auch kein ungeschriebenes - Gesetz, daß Koalitionsparteien bei der Wahl des Präsidenten einen gemeinsamen Kandidaten aufstellen müssen. 1959 zum Beispiel kandidierten aus Adenauers Koalitionsregierung heraus Heinrich Lübke für die Union und Max Becker für die FDP. Auch bei Lübkes Wiederwahl 1964 stellte die FDP - jetzt unter Ludwig Erhard weiter in der Koalition mit der Union befindlich - mit Ewald Bucher einen eigenen Kandidaten auf.
Bleibt die FDP - was man nur inständig hoffen kann - bei der heutigen Entscheidung ihres Präsidiums, dann ist die aus meiner Sicht wahrscheinlichste Entwicklung, daß die Union zähneknirschend mitzieht. Denn gegen einen Kandidaten Gauck, getragen von der FDP, der SPD und den Grünen, hätte ein Unionskandidat kaum eine Chance - selbst wenn er von den Kommunisten mitgewählt werden würde, was nicht allzu wahrscheinlich ist.
Käme es aber tatsächlich zu einer solchen Konfrontation - Gauck, gestützt auch von der FDP, gegen einen eigenen Kandidaten der Union -, dann kann das nur gut sein für die FDP. Sie wird es dann in den Augen der Bevölkerung gewesen sein, die durch ihre Standhaftigkeit die Wahl Gaucks ermöglicht hat. Ihr Gewicht in der Regierung würde das erhöhen; es könnte die so dringend benötigte Aufwärtsspirale in Gang setzen.
Und wenn die Kanzlerin einer derart aufmüpfigen FDP den Stuhl vor die Tür setzt? Sie wird es kaum tun; denn wie wollte sie eine Große Koalition mit der SPD rechtfertigen, die ja dann ebenfalls Gauck gewählt hätte?
Und wenn doch - nun, dann ist die FDP eben in der Opposition. Mit der Chance, den Erfolg bei der Wahl des Bundespräsidenten im Rücken, endgültig aus ihrem Tief herauszukommen.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Joachim Gauck am 29. 11. 2010 in München. Vom Autor Michael Lucan/pixeldost unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported-Lizenz CC-BY-3.0 freigegeben.