14. Februar 2012

Vahrenholt und Sarrazin. Nachtigall, ick hör dir trapsen. Oder diesmal gerade nicht? Die "Zeit" als das Sturmgeschütz der Orthodoxie

Er wuchs im Ruhrgebiet auf und ist mit der Sturheit eines Westfalen ausgestattet. Oft blickt er grimmig drein, mit seinen hageren Zügen, dem Schnauzbart und seiner Intellektuellenbrille. Er ist ein alter SPD-Genosse und brachte es bis zum Senator einer SPD-geführten Landesregierung. Immer schon ein Selbstdenker und intellektueller Querkopf, hatte er den Mut, ein Buch zu schreiben, in dem er geheiligte Güter deutscher politischer Korrektheit in Frage stellte. Wer ist's?

Mit einem "Wer war's?" oder - wenn es sich um einen Lebenden handelte - einem "Wer ist's?" pflegte früher in der Wochenzeitung "Die Zeit" der Autor mit dem Pseudonym "Tratschke" seine Rätsel zu beenden, bei denen man eine bekannte Person erraten mußte.

Bis vor einer Woche hätten Sie vermutlich sofort gesagt, daß diese Beschreibung nur auf einen Prominenten paßt: Thilo Sarrazin natürlich. Inzwischen aber wissen wir: Sie paßt ebenso auf Fritz Vahrenholt.

Wie verblüffend ähnlich er Thilo Sarrazin sieht, können Sie sich zum Beispiel hier auf seiner WebSite bei REW Innogy anschauen. Sarrazin wuchs in Recklinghausen auf, Vahrenholt nebenan in Gelsenkirchen. Sarrazin war SPD-Finanzsenator in Berlin, Vahrenholt SPD-Senator in Hamburg. Das politisch unkorrekte Buch Sarrazins hieß bekanntlich "Deutschland schafft sich ab"; das Vahrenholts, das er zusammen mit Sebastian Lüning verfaßt hat und das seit einer Woche auf dem Markt ist, trägt den Titel "Die kalte Sonne. Warum die Klimakatastrophe nicht stattfindet".

Welches der beiden Bücher die größere Ketzerei gegen Politische Korrektheit darstellt, ist nicht leicht zu sagen. Sarrazin rührte an die beiden von der Linken über Deutschland verhängten Tabus Demographie und Einwanderung. Vahrenholt und Lüning rütteln an einem Glauben, auf dem ein erheblicher Teil der politischen Entscheidungen in Deutschland basiert: Daß die Welt einer Klimakatastrophe entgegengeht, wenn wir unser Leben nicht radikal ändern und weniger CO2 in die Atmosphäre schicken.



Die spannende Frage ist, ob es mit Vahrenholt und dessen Buch in den kommenden Wochen nun auch so weitergeht wie mit Sarrazin und "Deutschland schafft sich ab" vor eineinhalb Jahren.

Auf den ersten Blick sieht es so aus. Denn die ersten Reaktionen folgten in beiden Fällen mit der Sicherheit eines Pawlow'schen Reflexes: Der Ketzer wurde entlarvt; man versuchte ihn niederzumachen, bevor er - das war offenbar die Erwartung - größeren Schaden anrichten konnte.

Wie sich das bei Thilo Sarrazin abspielte, habe ich damals ausführlich dokumentiert und mit Kommentaren versehen; einige dieser Artikel finden Sie hier verlinkt: Es setzte eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Kampagne gegen den Mißliebigen ein. Er wurde diffamiert und "widerlegt", als sei sein Buch wie ein Unglück über die heile deutsche Gesellschaft hereingebrochen.

Jetzt bei Vahrenholt erwies sich bisher vor allem die einst liberale "Zeit" als die Avantgarde der politischen Korrektheit.

In der Druckausgabe vom Donnerstag publizierte Toralf Staud im Wissenschaftsteil eine "Widerlegung", die wenig an naturwissenschaftlichem Denken erkennen ließ (siehe Ist Vahrenholt "widerlegt"? (Teil 1). Es folgte, nun schon mit beträchtlichem Schaum vor dem Mund ("krude", "Humbug"), eine Polemik desselben Autors in "Zeit-Online" (siehe Ist Vahrenholt "widerlegt"? (Teil 2).

Und richtig heftig wurde es im Ressort "Umwelt" der gedruckten "Zeit", wo gleich drei Autoren ihre Kräfte bündelten, um Vahrenholt in die Ecke zu befördern, in die er nach ihrer Ansicht gehört. Welche Ecke das ist, können Sie den Überschriften der drei Teile entnehmen, in denen der Text auf "Zeit-Online" angeboten wird:
  • "Störenfritz des Klimafriedens"
  • "Vahrenholt geht es weniger um Wissenschaft als um Politik"
  • "Spricht aus Vahrenholt schlicht der RWE-Manager?"
  • Anders als ihr Kollege Staud verzichten die drei Autoren dieses Artikels - Frank Drieschner (Studienfächer Philosophie und Geschichte), Christiane Grefe (Politikwissenschaften, Kommunikations­wissenschaften und Amerikanistik) und Christian Tenbrock (Volkswirtschaft und Sozialwissen­schaften) - gleich ganz darauf, sich inhaltlich mit dem Buch von Vahrenholt und Lüning abzugeben.

    Die offenkundige Absicht ihres Artikels ist es, die beiden Autoren als unglaubwürdig erscheinen zu lassen; ihnen nämlich zu unterstellen, ihnen ginge es gar nicht um das Thema ihres Buchs - die Entwicklung des Weltklimas -, sondern um Politik und Profit. Einige Kernsätze:
  • "Bleibt Vahrenholt ein wissenschaftlicher Esoteriker mit Ausstrahlung auf Seite zwei der Bild-Zeitung – oder wird er womöglich zur Galionsfigur einer neuen ökoreaktionären Bewegung? In Deutschland sind die 'Klimaskeptiker', wie sie selbst sich nennen, bislang nahezu bedeutungslose Rabulisten am rechten Rand der etablierten Politik – dort, wo auch Islamhasser, deutsche Neocons und andere Verächter liberalen 'Gutmenschentums' sich tummeln".

  • "Doch Vahrenholt und Lüning geht es wohl weniger um die Wissenschaft als um die Politik. Schließlich gibt es in Teilen des liberalen und konservativen Lagers nicht nur ein Unbehagen an der Energiewende, sondern auch an der Klimawissenschaft insgesamt".

  • "Unter allen deutschen Energiekonzernen ist Vahrenholts ehemaliger Arbeitgeber RWE der rückständigste. Wenn die Atomkraftwerke wegfallen, muss der Essener Konzern einen Strommix aus teilweise altertümlichen Kohlekraftwerken, ein bisschen Wasserkraft und nicht einmal vier Prozent erneuerbaren Quellen vermarkten. (...) Wäre es da nicht schön, wenn wir die Energiewende gemächlich angehen lassen könnten, wie Vahrenholt glauben machen will?"
  • Mich hat das ein wenig an Brechts "Leben des Galilei" erinnert. Dort gibt es die berühmte Szene, in der Gelehrte der Universität Florenz sich weigern, durch Galileis Fernrohr zu schauen, um sich von der Existenz der Jupitermonde zu überzeugen. Denn aus übergeordneten religiösen und politischen Gründen steht für sie fest, daß es diese nicht geben kann.

    Nein, ich will Vahrenholt gewiß nicht mit Galilei vergleichen. Aber Autoren wie die drei Verfasser dieses "Zeit"-Artikels denken wie die von Brecht dargestellten Gelehrten: Sie betrachten wissenschaftliche Fragen nicht auf der Ebene der betreffenden Wissenschaft, sondern sie fragen sich, welche Interessen denn im Spiel sind; welche politischen und ideologischen Folgen eine wissenschaftliche Meinung haben könnte. Daß es jemandem um die Sache gehen könnte, entzieht sich ihrem Verständnis.

    Die Unterstellungen der drei Autoren sind heftig und, nebenbei, völlig unbewiesen; reine Spekulation. An Impertinenz allerdings werden sie noch übertroffen von einem Artikel, der ausgerechnet in der "Financial Times Deutschland" erschienen ist. Der Autor Carel Mohn ist - es wird Sie nicht mehr wundern - Politologe.

    Auch in seinem Artikel taucht wieder dieses Wort "krude" auf, das mittlerweile offenbar zur Chiffre für Abweichlertum von der Politischen Korrektheit geworden ist ("Krude Thesen gefährden Glaubwürdigkeit von RWE").

    Mohn spart dann auch im Text nicht mit Invektiven ("abseitige Thesen"; "hemmungslose Politisierung von Wissenschaft und Forschung"; "krude Verschwörungs­theorien"). Worauf er hinauswill, steht in der Überschrift des letzten Abschnitts, die eine "Frage nach der Seriosität von RWE" aufwirft. RWE möge doch bitte seine "eigene Reputation vor Windmachern ... schützen". Sich also, so wird man das verstehen dürfen, von Vahrenholts Buch distanzieren.



    Also alles wie gehabt? Sarrazin, zweiter Aufguß? Vielleicht. Nachtigall, ick hör dir trapsen, sagt der Berliner. Aber vielleicht trapst sie auch gar nicht, die Nachtigall. Vielleicht hat sie nur ein wenig getänzelt.

    Denn wie war das damals bei Sarrazin? Das Ergebnis der mit allen Mitteln moderner Medien geführten Kampagne gegen ihn und sein Buch war, daß dieses Buch, das eine Startauflage von 25.000 Exemplaren gehabt hatte, mittlerweile über 1,3 Millionen mal verkauft wurde. Je mehr man Sarrazin niederdebattieren wollte, umso mehr wurde das Interesse an seinen Thesen geweckt. Er fand schließlich sogar so viel Zustimmung bei den Deutschen, daß die SPD es nicht mehr wagte, ihn wie beabsichtigt aus der Partei zu werfen.

    Ob man nicht vielleicht daraus gelernt hat, in den Redaktionen?

    Die "Zeit" und die "Financial Times Deutschland" sind in der vergangenen Woche vorgeprescht. Aber seither ist es nicht weitergegangen wie damals bei Sarrazin.

    Das Thema von Jauch war am Sonntag "Wulff und die Amigos - wenn Politik auf Wirtschaft trifft ...!". Gestern redete man bei Plasberg über "Christian Wulff - eine Zumutung?". Für Maischberger am heutigen Dienstag ist angekündigt: "Gibt es ein Leben nach dem Luxus?".

    Nicht "Gibt es eine Zukunft ohne Klimakatastrophe?".

    Worüber man Anne Will am Mittwoch talken wird, steht noch nicht fest; es soll im Lauf des heutigen Tages mitgeteilt werden. Ich würde mich wundern, wenn es das Thema Vahrenholt wäre.

    Denn auch die üblichen Verdächtigen der gedruckten und digitalen Presse halten sich auffällig zurück; weder "Spiegel-Online" noch die "Süddeutsche Zeitung" oder die "taz" haben bisher mit einer Kampagne gegen Vahrenholt losgelegt.

    Gegen Sarrazin aus allen Rohren zu schießen hat diesem damals nur genutzt. Es scheint, daß die Hüter der Politischen Korrektheit jetzt nicht noch einmal denselben Fehler machen wollen. Die "Zeit", das Sturmgeschütz der Orthodoxie, hat die Vorhut gespielt. Aber manchmal prescht die Vorhut nach vorn, und die Haupt-Streitmacht bleibt einfach stehen.­
    Zettel



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