14. Februar 2012

Anmerkungen zur Sprache (13): In Schweden wird wieder gesiezt. Pragmatik. Über die Fragwürdigkeit einer allgemeinen Duzerei

Ein Mitarbeiter diskutiert mit seinem Vorgesetzten über ein Projekt. Er will ausdrücken, daß ihm eine Idee des Chefs nicht einleuchtet, und sagt: "Heh, das war jetzt aber voll daneben, au weia".

Vermutlich wird es dieser Mitarbeiter in dem Unternehmen nicht weit bringen. Er hätte vielleicht sagen sollen: "Könnte man das nicht auch anders sehen?" oder "Eine andere Möglichkeit wäre ..."; dergleichen.

Unsere Sprache drückt nicht nur Sachverhalte aus, sondern sie spiegelt auch die soziale Situation, in der wir sprechen. In unserer Wortwahl, aber auch in formalen Merkmalen der Sprache passen wir uns - wenn wir klug sind - an diese Situation an und spiegeln sie zugleich damit wider. Mit diesem Aspekt der Sprache befaßt sich ein eigenes Teilgebiet der Linguistik, die Pragmatik (abgeleitet von dem griechischen Wort prattein, handeln).

Kindern sieht man nach, daß sie das noch nicht beherrschen. Sie drücken in ihrem Sprechen das aus, was sie wahrnehmen, was sie fühlen und wollen. Oft auch, was sie wissen wollen; ohne Rücksicht auf den sozialen Kontext. Fritzchen wird ins Konzert mitgenommen, in dem die Sängerin eine Arie vorträgt. Er sieht den Dirigenten mit seinem Stock und fragt laut und besorgt: "Pappi, warum schlägt der Mann die Frau?" - "Psst, leise. Und er schlägt sie nicht, sondern er dirigiert". - Fritzchen, noch lauter und seiner Sache sicher: "Und warum schreit die Frau dann so?".

So etwas fragt man nicht; schon gar nicht im Konzertsaal, wo man hübsch still zu sein hat. Das lernen wir, indem wir heranwachsen. Das ist Teil unserer Akkulturation; des langen und mühevollen Prozesses, in dem wir uns die Normen unserer Kultur aneignen.

Dazu gehört ganz wesentlich, was man wann sagt - und vor allem wie und wie nicht. Der Aufsteiger, der Neureiche wird "in Gesellschaft" oft schnell daran erkannt, daß er etwas in der betreffenden Situation Unpassendes sagt. Thomas Mann hat das im "Zauberberg" mit der Figur der Karoline Stöhr karikiert.

Frau Stöhr hat auch ihre Probleme mit Fremdwörtern; sie nennt einen frechen Menschen "insolvent" statt "impertinent" und spricht von Beethovens "Erotica". Sie macht sich just mit dem unmöglich, was sie einsetzen will, um gesellschaftlich anerkannt zu werden: einer gebildete Sprache.

Denn gebildet spricht, wer viele Fremdwörter benutzt. Das jedenfalls glaubte die von Thomas Mann erdachte (aber einem realen Vorbild nachgezeichnte) Frau Stöhr. Auch heute denken es noch viele; man braucht nur einen Blick ins Feuilleton einer Zeitung oder Zeitschrift für die gebildeten Stände zu werfen, um sich davon zu überzeugen.

Auch lange, geschachtelte Sätze signalisieren Bildung; ebenso das Vermeiden des Dialekts. Im Hessischen wird aus der hochdeutschen "Kirche" die "Kesch". Der Hesse, der Bildung zeigen will, korrigiert das. Er korrigiert es unter Umständen besonders gründlich - und sagt dann "Heute waren wir in der Kirrke". So erzählt man es sich in Frankfurt. Wenn der Volksmund einen, der gebildet erscheinen will, "gebüldet" nennt, dann karikiert er auch damit diese Überkompensation einer lautlichen Besonderheit bestimmter Mundarten.



Die Sprache ermöglicht die Anpassung an die soziale Situation, in der sich die Interaktion zwischen Sprecher und Hörer vollzieht. Sie stellt dafür Mittel zur Verfügung wie Sprachebenen (vom Argot, der Gassensprache, über die Umgangssprache bis zur gehobenen, auch zur gezierten Sprache); Synonyme (man kann dasselbe alltagssprachlich oder mit einem Fremdwort bezeichnen), einfache und komplexe grammatische Formen; auch Höflichkeitsfloskeln. Und viele Sprachen bieten dazu noch die Möglichkeit, die soziale Situation durch die Anredeform zu kennzeichnen, die man für sein Gegenüber benutzt.

Im Deutschen und in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen ist dies die Unterscheidung zwischen einer höflich-distanzierten und einer vertrauten Anrede - "du" und "Sie", "tu" und "vous", "tu" und "Usted", "jij" und "U". Und im Schwedischen sind "du" und "ni" die beiden Anredeformen.

Die Unterscheidung im Französischen, Spanischen und Niederländischen war mir geläufig; daß es aber im Schwedischen "du" und "ni" heißt, habe ich erst vor zwei Wochen erfahren, aus einem Artikel in der FAZ, in dem sich Sebastian Baltzer mit einer aktuellen Entwicklung in Schweden befaßt: Die respektvolle Anredeform, das "Nizen", kommt wieder in Mode.

Ein wenig Googeln hat mich dann darüber informiert, daß diese Entwicklung offenbar schon einige Zeit im Gang ist. Im September 2007 konnte man in dem Blog "Frisch gebloggt - Schweden und der Ostseeraum" lesen:
In Schweden duzt man sich seit Ende der 60er Jahre und das geht rauf bis zum Ministerpräsidenten mit Ausnahme des Königshauses, das in der dritten Person angesprochen werden soll. "Was sagt die Kronprinzessin zu meinem Blog?" ist also eine direkte Anrede...

Viveca Adelswärd grübelt darüber nach, ob das Siezen, das "Ni", in Schweden wieder zurückkehrt.

Sie hat recht mit ihrer Beobachtung, dass vor allem in Dienstleistungsberufen jüngere Leute wieder siezen. Das kommt allerdings gottlob nur selten vor und ich begegne Menschen, die mich auf Schwedisch siezen mit einer konsequenten Anwendung des "du".

Es gibt keinen Weg zurück mehr. Und das ist auch gut so.
Ist es wirklich gut so? Ich kann das überhaupt nicht finden. Meine Abneigung gegen eine allgemeine Duzerei hat schon zweimal einen Artikel in ZR motiviert: Auf einer subjektiven Ebene, als ich über meine biographischen Erfahrungen dazu berichtet habe (Sehr persönliche Anmerkungen zur Duzerei; ZR vom 1. 3. 2007), und dann noch einmal aus gegebenem Anlaß zu der Frage, warum es eigentlich im Internet (beispielsweise in vielen Foren und Kommentarspalten von Blogs) die Konvention gibt, andere ungefragt zu duzen (Über das Duzen im Internet; ZR vom 25. 2. 2008).

Meine Argumente gegen eine allgemeine Duzerei können Sie in diesen beiden Artikeln nachlesen. Jetzt, im Zusammenhang mit der linguistischen Pragmatik und mit der aktuellen Entwicklung in Schweden, möchte ich noch etwas Allgemeines hinzufügen:

Die Sprache schafft nicht Sachverhalte, sondern sie drückt sie aus. Allenfalls kann sie verstärkend wirken. Jemand, den man nicht ausstehen kann, mag noch unsympathischer erscheinen, wenn man ihn mit einem "Wort" belegt. ("Sauluder, dreckerts" ist "das Wort", dessentwegen in den "Buddenbrooks" Tony den Permaneder verläßt). Politiker versuchen mit Sprache Bewertungen zu beeinflussen; beispielsweise, indem man Großwindkraftanlagen als "Windparks" bezeichnet. Dergleichen. Aber auch wenn Benjamin Whorf es behauptet hat - im wesentlichen ist es doch die Wirklichkeit, die unsere Sprache bestimmt; nicht umgekehrt.

So ist es auch mit dem Duzen und Siezen. Innerhalb der Pragmatik haben sie in den einzelnen Sprachen unterschiedliche Funktionen; aber es sind immer Funktionen, die bereits vorhandene soziale Sachverhalte widerspiegeln, nicht diese erst schaffen.

Im Deutschen sind dies zwei einander oft überlagernde Funktionen. Es gibt ein symmetrisches Duzen und Siezen - das Duzen drückt dann eine Nähe aus, die zwischen Menschen, die einander siezen, nicht besteht. Und es gibt ein asymmetrisches Duzen: Die Person A duzt B, aber nicht umgekehrt. Das drückt eine soziale Hierarchie aus.

Das asymmetrische Duzen kommt im Deutschen vor allem im sozialen Umgang zwischen Kindern und Erwachsenen zum Einsatz; gelegentlich auch noch in anderen sozialen Hierarchien - der Fußballtrainer duzt seine Spieler, diese ihn aber nicht; in den "Kommissar"-Krimis der siebziger Jahre duzte der Kommissar Keller seine Untergebenen, die ihn aber siezten.

Das symmetrische "Du" ist teils schlicht Konvention - Studenten duzen einander, die meisten jungen Leute tun es inzwischen. Unter Arbeitern herrscht am Arbeitsplatz meist das "Du"; auch zwischen Prostituierten und ihren Freiern. In Parteien wie der SPD wird generell geduzt, auch in vielen Vereinen.

An Universitäten herrschte lange und herrscht zum Teil noch die seltsame Sitte, daß Angehörige des Akademischen Mittelbaus (also Wissenschaftliche Assistenten, Wissenschaftliche Mitarbeiter, Akademische Räte, Kustoden usw.) einander duzen, die Professoren aber nicht. Mit dem Tag der Habilitation ändert sich das dann also. Ich habe diese Kuriosität in einem der beiden früheren Artikel ein wenig ausgeführt und die Konsequenzen geschildert.

Soziale Nähe/Ferne und soziale Hierarchien sind Grunddimensionen der Beziehung zu anderen Menschen; Dimensionen der Rolle, die man im Umgang mit ihnen einnimmt. Ob man die Möglichkeit nutzt, das auch sprachlich auszudrücken, macht so gut wie keinen Unterschied.

Man kann einander spinnefeind sein, sich aber duzen. Man kann andererseits größtmögliche Intimität erreichen, wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, deren Beziehung auf dem gegenseitigen Versprechen basierte, einander niemals etwas zu verschweigen. Die beiden redeten sich zeitlebens mit "Sie" an.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.