13. Juni 2009

Die Reichen werden immer reicher. Wirklich? Eine Analyse aus den USA

Daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, daß also die "Schere" sich immer weiter öffnet, dürfte für die meisten Deutschen zum Allgemeinwissen gehören. Man liest es doch ständig, man erfährt es aus dem TV. Also muß es doch wohl stimmen.

Ob es stimmt, habe ich im Oktober letzten Jahres am Beispiel der damals akuellen Meldung analysiert, die "Schere zwischen Arm und Reich" hätte sich "in Deutschland seit der Jahrtausendwende im internationalen Vergleich deutlich stärker geöffnet".

Das Ergebnis war ernüchternd. Jetzt ist über eine Analyse zum selben Thema aus den USA zu berichten.

Darauf aufmerksam geworden bin ich durch einen Artikel von Andrew Foy und Brenton Stransky im American Thinker vom vergangenen Dienstag. Sein Anlaß ist der Haushaltsentwurf von Präsident Obama, der freilich nicht den Titel "Haushaltsentwurf" trägt, sondern "A New Era of Responsibility. Renewing America's Promise" (Eine neue Ära der Verantwortlichkeit. Das amerikanische Versprechen erneuern). Darunter tut er's nicht, dieser Präsident der großen Worte; auch wenn es nur um schnöde Budget- Zahlen geht.

Zu den Zahlen, die in diesem Haushaltswerk stehen, gehören auch solche über die Einkommensverteilung und deren Entwicklung. Dazu gibt es im Haushaltsentwurf des Präsidenten diese schöne Grafik:


Zu sehen ist die Entwicklung des Anteils, den das eine Prozent der Einkommensbezieher mit dem höchsten Einkommen an der Summe aller Einkommen in den USA hat. Die Grafik geht ursprünglich auf Thomas Piketty and Emmanuel Saez zurück, die sie 2001 publizierten; danach wurde sie fortgeschrieben.

Man beachte den grünen Pfeil. Er soll es offenbar auch begriffsstutzigen Betrachtern ermöglichen, zu sehen, wohin die Reise geht: nach oben nämlich. Noch 1980 gingen nur 10 Prozent der Summe aller Einkommen an das oberste eine Prozent; jetzt nähert man sich schon den 25 Prozent.

Lassen sich solche eindrucksvolle Zahlen widerlegen? Nein, widerlegen lassen sie sich nicht. Aber näher betrachten kann man sie, um herauszufinden, was sie denn bedeuten.

Das hat ein Autor getan, den Foy und Stransky ausführlich zitieren: Alan Reynolds in einer Publikation des Cato- Instituts, eines konservativen Think Tank ("Has U.S. income inequality really increased?"; Policy Analysis No. 586; 8. Januar 2007). Auf sie stütze ich mich im folgenden.



Wie gelangt man eigentlich zu Zahlen wie denjenigen, die einer solchen Grafik zugrundeliegen? In den USA werden dazu meist die Daten der Finanzämter herangezogen. Das Einkommen, das in die Statistik eingeht, ist also dasjenige, das in den Einkommensteuer- Erklärungen angegeben wird.

Auf den ersten Blick erscheint das fair. Reynolds weist aber darauf hin, daß dieser Meßwert von einer Reihe von potentiell verzerrenden Faktoren abhängt. Stellt man sie in Rechnung, dann wir aus der steil ansteigenden Kurve, die in der Grafik zu sehen ist, eine nahezu flache Kurve.

Reynolds nennt sieben Faktoren, darunter diese:
  • Gewerbetreibende können den Ertrag ihres Unternehmens als Einkommen oder als Gewinn des Unternehmens versteuern. Wird die Einkommensteuer herabgesetzt, dann gibt es eine Verschiebung zugunsten des Einkommens. In dem Zeitraum, den die Grafik umfaßt, wurde in den USA die Einkommensteuer mehrfach massiv gesenkt.

    Noch in den siebziger Jahren lag in den USA der Spitzen- Steuersatz (für Einkommen oberhalb 100.000 Dollar) bei 70 Prozent. Auf Unternehmens- Gewinne waren aber nur maximal 46 Prozent Steuern zu zahlen. Ab Anfang der achtziger Jahre wurde der Spitzensteuersatz für Einkommen mehrfach reduziert; und damit wuchs der Anreiz, den Ertrag eines Unternehmens als Einkommen statt als Gewinn zu versteuern.

    Berücksichtig man diesen Faktor, dann reduziert sich der in der Grafik dargestellte Anstieg bereits auf die Hälfte.

  • Der Anteil des obersten einen Prozents an der Summe aller Einkommen hängt logischerweise auch davon ab, wie groß denn diese Summe ist. Wird sie verkleinert, dann wächst der Anteil, selbst wenn die Einkommen des obersten Prozents in absoluten Beträgen konstant bleiben.

    Diese Summe - sozusagen der Nenner in dem Bruch, der den Anteil ausdrückt - hat sich aber in dem Zeitraum seit 1980 erheblich verändert. Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen konnten einen immer größeren Teil ihrer Einkünfte von der Steuer absetzen, wenn sie diesen zum Beispiel in die Altersversorgung investierten. Ihr zu versteuerndes Einkommen sank also relativ zu demjenigen der Besserverdienenden. Anders herum gesagt: Der Anteil der Besserverdienenden an der Summe aller Einkommen stieg scheinbar an.

  • Ein dritter Faktor ist der Anstieg der Transferleistungen. Im Jahr 1970 machten Löhne und Gehälter 65,8 Prozent der Summe aller Einkommen aus und Transferleistungen nur 8,5 Prozent. Im Jahr 2005 war der Anteil der Löhne und Gehälter auf 55,3 Prozent gesunken und derjenige der Transferleistungen auf 14,5 Prozent angestiegen. Da Transferleistungen - also Sozialhilfe usw. - nicht versteuert werden, gehen sie nicht in die Summe der Einkommen ein. Wiederum ist der Effekt derjenige, daß der Anteil der Besserverdienenden an der Summe aller Einkommen künstlich aufgebläht wird.
  • Dieser und der erstgenannten Faktor - die Verschieben von Unternehmens- Gewinnen hin zu privaten Einkommen - lassen sich quantifizieren. Berücksichtigt man sie beide, dann ist die Kurve schon nahezu flach. Der Anteil des obersten einen Prozents an der Summe aller Einkommen betrug dann 1988 rund 8,9 Prozent und im Jahr 2003 rund 8,8 Prozent.

    Reynolds diskutiert noch weitere Faktoren, die sich aber schlecht quantifizieren lassen, wie zum Beispiel die größere Steuerehrlichkeit, die als Folge von Steuersenkungen eintritt. Sein Fazit ist eindeutig:
    In sum, studies of changes in income distribution based on tax return data provide distorted and misleading comparisons of U.S. income shares because of dramatic changes in tax laws in recent decades.

    Aside from changes in taxpayer reporting due to changes in the tax laws, there is no clear evidence of a significant and sustained increase in the inequality of U.S. incomes, wages, consumption, or wealth since the late 1980s.

    Zusammengefaßt: Untersuchungen zu Änderungen in der Einkommensvereilung, die sich auf Steuerdaten stützen, liefern verzerrte und irreführende Vergleiche der Anteile am Einkommen in den USA, weil es in den vergangenen Jahren drastische Änderungen in den Steuergesetzen gab.

    Außer den Änderungen in den Angaben zum Einkommen, die aus diesen Änderungen in den Steuergesetzen resultieren, gibt es keine eindeutigen Belege für einen signifikanten und anhaltenden Anstieg in der Ungleichheit der Einkommen, der Löhne, des Konsums oder des Wohlstands in den USA seit den achtziger Jahren.
    Um das einzusehen, muß man sich freilich mit den Details befassen. Wie viel einfacher ist es dagegen, einfach die Rohdaten zu nehmen und sie mit einem eindrucksvollen Pfeil zu versehen.

    Es gibt wenige Bereiche, in denen mit Daten soviel Mißbrauch getrieben wird, wie auf diesem Gebiet der tatsächlichen oder angeblichen sozialen Ungerechtigkeit. Ich habe das einmal in einer Serie zur Armut untersucht, aus der für das jetzige Thema vor allem der fünfte Teil einschlägig ist.

    Und hinweisen möchte ich noch auf den Artikel in der FAZ, in dem Peter Sloterdijk heute dieses Thema von einer historischen Warte aus beleuchtet.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Thomas Pauli. Titelvignette: Eigenes Foto. Grafik von der US-Regierung zur Reproduktion freigegeben.