16. Juni 2009

Die Lage im Iran: Einige Szenarien und Aspekte

Die Bilder aus dem Iran, so wie sie über YouTube in die Welt gelangen, gleichen den Bildern von allen riots, von Unruhen auf den Straßen: Prügelnde Polizisten, brennende Autos, Schüsse, von denen man nicht weiß, ob Tränengas verschossen wird oder scharfe Munition. Die wenigen Bilder, die von regulären TV-Teams gefilmt werden konnten, zeigen eher ruhige, sehr große Demonstrationen.

Ebenso unterschiedlich ist die Berichterstattung der Korrespondenten. In den deutschen Medien ist es vor allem Ulrike Putz von "Spiegel- Online", die sich mit ihrem Team auf die Straße gewagt und sich damit den Stöcken der Prügelperser ausgesetzt hat. Andere, wie der ARD- Korrespondent Peter Mezger, berichten aus der stillen Abgeschiedenheit ihres Studios und melden, alles sei doch eigentlich recht friedlich.

Das wenige, was wir sehen, was wir erfahren, ist mit den unterschiedlichsten Szenarien vereinbar. Beispielsweise:
  • Ahmadinedschad hat in fairen Wahlen gewonnen. Er erhielt die Stimmen der Landbevölkerung. Die Bewohner der großen Städte, die in ihrer großen Mehrheit Mussawi gewählt haben, wollen das aber nicht wahrhaben und gehen deshalb jetzt auf die Straße. Der Wächterrat wird die Wahl prüfen und nicht beanstanden. Danach wird alles zur Normalität zurückkehren.

  • Mussawi wurde als Kandidat nur zugelassen, weil man mit einem leichten Sieg Ahmadinedschads rechnete. Als sich am Anfang der Auszählung ein Sieg Mussawis abzeichnete, wurde in großem Stil gefälscht. Der Zorn der Bevölkerung richtet sich gegen diesen Wahlbetrug. Der Wächterrat wird ihn aufdecken und Neuwahlen ansetzen.

  • Es geht gar nicht um diese Wahlen und auch nicht um Mussawi. Gegen die totalitäre Diktatur im Iran hat sich seit langem eine Wut der unterdrückten Bevölkerung angestaut, die sich jetzt aus Anlaß der Wahlfälschung entlädt. Es ist eine revolutionäre Situation entstanden.
  • Soweit ich sehe, kann derzeit niemand beurteilen, welches dieser Szenarien - oder welches andere - der Realität am nächsten kommt. Wie die Situation zu beurteilen ist und wie sie sich entwickeln könnte, hängt von vielen Aspekten ab, von denen ich zwei diskutieren möchte.



    Der erste betrifft die Rolle der USA.

    Im Blog des außenpolitischen Redakteurs und Geheimdienst- Experten des französischen Nouvel Observateur, Vincent Jauvert, findet man einen bemerkenswerten Eintrag. Jauvert hat ihn am Samstag geschrieben und am Sonntag mit einem Vorspann versehen.

    Die Überschrift lautet: "Iran: l'échec de la stratégie d'Obama?" (Iran: Das Scheitern der Strategie Obamas?), und im Text erläutert das Jauvert so:
    Hier, à quelques heures de la fermeture des bureaux de vote en Iran, Barack Obama s'est trop découvert. Sûr comme tout le monde que le fort taux de participation favoriserait l'adversaire d'Ahmadinejad, Mir Hossein Moussavi, il a déclaré:

    "Ce qui a été vrai au Liban peut être vrai en Iran aussi... On voit que les gens cherchent de nouvelles possibilités..."

    Autrement dit, il a cru qu'à l'instar du Hezbollah Ahmadinejad ne remporterait pas le scrutin - pas au premier tour en tous cas.Il a cru que, comme au Liban, sa stratégie allait payer. Que son discours du Caire avait convaincu les électeurs de se détourner des extrémistes antiaméricains.

    Gestern, einige Stunden nach Schließung der Wahllokale im Iran, hat sich Barack Obama zu weit aus dem Fenster gelehnt. Wie jedermann war er sicher, daß die hohe Wahlbeteiligung den Gegner Ahmadinedschads, Mir Hossein Mussawi, begünstigen würde, und er sagte:

    "Was im Libanon wahr wurde, kann auch im Iran wahr werden ... Es zeigt sich, daß die Menschen nach neuen Möglichkeiten suchen ..."

    Mit anderen Worten, er glaubte, daß Ahmadinedschad genauso wie die Hisbollah die Wahlen nicht gewinnen würde - jedenfalls nicht im ersten Wahlgang. Er glaubte, daß wie im Libanon sich seine Strategie auszahlen würde. Daß seine Kairoer Rede die Wähler dazu veranlaßt hätte, sich von den antiamerikanischen Extremisten abzuwenden.

    Damit nun sei Obama gescheitert, schrieb Jauvert am Samstag, als das offizielle Wahlergebnis verkündet worden war.

    Im Vorspann am Sonntag aber nahm er diese Einschätzung wieder zurück: "Les courageuses manifestations d'hier et la répression qui a suivi laissent à penser que la stratégie de Barack Obama, de longue haleine, n'a pas échoué." Die mutigen Demonstrationen und deren Unterdrückung ließen erwarten, daß auf lange Sicht die Strategie Obamas doch nicht gescheitert sei.

    Könnte da etwas daran sein? Ich gehöre zu denen, die die Kairoer Rede heftig kritisiert haben. Mit solchen großen Worten macht man keine Politik. Sie ändern nicht die Interessenlagen; Diplomaten dürften über sie nur lächeln.

    Aber erreicht man mit einem solchen Gedöns nicht vielleicht eben doch die Menschen? Könnte es sein, daß der Mut, mit dem jetzt im Iran so viele auf die Straße gehen, doch auch etwas damit zu tun hat, daß sie sich durch Obamas Rede ermuntert fühlen?



    Der zweite Aspekt betrifft die Person Ahmadinedschad.

    Ebenfalls im Nouvel Observateur berichtete Sara Daniel gestern aus dem Iran, daß Ahmadinedschad weit populärer sei als Mussawi; im Wahlkampf hätten seine Kundgebungen mindest doppelt so viele Menschen angezogen. Er gelte als volksnah, ganz anders als die Mullahs, die sich nur hemmungslos bereicherten.

    Das mag für einen Teil der Bevölkerung stimmen. Die Demonstrationen der vergangenen Tage lassen aber eher vermuten, daß Ahmadinedschad jedenfalls bei einem großen Teil der städtischen Bevölkerung eher verhaßt ist.

    Solche Eiferer, solche Demagogen polarisieren eben. Und bei Ahmadinedschad spricht einiges dafür, daß er nicht nur ein Demagoge ist, wie ihn jedes totalitäre System braucht, sondern auch ein Eiferer, ein Zelot in einem sehr konkreten Sinn: Nämlich ein religiöser Sektierer.

    Sichere Beweise fehlen, aber vieles deutet darauf hin, daß Ahmadinedschad der Sekte der Hojjatieh angehört oder zumindest nahesteht. Im einzelnen hat das Sean Osborne in dem Informationsdienst Northeast Intelligence Network dargelegt.

    Die Hojjatieh wurde von dem Ayatollah Mahmud Halabi in den fünfziger Jahren gegründet. Es ist eine Endzeit- Sekte, deren Glauben ganz auf die Wiederkunft des Mahdi ausgerichtet ist; des 12. Imam, Abul- Kassem Mohammed, der im Jahr 941 verstarb. Die Sekte spielte eine Rolle in der Revolution gegen den Schah, wurde dann jedoch verboten. Ihre Mitglieder sickerten aber in andere Organisationen ein.

    Als ihr Kandidat wurde, schreibt Osborne, Ahmadinedschad 2005 Präsident. Das jetzige Oberhaupt der Sekte ist der Ayatollah Mesbah Yazdi, den Ahmadinedschad als seinen geistigen Führer bezeichnet. Nach Yazdis Auffassung ist es die Mission der iranischen Revolution, den Weg für die Wiederkunft des Mahdi zu bereiten.

    Just dieselben Worte benutzte laut dem exiliranischen Nachrichtendienst Persian Journal Ahmadinedschad in einer Freitagspredigt im November 2005:
    Our revolution's main mission is to pave the way for the reappearance of the 12th Imam, the Mahdi. (...) Today, we should define our economic, cultural and political policies based on the policy of Imam Mahdi's return.

    Die hauptsächliche Mission unserer Revolution ist es, den Weg für die Wiederkunft des 12. Iman, des Mahdi, zu bereiten. (...) Heute sollten wir unsere Politik im Bereich der Wirtschaft, der Kultur und der Politik auf der Grundlage einer Politik der Wiederkunft des Mahdi festlegen.
    Immer wieder kam Ahmadinedschad auf die Wiederkunft des Mahdi zu sprechen; sogar in eine Rede vor der UNO, die damit bei westlichen Diplomaten Befremden auslöste.

    Und wie soll sie nun erfolgen, die Wiederkunft des Mahdi? Laut dem iranischen Kenner der Sekte Azarmehr wird sie dann erfolgen, wenn Tyrannei und Unterdrückung allgemein geworden sind. Ahmadinedschads Tiraden gegen den Westen und vor allem gegen Israel bekämen dann einen theologischen Sinn: Sie, für Ahmadinedschad das Böse schlechthin, wären dann nichts anderes als die Vorboten der Wiederkehr des Mahdi. Und der Kampf gegen sie, nuklear und mit anderen Waffen, die Wegbereitung für diese Wiederkunft.

    Es ist schwer zu beurteilen, welche Rolle diese Endzeit- Theologie, die Ahmadinedschad offenbar umtreibt, für seine Wahrnehmung durch die iranische Öffentlichkeit spielt. Aber wenn er der gebildeten städtischen Bevölkerung so verhaßt ist, wie es die aktuellen Demonstrationen vermuten lassen, dann könnte das auch darin liegen, daß sie in ihm nicht nur einen Dikator sieht, sondern auch einen gefährlichen Eiferer.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Mahmud Ahmadinedschad. Von der Autorin Daniella Zalcman unter Creative Commons Attribution 2.0 Licence freigegeben. Bearbeitet.