20. Juni 2009

Neues aus der Forschung (3): H1N1 - Ursprung und Karriere eines Virus

Als die Schweinegrippe in die Schlagzeilen kam, dauerte es nicht lange, bis der Verdacht geäußert wurde, das Virus H1N1 stamme aus einem Labor, dem es sozusagen entkommen sei. Solche Gerüchte sind vermutlich unvermeidlich, denn in ihnen realisiert sich das Klischee, äußert sich auch die Urangst vor der wildgewordenen Wissenschaft, die uns alle gefährdet. Doktor Mabuse lebt; er ist vermutlich ebenso unsterblich wie Dr. Caligari und der Viktor Frankenstein.

In den Labors ist zwar H1N1 nicht entstanden; aber in Labors weltweit sucht man seit Ausbruch der Seuche herauszufinden, wo es denn eigentlich herkommt.

Und das ist die Geschichte von einer detektivischen Forschungsarbeit. In der aktuellen Ausgabe von Science News (Bd. 175, Nr. 13; 20. Juni 2009, S. 12) schildert Tina Hesman Saey einen Teil dieser Geschichte; einen anderen Teil hat in der Internet-Ausgabe der Zeitschrift Laura Sanders beschrieben.



Wie kann man herausfinden, wie ein Virus entstanden ist? Im Prinzip ist diese Aufgabe vergleichbar der Rekonstruktion der Evolution von Tieren oder Pflanzen.

Das Grundprinzip ist, daß man Ähnlichkeiten ermittelt, aus ihnen auf Verwandschaft schließt und aus dem Grad der Verwandschaft wiederum so etwas wie einen Stammbaum rekonstruiert.

Geschwister sind einander ähnlicher als Vettern; Vettern erstens Grades mehr als Vettern zweiten Grades. Das gilt nicht nur für das Aussehen, also den Phänotypus, sondern auch für den Genotypus. Je enger man verwandt ist, umso mehr genetische Übereinstimmungen gibt es.

Also läßt sich im Umkehrschluß aus genetischen Übereinstimmungen auf die Enge der Verwandtschaft schließen. Man kann das für einzelne Menschen tun, aber auch für ganze Populationen. Die Paläoanthropologie nutzt solche genetischen Analysen, um zum Beispiel die Wanderungswege der Frühmenschen zu rekonstruieren.

Ähnlich geht man bei Viren vor. Man kann nicht nur Verwandtschaften analysieren, sondern man kann sogar in Realzeit zurückrechnen, weil bekannt ist, wie oft es im Schnitt zu Mutationen kommt. Je mehr Mutationen zwischen zwei Varianten eines Virus liegen, umso größer ist also wahrscheinlich der zeitliche Abstand zwischen ihrer jeweiligen Entstehung.



Was hat man nun mit dieser Methodik über den Ursprung und die Karriere des Virus der Schweinegrippe H1N1 herausgefunden?

Am Anfang stand vermutlich die Spanische Grippe von 1918. Drei Gene von H1N1 - darunter das Hemagglutinin- Gen (das H in H1N1) - gehen auf sie zurück.

Diese Gene haben sich relativ unverändet in einem Schweinevirus gehalten. Dort gibt es weniger Mutationen, weil Schweine nur ein kurzes Leben haben. Mutationen an Viren entstehen nämlich vorzugsweise dann, wenn ein Organismus, der bereits immunisiert ist, erneut infiziert wird und das Virus sich dann ändert und dadurch das Immunsystem überwinden kann. Für eine Reinfektion reicht ein Schweineleben selten.

Dieses ursprüngliche Virus also hielt sich seither in Schweinen, ohne bemerkt zu werden. Es hatte nicht jene Merkmale des damaligen Erregers der Spanischen Grippe - und inzwischen des Vogelgrippe- Virus H5N1 -, die deren Überspringen auf den Menschen ermöglichten. Diese könnten eher von einem anderen Virus stammen, das H1N5 ähnlich ist und das vermutlich 1979 von Vögeln auf Schweine übersprang.

H1N1 ist also ein rechter Bastard. Eine Variante, die mit der jetzigen zu mehr als 90 Prozent übereinstimmt, dürfte in Populationen von Schweinen seit 9 bis 17 Jahren existiert haben. Die jetzige Variante scheint entstanden zu sein, als sich eine Variante, die in Nordamerika verbreitet war, mit einer Variante verband, die aus dem eurasischen Raum stammt. Vermutlich geschah das, als lebende Schweine von Amerika nach Europa oder umgekehrt transportiert wurden.



Diese Geschichte vom Ursprung und der Karriere eines Virus illustriert, wie ungeheuer mutationsfähig Viren sind. Sie ändern sich spontan, sie nehmen aber auch Gene von anderen Viren auf.

Diese Mutationsfähigkeit ist für sie ungefähr so lebenswichtig wie für den Hochstapler die Fähigkeit zur Verstellung. Denn ein Virus, das sich nicht ändert, ist bald ein Opfer der Immunabwehr. Nur Änderung sichert ihm einen Vorsprung vor dieser, bis sie aufgeholt und die passenden Antikörper entwickelt hat.

Das nun führt zu einer praktischen Konsequenz: Die Gefahr, die aus der Schweinegrippe kommt, ist keineswegs gebannt. Im Augenblick ist H1N1 nur hochinfektiös - die Gefahr einer Ansteckung ist groß, weil es in unserem Immunsystem an Antikörpern fehlt -, aber es ist nur schwach pathogen (führt in der Regel nicht zu einer schweren Erkrankung oder gar zum Tod). Aber mit jeder Mutation kann die Pathogenität drastisch zunehmen. Und die Immunabwehr ist dann immer noch schwach gegen H1N1.

Am besten wäre es, wenn wir jetzt alle an der gegenwärtigen leichten Form erkranken würden; dann wären wir sehr wahrscheinlich gegen eine mögliche schwere Form der Schweinegrippe geschützt.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt