16. März 2010

Zettels Meckerecke: Der "Spiegel" und die politische Blogosphäre. Über Panter, Tiger und die vielgerühmte Dokumentation des "Spiegel"

Mit Stories über Blogger hat der "Spiegel", wie es scheint, kein Glück.

Im vergangenen September schrieb Merlind Theile einen Artikel über die deutsche politische Blogosphäre. Man hatte den Eindruck, daß sie ihre Informationen einem zufälligen Herumklicken im Internet verdankte, plus einem Interview mit Markus Beckedahl, dessen Blog netzpolitik.org sich mit just dem befaßt, was sein Name sagt - Netzpolitik. Also nicht Politik allgemein.

Merlind Theile aber staunte, nachdem sie sich augenscheinlich nur diesen Blog angesehen hatte: "Es scheint, als kreise die Netzgemeinde vor allem um sich selbst". Das ist ungefähr so, als hätte sie ein Heft von "Essen und Trinken" durchgeblättert, um danach zu konstatieren: Es scheint, die Deutschen interessieren sich nur fürs Essen.

Von den politischen Blogs, wie sie zum Beispiel bei Wikio zusammengestellt sind, schien sie sich ansonsten keinen einzigen angesehen zu haben. Denn dann hätte sie manchen sehr respektablen Blog gefunden, der im Niveau keineswegs den Vergleich mit gedruckten Zeitungen und Zeitschriften zu scheuen braucht.

Merlind Theile aber befand: "In ihrem jetzigen Zustand scheinen Politik und Internet in Deutschland schlecht zusammenzupassen"; und im Vorspann des Artikels wird das noch ein wenig aufgebrezelt: "... bislang erreichen die politischen Debatten im Netz oft nicht mal Stammtischniveau". Was man mit mehr Recht nun allerdings von dieser "Spiegel"-Story behaupten könnte.



Nun gut. Schweigen wir über das Niveau dieses Artikels. Er liegt ja schon fast ein halbes Jahr zurück.

Nicht er hat diese Meckerecke motiviert, sondern ein Artikel im aktuellen "Spiegel" (11/2010 vom 15. 3. 2010; S. 38); Überschrift "Tiger-Fütterung in Düsseldorf". Darin geht es um einen eher unappetitlichen Aspekt der Blogosphäre, einen Blog namens "Wir in NRW", der sich darauf spezialisiert hat, im Vorwahlkampf dieses Bundeslands den Inhalt von - so der "Spiegel" - "abgegriffenen", zu deutsch also gestohlenen Emails sowie andere interne Informationen aus der Regierung von NRW zu publizieren.

Daß in einem Bundesland, das Jahrzehnte ein Erbhof der SPD gewesen war, noch genug Genossen im Regierungsapparat sitzen dürften, deren Loyalität weiter ihrer Partei gilt, wäre nicht verwunderlich. Insofern könnte man auch hierüber den Mantel des Schweigens breiten.

Nun hat aber dieser Blog die Chuzpe, sich ausgerechnet bei Kurt Tucholsky zu bedienen. Genauer: Man pflegt unter dessen Pseudonymen wie "Peter Panter" und "Ignaz Wrobel" zu schreiben. Und da bin ich nun wieder bei der heutigen Qualität des "Spiegel". Dessen Artikel nämlich - zu verantworten haben ihn die Düsseldorfer Korrespondenten Georg Bönisch und Andrea Brandt sowie Andreas Wassermann von der Berliner Außenstelle des Ressorts Deutschland II - beginnt so:
Er war ein Meister des Wortes, boshaft, beißend ironisch, präzise. Aber weil der linke Journalist Kurt Tucholsky in der Weimarer Republik auch an seine Sicherheit denken musste, legte er sich jede Menge Pseudonyme zu. Zum Beispiel Kaspar Hauser, Ignaz Wrobel, Peter Panter, Theobald Tiger.
Weil er an seine Sicherheit denken mußte? Offenbar haben die Autoren da zu Tucholsky genauso gründlich recherchiert wie im letzten September Merlind Theile in der Blogosphäre.

Was es mit den berühmten Pseudonymen auf sich hat, das hat nämlich Kurt Tucholsky sehr detailliert, und auch sehr amüsant, selbst offengelegt, und zwar in der Einleitung ("Start") zu "Kritiken und Rezensionen", seinen gesammelten Schriften:
Wir sind fünf Finger an einer Hand.

Der auf dem Titelblatt und:

Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.

Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der ›Weltbühne‹ standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spaß, diese homunculi. (...)

Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? dem Satiriker Ernst? dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert.
An Spaß dachte Tucholsky, an Humor, als er diese Pseudonyme erfand; und auch daran, daß es sich nicht gut macht, wenn unter den Artikeln und Gedichten in der "Weltbühne" immer wieder nur "Kurt Tucholsky" steht. Das mit seiner Sicherheit, an die Tucholsky angeblich "denken mußte", haben die Autoren des "Spiegel" schlicht erfunden.

Wie aber hat Tucholsky sie erfunden, diese Pseudonyme? Auch daran läßt er uns teilhaben:
Woher die Namen stammen –?

Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner ›Fälle‹ Namen der Paradigmata.

Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet.



Ein Redakteur des "Spiegel" muß nicht alles wissen. Es gibt ja für ihn im "Spiegel" einen Doktor Allwissend: das sagenhafte Archiv, im Impressum unter "Dokumentation" ausgewiesen. Die dort wirkenden gegenwärtig gut siebzig Mitarbeiter haben die Aufgabe, einerseits ihre schreibenden Kollegen mit Material zu versorgen, andererseits aber auch deren Manuskripte auf sachliche Richtigkeit zu prüfen. Wie das funktioniert, das hat Claus Lochbihler im Recherchenblog beschrieben:
Was den Aufwand sowie die Zahl und Qualifikation der Dokumentationsjournalisten betrifft, ist der Spiegel in der deutschsprachigen Presse das Non-plus-ultra. (...) Zusammen mit dem Manuskript, das er zu verifizieren hat, erhält der Dokumentar die Rechercheunterlagen und Aufzeichnungen des Redakteurs. Zuerst markiert er sich Zahlen, Fakten und Sachverhalte, die er per Telefon-, Internet- oder Datenbankrecherche, teilweise aber auch bewährt altmodisch per Nachschlagewerk, überprüfen muss. Stellt er Fehler, Unklarheiten oder falsche Zusammenhänge fest, bespricht er diese mit dem Redakteur, der sich dafür zur Verfügung halten muss.
Der "Spiegel" ist traditionell stolz darauf, wie akribisch dort dieses - bei allen Publikationen mit einem Dokumentations-Ressort ähnliche - Verfahren gehandhabt wird. Anläßlich der Verabschiedung des langjährigen Leiters des der Dokumentation Heinz Klatte erschien am 11. Dezember 1972 eine Hausmitteilung, in der Klatte diese Akribie launig beschrieb:
Eines Tages, nach 23 Uhr, die Sache liegt Jahre zurück, hatte die Redaktion des SPIEGEL den Autor des Zitats erfahren wollen: "Vom Nichts, das einmal ein Engel war". Klatte: "Wir sind hier hart gegen uns selbst, und die Redaktion ist hart gegenüber der Dokumentation. Sie erwartet den Namen des Autors, und sie fragt nicht nach den Kosten. Da Carl Heinz Schroth auf Polgar tippte, seine charmante Frau Karin Jacobsen sich energisch aus dem Hintergrund für Kerr einsetzte, Gründgens wiederum für Polgar und der aus dem Bett geklingelte mürrische und doch gleich wieder liebenswürdige Werner Hinz für Kerr, telephonierten wir weiter. Etwa zehn Schauspieler und zwei Kritiker zerbrachen sich mit uns gemeinsam um Mitternacht die Köpfe, suchten in ihren eigenen Bücherschätzen und Privatarchiven und weckten von sich aus andere Kollegen, die wiederum zuerst brummten und dann gleichfalls suchen halfen: Endergebnis: Es blieb fifty, fifty. Ein doch noch im Archiv gefundener fragwürdiger Ausschnitt nannte Polgar. Für ihn entschieden wir uns, untereinander zerstritten, mit uns selbst unzufrieden, erbärmliche Sklaven alles Gedruckten. Leider. Das "Nichts, das einmal ein Engel war', ist von Kerr."
Tja, so war das damals, als nicht nur für die schreibenden Redakteure des "Spiegel", sondern auch für die Dokumentaristen noch altmodische Genauigkeit oberstes Prinzip war.

Damals hätte man in der Dokumentation vermutlich schnell herausgefunden, daß Tucholsky seine Pseudonyme nicht verwendet hat, weil er "an seine Sicherheit denken mußte". Und man hätte auch ermittelt, daß der Schlußgag des Artikels nicht minder fragwürdig ist:
Je näher der Wahltermin rücke, desto mehr "Enthüllungen" werde es geben. Sollte es sich um eine durchschlagende Neuigkeit handeln, stünde noch ein Tucholsky-Pseudonym zur Verfügung - Old Shatterhand.
Daß Tucholsky auch das wahrlich nicht originelle Pseudonym "Old Shatterhand" verwendet hätte, war mir völlig neu. Also habe ich das jetzt eben zu recherchieren versucht. Und bin dabei auf einen Artikel in einem mir bisher unbekannten Blog gestoßen, dem "Sudelblog - das Weblog zu Kurt Tucholsky".

Und siehe, dort stand nicht nur, daß es ungewiß ist, ob Tucholsky jemals als "Old Shatterhand" publiziert hat, sondern der dortige Bloggerkollege hat auch bereits die Schlamperei des "Spiegel" in Bezug auf die verbürgten Pseudonyme ans Licht gebracht. Früher als ich. Ihm gebührt die Priorität.



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