4. März 2010

Zettels Meckerecke: Bohlens Show, Raabs Show. Prolls und Bildungsbürger. Soziologengewäsch, Dummschwätzerei

Wir Menschen unterscheiden uns bekanntlich voneinander; was gut ist, was manchmal aber auch Mühe macht. Wir unterscheiden uns in vielerlei Hinsicht; nach Geschlecht zum Beispiel, nach Erbanlagen, nach unserer nationalen und regionalen Herkunft. Wir sind groß oder klein, lustig oder depressiv, bildungshungrig oder Kulturmuffel. Und wir gehören auch verschiedenen sozialen Milieus an.

Milieus, das ist heute ein gängiger Begriff; Milieus haben ihre jeweils eigene "Kultur". Der Begriff des Milieus ist zu dem älteren Konzept der sozialen Schicht hinzugetreten, hat es teils schon abgelöst. Dieses wiederum verdrängte den noch älteren Begriff der Klasse, der heute nur noch von denen verwendet wird, für die der Höhepunkt der Sozialwissenschaft im Jahr 1867 mit dem Erscheinen von "Das Kapital" erreicht war.

Unterschiede zwischen Menschen sind Gegenstand einer eigenen Disziplin, der Differentiellen Psychologie. Milieubedingte Unterschiede nimmt diese Forschung eher nicht in den Blick. Unterschiede zwischen Menschen haben nach ihren Ergebnissen mehr etwas mit ihren Erbanalagen zu tun, mit der Stellung in der Geschwisterreihe, mit dem Erziehungsverhalten der Eltern und Lehrer; dergleichen.

Manche Soziologen sehen das andere; erst recht tun das Diejenigen, die einmal Soziologie als Nebenfach hatten. Bei ihnen blieb vielleicht von den Vorlesungen und Seminaren nicht viel hängen; eines aber doch: Alles ist irgendwie gesellschaftlich. Die Menschen sind verschieden, weil sie zu verschiedenen Schichten, zu verschiedenen Milieus gehören. So denken sie, die aus dem Studium den Tunnelblick des Soziologen mitgenommen haben.

Und die diesen Blick dann, beispielsweise als Journalisten, auf Dies und Jenes richten. Sagen wir, auf Casting-Shows. Was dann herauskommt, das kann man aus der Feder von Markus Brauck und Thomas Tuma in "Spiegel-Online" lesen.



Gegenwärtig laufen im deutschen TV zwei Casting-Shows.

Die eine ist schon etwas bejahrt, und in ihr spielt Dieter Bohlen eine dominierende Rolle. Er gibt den Star, den Durchblicker, den brutal Ehrlichen, der den sich präsentierenden jungen Hoffnungsvollen rücksichtslos sagt, was er von ihnen und ihrem Talent hält. Eine Jury nickt das in der Regel ab, das abstimmende Publikum ist meist auch ein zustimmendes Publikum, und unter vielen Tränen mal der Freude und mal der Trauer, unter Zittern, Zagen und Jubilieren wird am Ende jemand zum Superstar gekürt.

Folglich heißt die Sendung "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS). Ist dieser gefunden, ist er stracks auch schon vergessen. Jedenfalls meist; es sei denn, daß Bohlen über die Show hinaus seine sponsernde Hand über ihn hält, warum auch immer.

Das kennt man alles; es ist ein Ritual wie einstmals der "Internationale Frühschoppen", und wenn alles vorbei ist, freuen sie viele auf die nächste Staffel. Same procedure as last year, same procedure as every year.

Die zweite Casting-Show ist jüngeren Datums. Sie ist eine Ad-Hoc-Erfindung, geboren aus den Blamagen, die Deutschland in letzter Zeit bei der jährlichen Show erlitten hat, die einst Prix Eurovision de la Chanson hieß und heute Eurovision Song Contest. Das ist an sich nichts Neues; und schon oft, wenn es schlecht lief, hat man mit der Änderung des Auswahlmodus reagiert. Mal entschied eine Jury, mal durften die Zuschauer anrufen, mal versuchte man es mit einem gemischten Modus.

Nun also hatte man die Idee eines Rettungsankers in Gestalt einer Casting Show, realisiert von Stefan Raab. Sie heißt "Unser Star für Oslo" (USFO) und ist, dem Zweck des Unternehmens angemessen, etwas weniger gefühlig, etwas weniger schrill als DSDS. Mag sein, daß sie von manchen Zuschauern bevorzugt wird, denen Bohlen zu fläzig und das Heulen seiner Kandidaten zu nervend ist. Anderen mag gerade dies an DSDS gefallen, und ihnen ist vielleicht USFO einen Stich zu brav.

Das ist es denn auch schon. Aber nun tritt der Soziolog herein. Oder vielmehr: Herein treten Markus Brauck, Diplom-Theologe und der studierte Journalist Thomas Tuma. Nicht eigentlich Soziologen also, aber sie bieten uns Soziologisches. Sie erklären uns, daß wir es nicht einfach mit zwei in ihrem Konzept leicht verschiedenen Casting-Shows zu tun haben, sondern mit nicht weniger als - so der Titel ihres Artikels - einem "Kampf der Kulturen".

Wie bitte? Ist in eine der beiden Shows etwa der Islamismus eingezogen, oder singt man dort jetzt chinesisch? Nein. Wir sind ja im Soziologischen. Und da sind "Kulturen" das, was die einzelnen Milieus unterscheidet. Unsere beiden Autoren wollen uns weismachen, daß Bohlen, der Unterhalter im Dienst von RTL, ein ganz anderes Publikum anspricht als Stefan Raab, der Unterhalter vom Dienst bei Pro 7:
... es geht nicht nur um Musik. Subkutan werden in den beiden Shows Gesellschaftsmodelle inszeniert und verhandelt, die unterschiedlicher kaum sein könnten. (...) Das von Oberjuror Stefan Raab präsentierte Format bildet die Illusion einer polyglott-sorgenfreien Mittelschicht ab. Als Castingshow ist das übrigens so aufregend wie ein Taizé-Gebetskreis.
Ganz anders, so unsere Autoren, ist die Welt von DSDS gestrickt:
"DSDS" ist ein Alptraum. Es zeigt eine böse und erbarmungslose Realität zwischen Plattenbau und Plattenvertrag, Arbeitsamt, "Bravo"-Cover und Bewährungsstrafe, in der Bohlen als Juror, Kumpel, Gott wenigstens mit der Möglichkeit einer Kurzfrist-Apotheose winkt.
"Kurzfrist-Apotheose", darauf muß man erst mal kommen. Aber eigentlich geht es doch weniger ums Göttliche als eben ums Soziologische. Denn - wir ahnen es - die beiden Welten, die da vorgeführt werden, widerspiegeln selbstredend, so meinen Brauck und Tuma, die Welten der Krupps und der Krauses; die da oben und wir da unten:
So wird aus zwei TV-Shows allmählich ein Kampf Bürgertum gegen Prolls, Bildung gegen Breitreifen, Uni gegen Hauptschule, oben gegen unten.
Kurz, ein Klassenkampf. Wer hätte das gedacht, der vor der Glotze sitzt und sich am Sängerkrieg der Kandidaten, an Freud und Leid auf dem Bildschirm delektiert?



Ein paar kleine Probleme bleiben freilich für unsere beiden Soziotheoretiker. Primo, ist der studierte Diplom-Kaufmann Bohlen wirklich der Proll und der gelernte Metzger Raab der rechte Mann für die Bildungsorientierten? Secundo, gucken wirklich die bildungsfernen Schichten DSDS und die "polyglott-sorgenfreie Mittelschicht" USFO?

Hm, hm. So ganz überzeugend klingt das nicht. Aber was nicht paßt, wird passend gemacht.

Bohlen nämlich wurde, so erfahren wir, "als Künstlergenie nie akzeptiert"; also gibt er nun "den Heiligen der Hartz-IV-Geschädigten", und "'DSDS' ist letztlich Bohlens Rache am Establishment". Ja, klar, wie konnten wir das nur übersehen. Bohlen, der Che Guevara des Musikgeschäfts.

Und Raab andererseits? Ganz einfach: Er "war ohnehin nie wirklich jener TV-Proll, als der er sich jahrelang inszeniert hat. Der einstige Jesuitenschüler hat früh das Credo internalisiert: 'Spare, lerne, leiste was, dann haste, kannste, biste was!'" Ein Vorbild für die aufstiegsorientierten Mittelschichten also; nur leider bisher beim falschen Sender, und ohne daß seine Biederkeit so recht erkannt wurde.

Bleibt das Publikum. Die Einschaltquoten von DSDS liegen an guten Tagen um die sieben Millionen. Wirklich alles Prolls? Auch wieder nicht: "Bohlen lockt in absoluten Zahlen weit mehr Akademiker, Top-Verdiener und Entscheider an als Raab", wissen unsere beiden Amateursoziologen zu berichten.

Also? Also ist das Gewäsch von "Bürgertum gegen Prolls", von "Bildung gegen Breitreifen" eine soziologistische Dummschwätzerei.

Die Leute sind verschieden. Sie haben einen unterschiedlichen Geschmack. Die einen mögen es eher deftig und gefühlvoll; die anderen erfreuen sich an der adretten Lena. Das ist "oben" so, und es ist "unten" so.

Die Leute nehmen sich die Freiheit, sich um das Klassendenken von Brauck, Tuma und allen ihren ansoziologisierten Kollegen schlicht nicht zu kümmern. Sie ignorieren es, sofern sie zu den Gebildeten gehören. Sind sie Prolls, dann geht es ihnen einfach am Arsch vorbei.



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