27. März 2010

Freiheit oder Kolonialismus. Das Beispiel Karibik

Der Autor des Artikels, der kürzlich im American Thinker erschien, kennt sich mit seinem Thema aus. Robert Hoffman berichtet seit mehr als 40 Jahren aus der Karibik, zeitweise als für die Ostkaribik zuständiger Korrespondent von Associated Press. Auf der Karibik-Insel St.Croix, die zu den Virgin Islands gehört, war er Herausgeber einer Lokalzeitung.

In dem Artikel schreibt er über die Entkolonialisierung in der Karibik. Beziehungsweise ihre Nicht-Entkolonialisierung. Denn anders als in Asien und Afrika gibt es in der Karibik noch Kolonialismus. Oder besser gesagt: das, was man meist mit dem negativ klingenden Begriff des Kolonialismus belegt.

Die Karibik bietet also eine Vergleichsmöglichkeit, die man sonst nirgends auf der Welt hat: Unter weitgehend identischen historischen und geographischen Bedingungen existieren nebeneinander entkolonialisierte souveräne Staaten sowie Gebiete, die sich nicht vom Mutterland gelöst haben. Wie geht es den Menschen in den einen, wie in den anderen Gebieten? Das ist Hoffmans Thema. Sein Aufsatz trägt den Titel "When Freedom Fails: The Myth of Decolonization" - Wenn Freiheit scheitert. Der Mythos der Entkolonialisierung.



Die Karibik ist, was ihre koloniale Geschichte angeht, in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich.

Zum einen wurden die Ureinwohner, also Indianer, so brutal ausgerottet, daß kaum noch Nachfahren von ihnen übrigblieben. Entkolonialisierung konnte also nicht bedeuten, daß Länder an die eingesessene Bevölkerung zurückgegeben wurden, wie das sonst weltweit zwischen den sechziger und den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschah. Sondern selbständig wurden Bewohner, deren Vorfahren ihrerseits, freiwillig oder gezwungenermaßen, eingewandert waren.

Die Mehrheit stellten und stellen in der Regel die Nachfahren der schwarzen Sklaven. Eine Minderheit, die sich mehr oder minder stark mit der Mehrheit vermischt hat, bilden die Nachfahren der weißen Kolonialherren. In einigen Ländern sind sie noch eine weitgehend geschlossene Oberschicht, vor allem im kommunistischen Cuba (siehe den Artikel über den alltäglichen Rassismus in Cuba; ZR vom 9. 4. 2009).

Diese Kolonialherren nun - und das ist die zweite Besonderheit - haben auf den einzelnen Inseln oft gewechselt. Ein Beispiel ist Hoffmans Insel St. Croix. Sie wurde von Columbus erobert und war zunächst als Santa Cruz spanischer Besitz. Im 17. Jahrhundert besiedelten sie Briten und Holländern; die Niederländer tauften sie Sint-Kruis. Es folgte eine kurze Rückeroberung durch die Spanier, die aber ihrerseits von den Franzosen verdrängt wurden; die Insel hieß nun St. Croix.

Die nächsten Besitzer waren im 18. Jahrhundert die Dänen. Die Insel - nun Sankt Croix - gehörte zu Dänisch-Westindien (auch das gab es einmal!), bis die Dänen sie 1917 für 25 Millionen Dollar in Gold an die USA verkauften. Seither ist sie Teil der unter amerikanischer Verwaltung stehenden Virgin Islands, die den Status eines Unincorporated Territory haben; eines Territoriums der USA, das direkt von Washington aus verwaltet wird, aber nicht Teil der USA selbst ist.

Die Virgin Islands sind also ein Beispiel für jene Inseln der Karibik, die keine staatliche Selbständigkeit erlangt haben. Die anderen ebenfalls nicht selbständig gewordenen Inseln gehören zu Frankreich, zu Großbritannien oder zu Holland.

Die französischen Inseln Martinique und Guadeloupe sind französische Départements mit allen Rechten, wenn es auch für solche Départements d'outre-mer gewisse Sonderregelungen gibt; z.B. zusätzliche Entwicklungsgelder. Die in holländischem Besitz befindlichen Inseln und Inselteile hatten bisher einen quasi-kolonialen Status, sollen, wie Hoffman schreibt, aber im Oktober nach dem Vorbild Frankreichs ebenfalls in das Mutterland integriert werden. Die Inseln in britischem Besitz waren früher Kronkolonien, haben inzwischen aber den weitgehend autonomen Status von British Overseas Territories.



Und wie sieht es nun mit den Lebensbedingungen aus? Cuba muß man aus dem Vergleich herausnehmen, denn Armut und Unterdrückung sind dort eine Folge des Kommunismus und müssen nicht unbedingt etwas mit der staatlichen Souveränität zu tun haben. Haiti erlangte schon vor mehr als zweihundert Jahren die Selbständigkeit und wurde nie ein funktionierender Staat ("Haiti is a state that never was. It had no chance to fail since it never succeeded", schreibt Hoffman - Haiti gab es nie als Staat. Es hatte keine Gelegenheit zu scheitern, weil es nie erfolgreich war).

Über die anderen selbständigen Staaten der Karibik schreibt Hoffman:
From the early 1960s through the early 1980s, colonies like Jamaica, St. Kitts/Nevis, St. Vincent, St. Lucia, and Antigua "won" their independence. This opened the door for corruption, nepotism, cronyism, and manipulation by moneyed interests (...) Lacking a middle class, these new nations greatly expanded their public sectors as the squabbling socialist / labor parties based their primary appeals on improving the lot of the people with free-lunch schemes and even more government jobs. Entrepreneurial capitalism was rejected as unworkable and unseemly and would, moreover, bleed the local political interests of their clout and indispensability.

Von den frühen sechziger bis in die frühen achtziger Jahre "gewannen" Kolonien wie Jamaika, St. Kitts/Nevis, St. Vincent, St. Lucia und Antigua die Selbständigkeit. Diese öffnete Tür und Tor für Korruption, Nepotismus, Filzokratie und Manipulationen durch finanzielle Interessen (...) Da eine Mittelklasse fehlte, bauten diese neuen Nationen den öffentlichen Sektor aus. Die miteinander rangelnden sozialistischen und Labour-Parteien setzten hauptsächlich darauf, das Los der Menschen durch Geschenke und immer mehr Jobs im öffentlichen Dienst zu verbessern. Kapitalistisches freies Unternehmertum wurde als nicht funktionierend und unpassend abgelehnt und hätte im übrigen den örtlichen politischen Interessen ihre Schlagkraft und Unverzichtbarkeit geraubt.
Die Folgen waren absehbar: Die Menschen in den selbständigen Nationen der Karibik leben heute weit schlechter als ihre Nachbarn dort, wo weiter die USA, Frankreich, Holland oder das Vereinigte Königreich die Oberhohheit haben.

Hoffman nennt die Zahlen für das Beispiel Großbritannien: Die ehemaligen britischen Kolonien, die selbständig geworden sind, wiesen im Jahr 2008 ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 14.187 Dollar auf; in Jamaika lag es bei gerade noch 7.400 Dollar. Das durchschnittliche Einkommen in den British Overseas Territories der Karibik betrug dagegen 25.650 Dollar.

Ähnlich sieht es bei den anderen Ländern aus. Hoffman fragt, wie es den Menschen in Haiti wohl heute gehen würde, wenn ihre Revolution gegen die Franzosen vor zwei Jahrhunderten gescheitert wäre. Er läßt die Frage offen, aber man kann vermuten: So gut wie beispielsweise dem noch heute französischen Martinique mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 25.000 Dollar. Das Pro-Kopf-Einkommen in Haiti beträgt 790 Dollar.

Wer das Pech hat, in einem der selbständig gewordenen Staaten zu leben, der kann also nur mit Neid auf seine Nachbarn in den Gebieten blicken, die in der einen oder anderen Rechtsform beim Mutterland geblieben sind.

Kein Wunder, daß aus den selbständigen Staaten nicht nur viele Menschen in die USA und nach England auszuwandern trachten. Auch innerhalb der Karibik findet eine derartige Wanderungsbewegung statt. Die meisten Einwanderer in das US-Territorium Virgin Islands stammen aus Dominica, Antigua, St. Lucia und St. Kitts/Nevis - alles ehemalige Kolonien, welche die staatliche Selbständigkeit erlangten. Es ist eine Abstimmung mit den Füßen zwischen "Kolonialismus" und "Freiheit"; oder vielmehr zwischen Kapitalismus und Sozialismus.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Kaiser Jacques I von Haiti, der als Jean-Jacques Dessalines den Unabhängigkeitskrieg gewonnen hatte und sich 1805 selbst zum Kaiser krönte. Zeitgenössischer Stich. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.