24. März 2010

Kleines Klima-Kaleidoskop (10): Gefährdet Klimawandel die Pflanzenvielfalt?

Jede Universität hat eine Pressestelle. Deren Aufgabe ist es in erster Linie, die Öffentlichkeit über die Universität zu informieren; und zwar, wie das jede Pressestelle tut, so, daß diese in einem guten Licht erscheint. Bei einer Universität informiert die Pressestelle also über die Erfolge in Lehre und Forschung. Vor allem Mitteilungen über die Forschung können dem Image einer Uni nützen; und dies vor allem dann, wenn es sich um ein allseits interessierendes Thema handelt. Sagen wir, um Klimawandel.

Gestern hat die Pressestelle der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eine Pressemitteilung verschickt. deren Überschrift lautet: "Erderwärmung gefährdet Pflanzenvielfalt". Sie bezieht sich auf einen Artikel, der von einem Forscherteam unter der Leitung von Dr. Jan Henning Sommer vom Nees-Institut für Biodiversität der Pflanzen erarbeitet wurde und der jetzt in einer angesehenen britischen Fachzeitschrift erschienen ist, den Proceedings of the Royal Society B - Biological Sciences.

Aus der Pressemitteilung wurde eine dpa-Meldung, und diese findet sich heute überall in den deutschen Medien, bis hin zum "Kreis-Anzeiger" für Zentralhessen.

Steht in dem Artikel das, was die von der Pressestelle der Universität Bonn gewählte Überschrift suggeriert? Besagen die Ergebnisse von Dr. Sommer und Mitautoren, daß die Pflanzenvielfalt unseres Planeten in Gefahr ist?

Sie besagen es nicht. Ich kann das mit Sicherheit schreiben, weil - bei wissenschaftlichen Originalarbeiten eher eine Seltenheit - der betreffende Artikel seit heute frei im Internet zugänglich ist.



Sein Titel lautet "Projected impacts of climate change on regional capacities for global plant species richness" - Projizierte Auswirkungen von Klimawandel auf die regionalen Kapazitäten für die globale Vielfalt von Pflanzenarten.

Ich habe "of climate change" mit "von Klimawandel" übersetzt, nicht mit "des Klimawandels". Denn die Untersuchung - eine sorgfältige, präzise, wissenschaftlich in jeder Hinsicht anspruchsvolle Arbeit - untersucht gar nicht die Folgen eines tatsächlichen, bereits eingetretenen Klimawandels, sondern sie enthält Modellberechnungen für den Fall eines möglichen Klimawandels. Eben Projektionen.

Ich fand es spannend, zu lesen, wie weit inzwischen die - so könnte man es nennen - Demographie der Pflanzen gekommen ist; wissenschaftlich heißt das species distribution, die Verteilung der Arten. Man hat gut begründete Vorstellungen davon, von welchen Faktoren der Pflanzenreichtum in einer Region abhängt. Kritisch sind - so eine Kernannahme - zum einen Temperaturschwankungen, zum anderen der Wasserreichtum. Dieser letztere spielt eher in niedrigen Breiten eine Rolle, während in den hohen Breiten die Temperaturen kritischer sind.

Man kann solche Effekte quantitativ abschätzen und dann in Modellrechnungen untersuchen, wie sich Klimaänderungen auf die Pflanzenvielfalt in den einzelnen Regionen der Erde auswirken würden.

Das haben die Autoren des Artikels getan. Welche Klimaänderungen haben sie in ihr Modell gefüttert? Hypothetische, die sie dem Bericht des IPCC aus dem Jahr 2000 entnahmen:
As reference for possible future climate change, we used the different families of twenty-first century greenhouse gas emission scenarios selected by the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC 2000), which are based on certain assumptions on technological and socio-economic development pathways and policy options (A1FI, A2, B1,B2). For the main comparative analyses, we referred to the two extreme cases A1FI and B1.

Als Bezugsdaten für einen möglichen künftigen Klimawandel verwendeten wir verschiedene Familien von Szenarien für die Emissionen von Gasen im einundzwanzigsten Jahrhundert, die vom Weltklimarat (IPCC 2000) ausgewählt wurden und die auf gewissen Annahmen über die Wege der technologischen und sozio-ökonomischen Entwicklung und die Optionen der Politik basieren (A1FI, A2, B1,B2). Für die hauptsächlichen vergleichenden Analysen bezogen wir uns auf zwei Extremfälle, A1FI und B1.
Es ist interessant, so etwas einmal durchzurechnen. Es ist beeindruckend, wenn ein Forscherteam das auf dem hohen Niveau des Artikels von Sommer und Mitautoren macht. Nur muß man sich klar darüber sein, daß das Glasperlenspiele sind. Simulationen, die nichts über die Realität aussagen, sondern die lediglich Implikationen beinhalten: Einmal angenommen, das Klima würde sich so und so entwickeln - wie sähen dann die wahrscheinlichen Auswirkungen auf die Pflanzenvielfalt aus?

Etwa so, wie wenn ein Student, der gerade sein Studium abgeschlossen hat, überlegt: Angenommen, ich mache diese und jene Karriere, was könnte ich mir dann in zehn, in zwanzig Jahren leisten? Darüber, ob ihm diese Karriere gelingt, besagen solche Gedankenspiele leider nichts. Vielleicht befaßt er sich in einem anderen Gedankenspiel mit dem Szenario, daß er als Taxifahrer endet.

Die Autoren der Modellrechnung sind Biologen, keine Klimaforscher. Sie haben gar keine andere Wahl, als die Modelle zu übernehmen, die ihnen die Klimaforscher zur Verfügung stellen. Hypothetische Szenarien; noch dazu auf dem Stand von vor zehn Jahren. Auf dieser Grundlage entwerfen sie ein Bild möglicher Veränderungen.

Und wie sähen diese aus? Sie bestünden keineswegs in einer Entwicklung, welche die reißerische Schlagzeile "Erderwärmung gefährdet Pflanzenvielfalt" rechtfertigen würde.

Die Modellrechnungen lassen vielmehr erwarten, daß (man ahnt es) die Vielfalt manchmal ab- und manchmal zunehmen würde. Ihr Fazit ziehen die Autoren auf - falls Sie das im Einzelnen nachlesen wollen - Seite 6 ihres Artikels:

Die Artenvielfalt wird nach ihren Berechnungen unter beiden Extremmodellen (wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß je nach Modell) in Regionen wie Tundren, Gebieten mit Mischwäldern, gemäßigten Zonen mit Grasbewuchs zunehmen. Der Hauptgrund ist, daß dort die Winter milder und kürzer werden. In anderen Klimazonen (zum Beispiel im Mittelmeerraum) wird sich wenig ändern. Abnehmen wird die Pflanzenvielfalt - immer im hypothetischen Modell - dort, wo die Wasserverorgung der begrenzende Faktor ist; beispielsweise in Wüstengegenden, aber auch in Sumpfgebieten und tropischen Nadelwäldern.

Das ist alles. Falls sich das Klima nicht wandelt - was ja gut möglich ist -, wird sich auch an der Pflanzenvielfalt nicht viel ändern. Sollte es wärmer werden, dann nimmt die Vielfalt hier zu und dort ab; insgesamt gleicht sich das, grob gesagt, aus.



Ja, aber kann man denn diesen Ergebnissen nun partout keine apokalyptische Dimension abgewinnen? Doch, man kann. Man kann nämlich just diesen Ausgleich - hier mehr Vielfalt, wo bisher wenig war, wie in den Tundren; dort weniger, wo bisher viel war, wie in den Tropen - apokalyptisch deuten. Aus der Pressemitteilung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn:
Eine verstärkte Umverteilung von Pflanzenarten fördert die weltweite Vereinheitlichung der regionalen Zusammensetzung von Arten und benachteiligt einzigartige, an besondere Standortbedingungen angepasste Arten, sagt Sommer. Somit fände auch im Pflanzenreich eine Globalisierung statt.
Eine Globalisierung, Gott behüte!



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Drei Bilder, die sich durch das Schütteln eines Kaleidoskops ergeben. Fotografiert und in die Public Domain gestellt von rnbc.