12. März 2010

"Ein miserabler Roman" -"Ich werde Ihnen ins Gesicht schlagen". Reich-Ranicki vs. Walser, erste Runde. Heute erschien Band 3 von Walsers Tagebüchern

"Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen" schrieb Marcel Reich-Ranicki in einem Verriß von Martin Walsers Roman "Jenseits der Liebe", der unter der Überschrift "Jenseits der Literatur" am 27. März 1976 in der FAZ erschien.

Martin Walser las die Kritik im Zug auf der Fahrt nach Frankfurt, reagierte zornig und begann noch während der Fahrt eine "Rede an Reich-Ranicki" zu entwerfen, die freilich ungehalten blieb. Darin heißt es:
Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde. Mit der flachen Hand übrigens, weil ich Ihretwegen keine Faust mache. Sollte Ihre Brille Schaden leiden, wird meine Haftpflichtversicherung dafür aufkommen. Sie werden, bitte, nicht auch noch die Geschmacklosigkeit haben, diese Ankündigung und ihre gelegentliche Ausführung als Antisemitismus zu bezeichnen.
Beide Zitate entnehme ich einem heutigen Artikel von Volker Weidermann in FAZ.Net; er wird am Sonntag in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" zu lesen sein. Weidermann schrieb ihn zu dem heute erschienen dritten Band von "Leben und Schreiben", den Tagebüchen Walsers aus den Jahren 1974 bis 1978.

Martin Walser hat vor einigen Jahren mit der Publikation seiner - offenbar von vornherein auf eine mögliche Veröffentlichung hin angelegten - Tagebücher begonnen. Ich habe den ersten Band, der die Jahre 1951 bis 1962 umfaßt, eher lustlos gelesen. Zuviel Belangloses. Man hat den Eindruck, daß Walser - und/oder sein Lektor - es dem Leser überläßt, sich selbst die Rosinen aus dem Kuchen zu picken. Also die alte Schwäche Walsers; seine Neigung, des Guten zuviel zu tun.

Der jetzige Band verspricht mehr Spannung. Die siebziger Jahre sind die Jahre, in denen Walser mit "Ein fliehendes Pferd" zum Bestseller-Autor wurde. Davor aber lag eine Zeit, die Weidermann so beschreibt:
... finanziell wird es langsam eng für Walser, der eine sechsköpfige Familie zu ernähren hat, das große Haus in Nußdorf lässt sich weder halten noch zu einem angemessenen Preis verkaufen. Vom Erfolg seines nächsten Buches hängt für ihn ungeheuer viel ab, beinahe, so scheint es ihm: alles. Im Frühjahr 1976 erscheint dieses nächste Buch: "Jenseits der Liebe".
Dieses Buch also wurde von Reich-Ranicki erbarmungslos niedergemacht. Was seinem Erfolg, wie sich dann zeigte, nicht schadete. Aber das konnte Walser nicht wissen, als er die Kritik las und auf sie mit Zorn und Verzweiflung reagierte.

Er hat diese Reaktion auf den Verriß im Tagebuch reflektiert; er hat sie zuletzt in "Tod eines Kritikers" literarisch verarbeitet.



In einem ausgezeichneten, vielschichtigen Buch, das bekanntlich einen "literarischen Skandal" auslöste; einen Skandal, der schon begann, bevor das Buch überhaupt erschienen war. Die FAZ hatte das Manuskript für einen eventuellen Vorabdruck erhalten. Der Mitherausgeber Frank Schirrmacher lehnte diesen in einem Offenen Brief an Walser ab, in dem es hieß:
Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie. (...) Doch es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker, wie es etwa bei Tom Stoppard geschieht. Es geht um den Mord an einem Juden.
Damit war das Thema für eine heftige Kontroverse gesetzt, in deren Verlauf Walser seinen angestammten Verlag, Suhrkamp, verließ, weil er sich von ihm nicht hinreichend verteidigt sah.

Ich habe das Buch mit außerordentlichem Vergnügen gelesen. Es ist ein Kriminalroman; dabei ein Vexierspiel, ein Verwirrspiel. In der Manier des 18. und frühen 19. Jahrhunderts tritt nicht Martin Walser als der Erzähler auf, sondern ein gewisser Michael Landolf, der sich mit dem Fall seines Freundes Hans Lach befaßt, der des Mords an dem Großkritiker Ehrl-König beschuldigt wird und nun inhaftiert ist.

Der Text spielt mit Identitäten und Realitätsebenen. Nichts ist so, wie es zunächst erscheint. Der Mord, mit dem die Handlung beginnt, fand - so stellt sich heraus - gar nicht statt; er wurde von dem "Ermordeten" inszeniert. Und Hans Lach, der in Haft sitzt, ist niemand anders als der Autor "Michael Landolf" selbst. Der Held des Buchs und dessen Autor fallen zusammen; so wie jener Michael Landolf zugleich der Autor Walser ist, und auch wieder nicht.

In dieses Spiel einbezogen sind Elemente eines Schlüsselromans. Natürlich "ist" der Großkritiker Ehrl-König niemand anders als Reich-Ranicki; und natürlich sind auch andere Figuren deutlich der Realität nachgebildet (die Verlegerin Julia Pelz-Pilgrim zum Beispiel der Verlegerin Ulla Berkéwicz).

Walser macht das freilich so deutlich, daß von Verschlüsselung keine Rede sein kann. Es gehört zum Spiel. Es fügt den Ebenen des Romans eine weitere hinzu; eben diejenige der nicht fiktiven, der außerliterarischen Realität. Der Text ist nicht nur selbstreferentiell - am Ende beginnt Hans Lach, der Held des Buchs, just dieses Buch zu schreiben - , sondern er spielt auch mit Realitätsebenen. Nicht nur denen im Text selbst; sondern durch diese Bezüge zu realen Personen wie Reich-Ranicki auch mit Fiktion und Realität.

Das ist meisterhaft gemacht; so meisterhaft, wie es kaum jemand so kann wie Walser. Aber natürlich war das Buch auch seine persönliche Rache an Marcel Reich-Ranicki; die Rache für die Verwundung, die dieser ihm fast drei Jahrzehnte zuvor zugefügt hatte.



Man hätte damit eigentlich quitt sein können. Diese beiden großen Gestalten der deutschen Literatur hätten sich bei ein paar Gläsern Trollinger zusammensetzen und einander gestehen können, daß ihr Verhältnis ja nicht das eines gegenseitigen Hasses, sondern viel eher eine wechselseitige Haßliebe gewesen war.

Aber dann kam diese öffentliche Kontroverse, in deren Mittelpunkt der absurde Vorwurf des Antisemitismus stand. Was ein literarisches Thema war, was das persönliche Thema zwischen zwei Männern war, wurde so zum Gegenstand einer allgemeinen Aufgeregtheit.

Diese hat sich gelegt. Aber abgeschlossen ist das Thema noch nicht. Weidermann:
Natürlich, es sind Tagebuchseiten aus einer bestimmten Lebensperiode, und jeder kann in sein Tagebuch hineinschreiben, was ihm gefällt. Aber Walser hat sich entschlossen, diese Passagen heute zu veröffentlichen. Er will das alles zeigen. Er will zeigen, wie der Hass entstand, der noch 25 Jahre später wie ein Pfropfen aus einer allzu lang verschlossenen Flasche hervorschoss, als Walser 2002 den fatalen Roman "Tod eines Kritikers" veröffentlichte.
Die Tagebücher enthalten einen Traum Walsers, in dem er sich von Reich-Ranicki bedrängt sieht. Aber dann merkt er: "Der, der da hinter mir herrennt, ist gar nicht R.-R., das bin ich. Ich bin ganz bei dem, der hinter mir herrennt. Ich spüre nur noch, was er empfindet."

Wenn Walser jetzt derartige Passagen aus seinen Tagebüchern publiziert, dann ist das, so scheint mir, ein Angebot zur Versöhnung zwischen diesen beiden großen alten Männern. Wieviel Zeit sie dafür noch vor sich haben, ist ungewiß. Martin Walser wird am 24. März dreiundachtzig. Marcel Reich-Ranicki wird am 2. Juni neunzig.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Martin Walser auf einer Lesung in Aachen am 24. April 2008. Vom Autor S1 unter GNU Free Documentation License ab Version 1.2 freigegeben. Geändert.